Auf Abwegen / Leseprobe und Exposé

Exposé

 

Das Leben des Mittfünfzigers Dale Stanford ist eintönig. Er schreibt für die Zeitung seines Freundes Theaterkritiken und verschiedene Reportagen, privat ergibt sich für ihn seit Jahren nichts außer zahlreiche Affären mit Frauen, die ihm nichts bedeuten. Eines Abends sieht er auf einer Theaterbühne eine Frau, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht – die erste, die er wirklich näher kennenlernen will. Er spürt, dass das mit dieser Person eine ganz besondere Verbindung möglich ist und will sie unbedingt treffen. Gerade, als er sich daran macht, den

Kontakt zu der Fremden zu suchen, stellt ihm sein Bruder Robert dessen zukünftige Frau vor: Susannah – eine Fotografin mit eigener Galerie. Mit Schrecken erkennt Dale, dass dies die Frau vom Theater ist und versucht zunächst, seine Gefühle zu verbergen. Als er sich aus lauter Frust in einen selbst gefährdenden Alkoholexzess flüchtet, dadurch seinen Job verliert und im Krankenhaus landet, bietet ihm sein Bruder an, ihn übergangsweise in seinem Haus aufzunehmen, damit er sich als Schriftsteller etablieren kann. Zeitgleich heiraten Robert und Susannah. Dale, der anfangs aufrichtig versucht, diese Hochzeit zu akzeptieren, stellt im Laufe der Zeit fest, dass dies immer schwieriger wird, denn seine Gefühle werden immer stärker. Während der Hochzeitsreise des Paares versucht er sich mit dem Schreiben seines Buches, Aufenthalten in der Natur und dem Treffen vergangener Liebschaften von seinen trüben Gedanken abzulenken. Leider gelingt ihm dies nicht richtig, so dass er trotzdem ständig an seine verlorene Liebe denken muss. Auch, was den Alkoholentzug anbelangt, hat er ein Problem: Nur haarscharf entgeht er nach einem aufwühlenden Telefonat mit seinem Bruder einem Rückfall. Als das Paar von der Reise zurückkehrt, spürt Dale, dass etwas vorgefallen sein muss – zu befangen verhält sich Susannah ihrem Mann gegenüber. In einem gemeinsamen Gespräch während einer Golfpartie vertraut sie ihm schließlich an, dass Robert und sie sich in der Vergangenheit bereits mehrmals nicht unerheblich gestritten haben. Trotzdem hofft sie aber, das Problem gemeinsam mit ihrem Mann in den Griff zu bekommen und schreibt ihm einen persönlichen Brief, den sie auf dem Sekretär im Schlafzimmer liegen lässt. Dale liest diesen Brief heimlich und erfährt dadurch die Ursache ihrer Probleme: Robert fordert von seiner Frau eine baldige Aufgabe der Galerie und Familiengründung, was sie ihm aber (noch) nicht geben kann und will. Dies sorgt für Spannungen in der Beziehung. Da Robert nun auch noch unerwartet einen sehr aufwändigen Rechtsfall zu bearbeiten hat, entwickelt sich Dale nun immer mehr zu Susannahs Vertrauten und Helfer in der Not. Sie unternehmen häufiger etwas zusammen und genießen das Beisammensein. Als Dale seinen alten Bekannten Sky in einer Buchhandlung trifft und von diesem erfährt, dass dieser in seiner Ehe aktiv und ohne fremdes Gewissen fremd geht, beschließt er, Susannah trotz ihrer Heirat mit seinem Bruder endlich für sich zu gewinnen. Eine gute Gelegenheit bietet sich, als dieser nach einem Streit mit seiner Frau ein Versöhnungsessen plant und Dale dessen Anrufe sabotiert, damit Susannah nichts davon erfährt. Die beiden verbringen stattdessen einen vergnügten Abend in einem Jazzclub, bei dem es auch zu einem ersten Körperkontakt kommt. Robert ist am nächsten Tag erbost über Dales Verhalten und beschuldigt ihn, sich bewusst an seine Frau heranmachen zu wollen. Robert aber leugnet dies so glaubhaft, dass Robert sich dafür am Ende zwar entschuldigt, aber dennoch misstrauisch bleibt. Die Situation spitzt sich zu, als Dale für Robert einspringen muss, um Susannah für die Vorbereitung einer sehr wichtigen Vernissage in ihrer Galerie zu helfen. Da Robert beruflich verhindert ist, kann er dies nicht wie versprochen leisten und zieht daher den Groll seiner Frau noch mehr auf sich. Für Dales Pläne hingegen erweist sich die Situation als günstig: So kann er ungehindert noch mehr Zeit mit seiner Angebeteten verbringen. Die beiden bereiten jetzt gemeinsam mit Susannahs Assistentin Isabell die Ausstellung vor und wachsen noch enger zusammen. Schließlich kommt es soweit, dass Susannah an ihren Gefühlen für Robert zweifelt. Am Abend der Vernissage platzt dieser betrunken in Susannahs Eröffnungsrede und stellt sie vor allen Gästen bloß. In der Eingangshalle kommt es dann zu einem finalen Streit, in dem Susannah ihrem Mann damit droht, die Beziehung zu beenden. Sie einigen sich darauf, dies zuhause noch einmal in Ruhe zu besprechen. Robert verlässt die Vernissage in bedrückter Stimmung. Das ist der Augenblick, in dem Dale seine Chance sieht. Er gesteht Susannah seine Gefühle und stellt fest, dass auch er ihr mittlerweile nicht gleichgültig ist und sie unsicher ist, wie sie weiter mit der Situation verfahren soll. In einem unachtsamen Moment geben sich die beiden ihrer Leidenschaft hin. Da kommt Robert noch einmal zurück und

erblickt das Paar. Er verprügelt Dale und stürzt sich in tiefer Verzweiflung in seinen Wagen, um sich das Leben zu nehmen. Erst jetzt erkennen Susannah und Dale ihren Fehler und nehmen die Verfolgung auf. Sie landen auf einer Klippe am Meer, von der sich Dales Bruder stürzen will. Im letzten Moment kann der Selbstmord verhindert werden. Dale erkennt, dass er seinen Bruder über alles liebt und verzichtet deshalb endgültig auf seine große Liebe Susannah. Einander zugewandt verabschieden sie sich voneinander. Dale verlässt die Stadt und Susannah widmet sich nun wieder von ganzem Herzen der verloren geglaubten Ehe und dem Genesungsprozess ihres Mannes.

 

Leseprobe

 

Ich sah sie das erste Mal bei einer Theateraufführung. Langbeinig, schlank, mit gepflegten braunen Haaren bis zu den Schultern, spielte sie die stumme Katrin in „Mutter Courage und ihre Kinder“. Dass man ihre Stimme nicht hörte, störte nicht, denn ihre Augen sprachen Bände: In ihnen lag die Sehnsucht einer jungen Frau nach Liebe, Vollkommenheit und der Schönheit der göttlichen Schöpfung. Gerade deswegen gelang es ihr wohl, die Zuschauer zu verzaubern, einschließlich mich, den vom Leben gelangweilten Theaterkritiker. Obwohl ich schon viele junge Talente gesehen hatte und dies für mich auch nichts Besonderes mehr war, war ich vom ersten Augenblick an von ihrer Aura beeindruckt. Man merkte, dass sie ihre Rolle liebte – die eindringlichen Gesten, zarten Bewegungen und die Leichtfüßigkeit, mit der sie über die Bühne glitt – das alles war stimmig. Ich hatte weiß Gott schon viele gesehen, die eine Rolle spielten. Sie aber war die Rolle. Nur schwer konnte ich mich nun gegen die Faszination wehren, die diese Frau so unerwartet auf mich ausübte. Sie war etwas Besonders, das spürte ich. Neben ihr wirkten die anderen Schauspieler fast wie farblose Kopien. Überrascht stellte ich nach gut einer Stunde fest, dass sich nasser Schweiß auf meiner Hand gebildet hatte, der – so oft ich ihn auch an der Hose abwischte – sofort wieder da war. Was war nur los mit mir? Ich hatte schließlich auch auf andere Schauspieler zu achten, nicht nur auf sie. Ungeachtet dessen schenkte ich ihr aber trotzdem meine volle Aufmerksamkeit. Verfolgte Szenen mit ihr intensiver als andere, erinnerte mich an sie, wenn sie in einer Sequenz nicht mitspielte und fühlte mich auf seltsame Weise von ihrer Gegenwart befangen. Diese Frau sprach auf der Bühne nur wenig und doch sagte sie alles, ja sprach mich an. Mich ganz persönlich. Allein die Möglichkeit, sie vielleicht im wahren Leben kennen lernen zu dürfen – etwa während eines zufälligen Interviews nach der Aufführung – machte mich nervös. Der Block auf meinen Füßen – sonst immer Gegenstand nervöser Kritzeleien – lag still; der Stift verharrte bewegungslos. Notizen waren wichtig für meine berufliche Arbeit, doch in diesem Moment hätten sie unwichtiger nicht sein können. Ich konnte und wollte mich dieser magischen Kraft nicht entziehen, die diese Frau so unerwartet auf mich ausübte. Meine Augen verfolgten sie starr bei jedem Schritt, den sie tat und ein absurdes Gefühl der – konnte es Zuneigung sein? – gaukelte mir vor, alleine in den dunklen Publikumsreihen zu sitzen. Sie zu sehen, wie sie im Scheinwerferlicht spielte. Sie zu beobachten. Ihren Körper. Ihre Leichtigkeit. Als die Aufführung schließlich endete, war mein Block nicht mehr beschrieben als am Anfang. Tosender Applaus riss mich aus meiner Trance. Als sich die Massen rechts und links um mich herum erhoben, tat ich es ihnen gleich und klatschte ebenfalls, bis mir die Handflächen wehtaten. Ich applaudierte, als müsse ich ihr beweisen, dass sie die Beste war. Vielleicht auch, um sie zu belohnen oder aber mich aus dem Publikum hervorzuheben, ich wusste es nicht. Dies tat ich länger als alle anderen. Bis das Licht anging und sie mich ansah – nur einen kurzen aber sehr intensiven Augenblick – nur um dann hinter dem sich senkenden Vorhang zu verschwinden. Zurück blieb ein einigermaßen verwirrter Mann zwischen verlassenen Stuhlreihen eines Theaters.

Als ich an diesem Abend in Gedanken versunken nach Hause schlenderte, war ich nicht in der Lage, zu vergessen. Immer wieder erschien sie vor meinem geistigen Augen: Weiche, granatapfelrote Lippen, die sich nur manchmal zu einem Lächeln verzogen, volle Wimpern, die zarte Rundung ihrer Brüste unter einem billigen, mit Blumen bedruckten Stoffoberteil. Die Grazie ihrer Bewegungen, diese beschwingte Fröhlichkeit in ihrer Mimik. Alles an dieser Frau war wunderbar und ich wusste nicht einmal ihren Namen. Bestimmt klang er rund wie ein vollmundiger Wein, den man bedächtig

an einem lauen Sommerabend trank. Ich musste sie wieder sehen. Doch was sollte ich ihr sagen? Vielleicht war sie verheiratet. Hatte Kinder. Ein geregeltes Leben. Und ich? Wie passte ich dazu? Alleine; vom Leben müde und ungeordnet wie ein lästiger Stapel Altpapier auf einem Schreibtisch. Kopfschüttelnd erklomm ich die Stufen zu meiner Behausung im Dachgeschoss eines baufälligen Hauses. Als ich die Tür aufschloss und meine Wohnung betrat, vernahm ich das vertraute Knarren der Dielen, die bei jedem Schritt aufseufzten. Alles war seit Jahren so gleich und vorhersehbar. Und jetzt – von einem Augenblick zum anderen – plötzlich nicht mehr. Denn ich fühlte etwas. Etwas, was ich bis dahin nicht mehr gekannt hatte. Eine Aufregung; eine Wärme von der ich mich wie von einem längst vergessenen Freund schon seit Jahrzehnten verabschiedet hatte. Die Intensität eines Gedankens, der sich wie ein Stachel in mein Gedächtnis bohrte. Ich konnte es immer noch nicht glauben, schüttelte zweifelnd den Kopf. Nach nur einer Begegnung konnte man doch gar nichts sagen. Ich hatte schließlich nicht einmal mit ihr gesprochen. Das machte keinen Sinn. Trotzdem saß ich in meinem Sessel, lauschte der Stille und sah sie immer wieder vor mir. Und dann hielt ich sie plötzlich in den Armen; roch den Duft ihres Haares, küsste ihre Stirn. Ich wusste, das alles war Illusion und würde niemals eintreten – und doch konnte nicht anders und gab mich nur ein paar Momente dieser Lächerlichkeit hin. Und immer wieder erschien dieser letzte Augenblick: Ihre tiefgründigen Augen. Der Wunsch nach mehr. Der Vorhang. Cut. Und wieder sie. Ihre Augen. Der Vorhang. Cut. Und dann, nachdem ich diesen einen Gedanken unzählige Male gedacht hatte, wurden auch endlich meine Lider schwer und ich legte mich hin, um zu ruhen.

Warme Sonnenstrahlen weckten mich – gepaart mit dem satten Duft frischer Brötchen aus der Bäckerei neben meinem Haus – in einen neuen Tag. Meine italienischen Nachbarn waren – intensiv und lautstark wie jeden Morgen – bereits voll in ihrem Element. Man hörte Geschirr klappern, das Kreischen eines kleinen Jungen, die mahnende Stimme einer Mutter. Dann Schweigen, eine Tür fiel ins Schloss, das Plätschern einer Dusche. Offensichtlich war der Mann in die Arbeit gegangen. Da mein Fenster häufig gekippt war, nahm ich schon seit Jahren lebhaft am Alltag dieser Nachbarsfamilie teil. Unbeeindruckt davon behielt ich an diesem Morgen die Augen geschlossen und wartete. Wartete, dass das Gefühl der Verliebtheit, das mich seit gestern wie ein verrücktes Fieber befallen hatte, verging. Was war geschehen? Nichts. Nichts war geschehen. Nur Fantasie, Wunsch und die verqueren Gedanken eines alten Trottels. Ich öffnete meine Augen. Meine rechte Hand hob sich, zeichnete Konturen in den Raum. Ihre Konturen. Wie lange hatte ich darauf gewartet, so etwas fühlen zu können. War das Liebe? Oder Wahnsinn? Ich kannte sie nicht, war ein Realist, und doch… Nein, ich hatte nur geträumt. Eine Illusion, ein Wunsch, mehr nicht. Eine Weile verging. Dann drehte ich den Kopf, sah den leeren Notizblock auf dem Sessel und wusste es besser. Schwerfällig erhob ich mich aus meinem Bett und wankte – träge wie ein 70-Jähriger – ins Bad. Eiskaltes Wasser prasselte auf meine Haut und holte meine Lebensgeister zurück. Es fühlte sich gut an, das Wasser auf der Haut. Vielleicht wischte es ja die Erinnerung weg. Eine Stunde später fand

ich mich auf den belebten, in der Hitze der Sonne stinkenden Straßen einer großen Stadt wieder. Der Strom der Menge dort trieb meinen Körper voran und während ich das geschehen lies, erhoffte ich mir, vielleicht durch einen glücklichen Zufall, sie unter all den ausdruckslosen Gesichtern zu sehen, doch diese Gnade blieb mir verwehrt. Sie war nur Erinnerung. Vielleicht Sehnsucht, ein bisschen Gefühl – nicht mehr. Vor einem Schaufenster stockte ich. Dort betrachtete ich weniger die Uhren dahinter als vielmehr mein blasses Gesicht. Tiefe Furchen gruben sich in meine Wangen, graues, stoppeliges Haar umrahmte mein Gesicht, doch meine Augen hatten immer noch das alte Feuer, das sie bereits zu Jugendzeiten besessen hatten. Fast musste ich lachen. Ich war noch nicht alt. 53. Kein alter Mann also. Aber konnte sich eine junge Frau wie sie denn überhaupt noch für so einen interessieren? Hatte sie auch nur einen kurzen Moment über mich nachgedacht, nachdem sich unsere Blicke getroffen hatten? Wer war sie? Und wo war sie jetzt? Wieso zur Hölle interessierte mich das überhaupt? Ich lachte auf. Mein Gott, ich war zu alt für solche Schwärmereien! Viel zu alt. Mein Blick streifte die Uhr. Es war bereits Mittag. Um 12.30 Uhr hatte ich mich mit meinem Bruder in einem Restaurant verabredet, weil er mir seine zukünftige Frau vorstellen wollte. Ich hatte jetzt keinen Kopf dafür, aber es war nötig. Robert war mir wichtig und wir beide immer schon vielbeschäftigte Männer. Ich mit meinen ewigen Reportagen, er der Anwalt. Lange Zeit war er alleine gewesen und hatte sich in seine Arbeit gestürzt. Bis er auf seine jetzige Verlobte Susannah traf. Diesmal hatte es ihn wirklich erwischt, das wusste ich. Von Anfang an hatte er mir jede Sekunde dieses allerersten Treffens erzählt, war dann aber erst einmal für längere Zeit aus meinem Leben verschwunden. Vorbei die langen Dienstagabende in unserer verrauchten Stammkneipe, die uns für politische Diskussionen bei einem gemütlichen Glas Bier gerade gut genug gewesen war. So schnell vorbei wie sie gekommen waren. Zunächst fühlte ich mich als Bruder tatsächlich etwas vernachlässigt, dann aber freute ich mich für ihn, denn er hatte sich ja immer schon etwas Festes zur Familiengründung gewünscht. Glücklicherweise war er nicht so ein Typ wie ich, der nicht wusste,

wo er eigentlich hingehörte. Der zahlreiche Affären hatte und die Anzahl der Frauen, die mit ihm die Betten geteilt hatten, gar nicht mehr benennen konnte. Robert war ernsthaft und das war gut so. So gut, dass es schließlich kam, wie es kommen musste. Obwohl erst sechs Monate mit ihr zusammen, hatte er nun schon um ihre Hand geworben und würde sie heiraten. Sie war eben seine Traumfrau: Jung, hübsch, intelligent, selbstbewusst und äußerst gewillt, sich mit ihm eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Ich – der ewige Einzelkämpfer – konnte mit so etwas nichts anfangen. Es war mir einfach nicht bestimmt – so einfach war das. Die chaotische Ehe unserer Eltern hatte mich abgeschreckt, so wie sie Robert bestärkt hatte. Wie oft hatten wir uns als Kinder im Schrank versteckt, als sie sich immer wieder anschrien und mit Türen schlugen. Am Ende war es immer das Gleiche gewesen: Mutter saß heulend in der Küche und Vater betrank sich in der Kneipe. Jetzt gab

es keinen Kontakt mehr. Meine Mutter lebte ihr Leben; mein Vater war tot. Nein, ich konnte keine Beziehung haben. Niemals. Und doch: Ich wollte die Frau aus dem Theater unbedingt wieder sehen. Eine halbe Stunde später schritt ich ehrfurchtsvoll durch die pompöse Eingangshalle des Restaurants, in dem wir uns verabredet hatten. Süßlicher Geruch lag in der Luft. Urheber schien ein etwa 60-jähriger, mittelgroßer Mann mit streng aus dem Gesicht gegeltem Haar zu sein, der mit konzentrierter Miene an einer der Marmorsäulen lehnte und auf jemanden zu warten schien. In seinem Mund steckte eine Pfeife, an der er genüsslich zog. Als sich unsere Blicke begegneten, drehte ich den Kopf in die andere Richtung – ich wollte nicht, dass er dachte, ich würde ihn beobachten. Als ich das Restaurant betrat, wurde ich sofort von einem jungen Ober empfangen. Er wies mir den bereits reservierten Tisch zu und folgte jedem meiner Schritte mit einer kühlen Höflichkeit. Um ihn loszuwerden, bedankte ich mich nickend und bestellte einen Martini. Während ich nun auf Robert und seine Verlobte wartete, spielten meine Hände nervös mit einem Zahnstocher. Ein unangenehmer Stich in den Magen durchfuhr mich, als mir ohne Vorwarnung plötzlich die Theaterkritik, die ich heute noch zu schreiben hatte, in den Sinn kam. Ohne Notizen würde sich das ein klein wenig schwierig gestalten. Wieder einmal war ich also gezwungen, zu improvisieren. Meine Gedanken glitten ab. Wieder hin zu ihr. Und da war sie auch schon. Auf der Bühne. Ihre unnachahmliche Präsenz. Ein sehr viel schönerer Gedanke als der über meine Arbeit. Ich entschied, etwas Konkretes tun zu müssen, um sie kennenzulernen: Gleich nach dem Essen würde ich zum Theater gehen und ihre Adresse herausfinden. Als Journalist dürfte mir das nicht besonders schwer fallen. Ich schüttelte den Kopf. Im Moment erkannte ich mich selbst nicht wieder: Das hatte bis jetzt noch nie für eine Frau getan. Bisher waren sie schließlich immer nur mir hinterher gerannt. Hier aber würde es anders sein, das spürte ich. Von dieser Frau würde nichts kommen. Also war ich gefordert, über meinen Schatten zu springen. Wer wusste es schon – vielleicht lohnte es sich ja. Um die Zeit bis zum Eintreffen des Paares zu vertreiben, hing ich noch ein wenig meinen Gedanken

nach und formulierte Satzfetzen für die spätere Kritik, die nun ad hoc zu schreiben war. Dann endlich tauchte Roberts vertrautes Gesicht am Eingang auf. Wie immer verband er Sportlichkeit mit männlichem Chic: Seine Blue Jeans passten perfekt zum cremefarbenen Pullover auf seinem schlanken und sportlichen Körper. Kurz tauschte er noch ein paar kurze Worte mit einem Mann in Anzug und Krawatte aus, nickte dann freundlich zum Abschied und schlenderte auf mich zu. „Hallo Dale, schön, dass es jetzt endlich mal geklappt hat!“, begrüßte er mich und klopfte sanft auf meine Schulter. Das Strahlen in seinen marineblauen Augen war nicht zu übersehen: Es ging ihm gut; wenn nicht so gar blendend. Fast beneidete ich ihn. Er wusste, worauf es im Leben ankam. Genügend Geld, ein eigenes Haus; ein Hauch von Liebe; gute Freunde. Ich hingegen besaß nur eine billige Wohnung, schmutzige Storys und gelegentliche Liebschaften, die mich tagein, tagaus vom tristen Dasein meines Lebens ablenkten. Aber: Das war nun einmal die Rolle, die das Schicksal, das große Ganze oder was auch immer, mir zugewiesen hatte und die spielte ich gut – verdammt gut sogar. Die Damen jedenfalls hatten sich jedenfalls nie beschwert. Das änderte aber trotzdem gar nichts daran, dass Robert und ich uns gut verstanden. Vielleicht bestärkte es mich sogar in meiner Lebensweise, zu wissen, wie es anders sein konnte. Dieses geordnete Leben, das er führte, empfand ich auch oft genug als langweilig und spießig. Und es war mir höchst zuwider, als langweilig und spießig gelten zu sollen. „Sag mal, hast du Hunger?“, wollte Robert wissen und überflog die Karte des Restaurants. „Ich weiß noch nicht…“, antwortete ich. „Irgendwie ist mir nicht so nach Essen.“ Als der Ober herankam, bestellte mein Bruder ein Glas Merlot und seiner Verlobten ein Wasser.

„Was nimmst du?“ „Ein Pils“, antwortete ich und beugte mich erwartungsvoll nach vorne. „So – und heute lerne ich sie also endlich kennen: Die Frau, die meinen Bruder nun schon seit geraumer Zeit von mir fernhält…“ „Tja, tut mir leid Dale“, grinste er verlegen. „Aber du weißt ja: Diesmal hat es mich wirklich voll erwischt. Deswegen muss ich sie ja auch heiraten. Sie ist die Richtige für mich – das spüre ich einfach.“ Mit glühendem Gesicht sah er immer wieder zum Eingang, wo sie gleich auftauchen würde. „Ich bin schon so gespannt, was du von ihr hältst!“, sprudelte es aus ihm heraus.

„Das bin ich auch…“, antwortete ich und zündete mir eine Kippe an. Amüsiert betrachtete ich ihn:

Er war wirklich kaum wieder zu erkennen. Strahlend wie ein Honigkuchenpferd, locker und gelöst und nicht so angespannt wie früher – einfach alles an ihm verströmte den fantastischen Sex, den er wohl mit ihr haben musste. Ein klein wenig neidisch war ich da schon obwohl ich mich natürlich für ihn freute. Um halbwegs mithalten zu können, beschloss ich, ihm von meinem Erlebnis im

Theater zu berichten. „Stell dir vor, gestern Abend war ich im Lighthouse Theatre um eine Kritik zu schreiben…“ „Wirklich…?“, fragte er interessiert. „Das bist du ja öfter. Und?“ „Nun, ich habe dort eine Frau gesehen…“ „So so, du hast eine Frau gesehen. Mal etwas ganz Neues! Und? Gefällt sie

dir etwa?“ Erwartungsvoll lehnte er sich zurück. „Vielleicht…“, antwortete ich nachdenklich.

„Zumindest denke ich an sie.“ „Und wer ist sie?“ „Eine Schauspielerin“, antwortete ich und blies

den Rauch durch die Nase. „Was genau hat Dich an ihr so beeindruckt?“ Ich überlegte. „Gute Frage. Ich weiß nicht. Vielleicht ihre Art zu spielen, ihr Aussehen, ihre ganze Erscheinung?“ „Wie heißt sie?“ „Keine Ahnung. Aber das werde ich später herausfinden.“ „Du gehst also noch einmal hin?“

„Nach unserem Treffen, ja.“ Robert überlegte. „Vielleicht kann dir meine zukünftige Frau ja helfen, sie kennenzulernen.“ „Wieso?“ „Sie arbeitet dort gelegentlich als Laiendarstellerin. Vielleicht kennt sie sie ja? Wäre wohl gar nicht so unwahrscheinlich.“ Ich konnte es nicht glauben. „Wirklich? Das wäre ja fantastisch!“, stieß ich hervor. „Dann könnte sie uns ja vorst…“ „Entschuldigung bitte, aber darf ich kurz stören?“, unterbrach mich plötzlich eine zarte Stimme und zwang uns beide zum Aufsehen. Zuerst glaubte ich an einen Irrtum. Doch schon in der nächsten Sekunde schoss ein rasender Stich in mein Herz, der wohl Wiedersehensfreunde, Aufregung und Panik zugleich war. Vor uns stand die junge Frau vom Theater! Sie musste zufällig hier sein, mich gesehen und gleich wieder erkannt haben. Ich konnte nichts sagen, schnappte nach Luft, wollte sofort aufspringen und sie begrüßen. Doch nichts davon passierte. Ich saß einfach nur da wie gelähmt und starrte sie an. Und dann geschah etwas, was ich nicht erwartet hatte: Mein Bruder nahm ihre Hand. Und in diesem

Moment verstand ich: Sie war die Verlobte. Sie war die Frau, die er heiraten würde. Während ich die beiden noch ungläubig ansah, zog er sie schon sanft auf den freien, mit rotem Samt besetzten Stuhl neben sich und begann, uns einander vorzustellen. „Dale, das ist Susannah. Susannah, das ist mein Bruder Dale.“ Alle Farbe wich aus meinem Gesicht. „Sehr erfreut…“, murmelte ich fast automatisch und reichte ihr eine schweißnasse Hand zur Begrüßung. Sie schüttelte sie fest. Während wir uns berührten, glaubte ich, in ihren rehbraunen Augen einen vertrauten Ausdruck und vielleicht sogar einen Funken Freude zu entdecken, doch ihre ganze restliche Mimik lies davon nichts erkennen. Einzig und allein ein kleines, kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht und bewirkte einen unbarmherzigen Stich in meinem Herzen. Mir kam die Galle hoch. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! „Das ist aber wirklich ein Zufall, Schatz. Wir haben tatsächlich gerade von dir gesprochen!“, sprudelte es aus Robert heraus und ich bemerkte, dass er sie ansah wie ein seltenes Juwel, das ihm durch Zufall in die Hände gefallen war. „Ach wirklich?“, fragte sie neugierig und bedachte ihn mit einem weichen, warmherzigen Blick. Er fing ihn begierig auf. „Ja! Stell dir vor, Dale war gestern Abend auch bei Deiner Vorstellung. Und er interessiert sich für…“ „Ach lass!“, unterbrach ich ihn hastig. „Das ist jetzt wirklich nicht wichtig. Lass uns über etwas anderes reden.“ Robert stutzte einen Moment, wechselte dann aber gehorsam das Thema. Ich hörte nicht mehr, wie

er dann fortfuhr. Ich hatte nur das Gefühl, mich in der nächsten Sekunde vor den beiden übergeben zu müssen. Jedes der Worte am Tisch schwebte nun wie ein undurchdringlicher Nebelschwaden an mir vorbei. Susannah – so hieß sie also: S u s a n n a h – sprach nichts, hielt den Kopf gesenkt und platzierte ihre Hand in einer vertrauten Geste auf Roberts. Zwischen ihr und mir gab es etwas, das spürte ich. Eine scheinbar unüberwindbare imaginäre Mauer. Sie musste es auch bemerkt haben; zu befangen kam sie mir in diesem Augenblick vor. Roberts Lippen formten weiterhin Sätze, von denen ich nichts mitbekam. Als der Ober uns endlich die Getränke servierte und mir die Speisekarte in die Hand drückte, flogen meine Augen über die Gerichte. Ich las, aber ich las nicht. Geräuschfetzen vom Nebentisch drangen an mein Ohr, immer wieder durchbrochen von Roberts lebhafter Stimme und ihrem Blick. Ich konnte mich nicht konzentrieren, ein siedend heißer Schmerz tobte in meiner Brust. Krampfhaft überlegte ich, wie ich dieser grauenhaften Situation entfliehen könnte. Robert musste meine plötzliche Verstocktheit sicherlich bemerkt haben, versuchte aber, sie aber mit ausuferndem Geplapper zu überdecken. Ich hingegen kam mir vor wie ein Dampfkochtopf, kurz vor dem Siedepunkt. Verdammt, du musst hier raus! Pulsierte es in mir. Schließlich fasste ich einen Entschluss; drückte in einer hastigen Geste meine Zigarette aus, kippte das Pils hinunter und murmelte etwas von einer vergessenen Redaktionssitzung. Herbe Enttäuschung brannte auf Robert Gesicht, als ich nun abrupt aufrumpelte; das Geld auf den Tisch warf und wie von Sinnen zum Ausgang stürzte. Auch sie verfolgte mein Tun mit einer Mischung aus Trauer und Bestürzung. Oh Gott, ich konnte sie gar nicht ansehen. Wie wunderbar sie doch war! Zart wie eine Porzellanpüppchen, mit der Anmut eines seltenen Schmetterlings. An einem anderen Ort, zu anderer Zeit und diesen Umständen entrückt, hätte ich sie niemals verlassen. Doch jetzt und heute ging es

nicht anders. Als ich schließlich auf dem Bürgersteig stand und mir die Lunge aus dem Leib keuchte, wusste ich, dass auch sie mich erkannt hatte. Und, dass ich ihr nicht völlig gleichgültig war.

Draußen versuchte ich mich erst einmal zu beruhigen. Die am Morgen so angenehm kühle Luft war mittlerweile einer drückenden Schwüle gewichen. Auch am Himmel standen die Zeichen auf Sturm: Dunkle Wolken agierten bereits als Vorboten für ein einsetzendes Gewitter. Aber das war mir egal. Kopflos wandte ich mich nach rechts und schritt festen Schrittes die Straße entlang. Meine Gedanken kreisten wie verrückt, während ich mich immer weiter von dem Ort entfernte, wo sie war. Wo er war. Wo sie waren. Ich sah sie auf der Bühne; an der Straßenecke; überall und dann neben meinem Bruder. Anklagend hob ich den Kopf und spukte in den Himmel. „Was soll das? Was zum Henker hat das zu bedeuten? Warum passiert so eine verdammte Scheiße ausgerechnet mir?!“ Als Antwort spürte ich erst nur vereinzelte Tropfen auf meinem Mantel, dann mehr und schließlich einen Platzregen, der den Gehsteig binnen Sekunden in eine nasse Rutschbahn verwandelte. Ich lachte hämisch. Sollte es doch hageln, es gab sowieso nichts, was mir in diesem Moment gleichgültiger war! Um mich herum spannten die Leute ihre Schirme auf, rannten panisch in den nächsten Hauseingang oder benutzten eine Zeitung als Schutzschild. Ich jedoch benötigte nichts von alle dem sondern stapfte einfach nur weiter durch die nun mehr und mehr verlassenen Straßen, begleitet von peitschendem Donnergrollen. Um das Übel perfekt zu machen, zog jetzt auch noch starker Wind auf, der sich eisig seinen Weg durch meine Kleider bahnte. Ich reagierte darauf, indem ich den Mantel enger um meinen Körper schnürte, was aber nicht mehr sehr viel half, da er binnen Minuten sowieso völlig durchnässt war. Es passte perfekt: Die äußeren Umstände spiegelten meinen eigenen Alptraum wider: Mein Bruder heiratete eine Frau, für die ich offensichtlich Gefühle hegte. Es war einfach nicht zu glauben.

Irgendwann tauchte das vertraute Gesicht meiner Stammkneipe auf. Dorthin zog ich mich manchmal zurück, wenn ich nicht schreiben konnte und die Stille meiner Wohnung mich zu erdrücken schien. In den letzten Jahren war das sehr oft der Fall gewesen. Sobald ich dann auf einem Barhocker Platz nahm und einen guten alten Jacky D. Kippte, war die Welt wieder in Ordnung. Dan, der Barkeeper, verheiratet mit drei Kindern und fett wie ein Pottwal, kannte mich schon seit Jahren und rieb sich jedes Mal wieder nachdenklich seinen krauseligen Bart, wenn er mich sah. Er fragte sich, was denn aus mir werden sollte, während er mir meinen „guten alten Freund, den Whiskey“ hinstellte. Ich wusste genau, was er dachte. Böse Zungen hätten behaupten können, ich wäre Alkoholiker. Dan bediente viele Alkis an seiner Bar und hatte weiß Gott Ahnung davon. Ich jedoch war keiner. Dessen war ich mir sicher. Trinken war einfach nur ein guter Schlüssel zum Schreiben, das war alles. Und wenn ich flüssig schreiben konnte, vergaß ich sowieso die Welt um mich herum. Gedanken zogen dann vorbei wie treibende Wolken. Meine Einsamkeit, die beschissene Kindheit, gescheiterte Beziehungen, alles schlich sich einfach davon wie ein geprügelter Hund auf der Straße. An solchen tristen Abenden, die sich häufig in schlaflose Nächte verwandelten, war das Glas in der Hand schon immer ein treuer Begleiter gewesen. So auch heute. Ich saß da, trank, qualmte und sinnierte über mein verkorkstes Leben. Und drei Jacky D.s später war ich nicht einmal mehr dazu in der Lage.

Die Theaterkritik wurde an diesem Abend natürlich nicht fertig, was mir am nächsten Tag gehörige

Probleme mit meinem Redakteur einbrachte. Sam und ich diskutierten eine halbe Stunde hin und

her und schließlich schrieb ich kurz und knapp eine lieblose, mit wenig Einfällen gesegnete Passage über das Stück. Obwohl es gut gewesen war, verteufelte ich es und übte damit meine persönliche Rache für das Szenario des gestrigen Tages. Die Kopfschmerzen, die mich beim Tippen des Textes begleiteten, waren überdimensional, von der Übellaunigkeit gar nicht zu sprechen. Ich hatte das Gefühl, als befände ich mich in einem Karussell, das sich ständig drehte. Die Kippe fiel häufig auf die Tasten, was wahrscheinlich nicht unwesentlich am Zittern meiner Hände lag. Meine psychische Verfassung war am Nullpunkt. Gleichzeitig verachtete ich mich dafür, weil ich mich wegen einer Frau, die ich noch nicht einmal kannte, so anstellte. Es war doch nur ein kurzer Augenblick gewesen! Was führte ich mich auf wie ein alberner Teenager! Aber diese Gewissheit, dass sie es war und dass sie es nicht für mich war und nie sein würde – die machte mich wahnsinnig. Ich wollte sie vergessen; sie aus meinem Kopf drängen wie ein unerwünschter Gast. Aber das konnte ich nicht.

Sie würde schließlich bald die Frau meines Bruders werden und das musste ich schlucken. Wahrscheinlich hatte ich mich auch einfach getäuscht und sie falsch eingeschätzt. Sie war schließlich auch eine Frau, wie alle anderen auch. Aber dieses starke Gefühl. Dieses seit langen so starke Gefühl… Wo kam es nur her? Und warum war es da? Diese Fragen quälten mich. Trotzdem war sie tabu. Gegessen. Durch. Ich durfte sie einfach die nächste Zeit nicht mehr sehen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber wie zur Hölle sollte ich den Kontakt zu ihr vermeiden, wenn sie bald heiraten und ich auf ihrer Hochzeit sein würde? Dafür fand ich keine Lösung. So sehr ich es

auch drehte und wendete. Irgendwann übertrug sich das Karussell in meinem Kopf schließlich auch auf meinen Magen. Folgerichtig stürzte ich auf die Toilette und übergab mich dort mit würgenden Lauten. Den ganzen verdammten Tag pendelte ich nun zwischen dort und dem Computer, an dem versuchte, meinen Job hinzukriegen. Aber es war und war nicht möglich. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, keine guten Sätze formulieren – zu sehr beschäftigte mich die ganze verdammte Sache. Wie hatte es mich nur so erwischen können? Aber: That´s life. So war das eben. Ich war niemand, der richtig lieben konnte. Ich liebte mich selbst, keine Frau. Aber das stimmte nicht. Nicht mehr. Ich konnte lieben und tat es. Ich durfte es nur nicht.

Die Tage seit dem Treffen verstrichen zäh wie Leim. Ich verbrachte sie damit, mich wie ein Eremit in meiner Wohnung zu verkriechen und die Wände anzustarren. In meinem Kopf spielte sich immer wieder die gleiche Szene ab: Susannah, mein Bruder und ich. Und wie ich es auch drehte und wendete, die Konstellation ergab nie einen Sinn. Ich konnte sie nicht haben. Ich würde sie nie berühren. Wir würden uns nie lieben. Ganz einfach. Irgendwo auf dieser Welt gab es doch sicher auch für mich eine Frau, für die ich genauso empfinden konnte wie für sie. Die ich nicht nur zum Ficken benutzte, sondern für mehr. Mitten in diesem Gedanken hielt ich inne. Wie fühlte ich mich, wenn ich an diese Möglichkeit dachte? Beschissen. Fahrig strich ich mir die mittlerweile fettigen Haare aus der Stirn. Ja. Beschissen. Aber besser, als wenn sich mein geliebter Bruder Robert scheiße fühlen würde, oder? Ich stierte durchs offene Fenster zu meiner Nachbarsfamilie hinüber. Die Rollläden waren heruntergezogen und eine ungewöhnlich subtile Stille beherrschte die Szene. Ob

sie in den Urlaub gefahren waren? Noch letzte Woche hatte mich ihr ewiges Geklapper mit den Töpfen, das Gezanke und Gedusche genervt, jetzt vermisste ich es fast. Es hatte mir zumindest nicht das Gefühl gegeben, komplett alleine auf dieser Welt zu sein. Mein Blick fiel auf die Spüle hinter mir. Dort stapelten sich ungewaschene Teller neben drei leeren Pizzaschachteln. Ich lachte bitter auf. Wenigstens hatte ich seit dem Schock meine Pedanterie, wegen der mich jeder, der mich kannte, aufzog, verloren. Nicht einmal der strenge Geruch, der in der Luft lag, störte mich. Fast kam mir vor wie Robinson Crusoe auf seiner Insel: Gestrandet und ratlos. Einer Insel, auf der sich der Müll als stinkender, ekelerregender Haufen sammelte und darauf wartete, entsorgt zu werden. Einer Insel, auf der sich Berge von Geschirr türmten. Einer Insel, auf der ein ungepflegter Mann vor seinem Schreibtisch saß und sich seit Tagen selbst bemitleidete. Nur, dass die Insel keine Insel war, sondern nur eine stickige Bude, in der im Moment kein normaler Mensch mehr sinnvoll arbeiten konnte. Arbeit. Das Zauberwort. Ich hatte zu arbeiten. Das würde mich retten. Schließlich war Abgabeschluss meiner Reportage für den Sonderteil Anfang September. Moment. Anfang September? Abrupt stand ich auf und eilte zum Kalender. Verdammt, das war in zwei Tagen. Wunderbar: Und ich hatte immer nichts auf dem Papier. Jetzt litt also schon meine Arbeit. Es half nichts. Ich musste einen Interviewtermin machen. Sofort.

Als ich drei Stunden später der Diplompsychologin Sarah D. gegenüber saß, war ich wieder der Alte und setzte mein übliches Pokerface auf. Breitbeinig saß ich in einem bequemen Ledersessel, um ihr in ihrem adäquaten Kostümchen mit Spitzenkragen zuzuhören. Sie wirkte so bieder, dass ich mich fragte, ob diese Frau in ihrem Leben schon jemals anständigen Sex gehabt hatte. In der rechten Hand befand sich mein Aufnahmegerät, das mir beim anschließenden Kürzen des Textes behilflich sein würde. Im Kopf überschlug ich die Zeit, die mir noch blieb, mein Geld zu verdienen. Das Ding musste heute Abend fertig werden, sie würde es morgen gegenlesen und am Freitag bekam Sam es in die Redaktion für die nächste Ausgabe. Könnte klappen. Wenn ich nicht heute Nacht schlapp machte. Aber ich wusste: Mit fünf, sechs Kaffees und zwei Schachteln Kippen konnte ich zu Superman werden, Schlafdefizit hin oder her. Ja, so gefiel ich mir besser. Er war also wieder da: Der alte Knabe, der nichts anbrennen ließ, ständig alles auf den letzten Drücker erledigte und dabei noch cool wie ein Eiswürfel war. So gefiel ich mir viel besser als vorher. Und die Sache mit Susannah würde ich auch noch hinbekommen. Frauen waren schließlich austauschbar. Selbstgefällig grinste ich mein Gegenüber an. Hatte ich da eben nicht ein verlegenes Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht gesehen?

Später beugte ich mich über den Computer und hämmerte das Gesagte in die Tastatur. Gerade als mein Daumen das Aufnahmegerät drückte, um das Interview am Nachmittag nochmals abzuspielen, fiel mein Blick auf die Uhr: 1.03 Uhr. Eigentlich Zeit für ein Schläfchen. Aber das musste warten. Eigentlich fühlte ich mich sogar noch ganz fit, auch wenn ich seit geschlagenen vier Stunden am Computer saß und meine Augen wie Feuer brannten. Es half einfach nichts: Das Feature musste fertig werden, sonst konnte ich mir einen anderen Job suchen. Und noch einmal mit Sam zusammenrücken, wie schon so oft in den letzten Monaten – das war einfach nicht drin. Während ich also der lieblichen Stimme von Sarah D. Lauschte, verpackte ich ihre Wörter schon in geschickt geformte Sätze, die an Präzision kaum zu überbieten waren. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag wieder. Es war ok. Alles war wieder im Lot: Sam würde begeistert sein und ich hatte

wieder die Position, die mir in der Zeitung zustand. Er und ich kannten uns schon lange. Fast zu lange. Ich wusste, welche Socken er an welchen Tag trug, wen er Samstag Abends beim Bridge traf und wenn ich mich ein bisschen anstrengte, konnte ich sogar sagen, welche Hämorrhoiden-Salbe er benutzte! Nein, wir hatten wirklich keine Geheimnisse mehr voreinander. Schon seit der Uni nicht. Dort waren wir uns bei einem Literaturkurs zum ersten Mal begegnet und hatten uns sofort angefreundet. Das war bis heute so. Mit seinen 56 Jahren war Sam ein gutes Stück älter als ich. Ein

„Spätberufener“ wie man so schön sagte. Auf dem zweiten Bildungsweg Abitur gemacht, Theaterwissenschaft studiert und nebenbei immer wie ein Wilder geschrieben. Nach dem Studium war er bei einer der größten Zeitungen im Land eingestiegen und hatte sich mit eisernem Willen hochgearbeitet, um sich schließlich als krönenden Abschluss den Chefsessel unter den Nagel zu reißen. Heute konnte ihm keiner ein X vor ein U vormachen. Er hatte es drauf und genau deshalb hatte er auch mich auch an Bord geholt. Weil ich es genauso drauf hatte. Zumindest beim Schreiben. Stolz erfüllte mich, wenn ich das dachte. Vielleicht auch ein gewisses Maß Eitelkeit. Aber das benötigte man nun einmal in meinem Job. Als die Uhr 5.07 zeigte, tippte ich die letzten Worte in meinem Laptop und knallte mich ins Bett. Dort gab es dann eine ganze Zeit nichts außer lieblichen Stimmen, Flugzeugen und zwei dunklen Augen, die mich anklagend anstarrten.

Das Telefon kreischte und riss mich aus dem Schlaf. Ich lies es läuten. Mit Sicherheit Robert. Die letzten Tage hatte er bereits mehrmals vergeblich versucht, mich zu erreichen. Ich war mir sicher, dass er mich mittlerweile für völlig verrückt hielt, weil ich nicht einmal zurückrief. Als sich der Anrufbeantworter ein weiteres Mal einschaltete, um seine besorgte Stimme aufzunehmen, folgte erst ein leises Rascheln, dann unerwartet eine Frauenstimme. Wer war das? Ich kannte die Stimme nicht. Doch dann war es mir klar und meine Augen weiteten sich vor Schreck. Susannah! Im nächsten Moment war ich zum Telefon gestürzt.

Wir saßen uns gegenüber und schwiegen. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe, sie spielte mit ihrem Löffel in dem längst abgekühlten Kaffee. Die Szene erschien mir unwirklich, draußen prasselten Tropfen heftig gegen die Scheibe. Wieder hatte es begonnen, zu regnen, als ich das Haus nach ihrem Anruf – nur mit der nötigsten Körperpflege versehen – verlassen hatte. Mittlerweile musste es bereits Mittag sein. Der Zeit, in der ich eigentlich bei der Psychologin hätte sein müssen, um das finale OK für die Veröffentlichung des Textes einzuholen. Ich wusste, mein Verhalten würde mir das Genick brechen, aber scheiß drauf – manchmal gab es im Leben nun einmal Wichtigeres als berufliche Termine. Draußen vor dem Fenster war alles grau. Ich erinnerte mich an den Moment, an dem wir uns vorhin das erste Mal alleine gegenüber gestanden hatten. Mit schüchterner Zurückhaltung, weltentrückt in einem weinroten Satinkleid, war sie plötzlich aus der Menge aufgetaucht. In diesem Moment hatte ich mich sehr zusammennehmen müssen, sie nicht sofort an mich zu ziehen. Stattdessen presste ich die Hände krampfhaft in die Hosentaschen und hielt dem betretenen Schweigen, das nun zwischen uns lag, stand. Keiner von uns wusste, wie man sich als Fremde eigentlich zu begrüßen hatte. Schließlich drehte ich fragend meinen Kopf in Richtung Café. Sie nickte. Als wir eintraten, berührten sich unsere Finger. Nur für einen kurzen Moment und doch durchzuckte mich sofort ein angenehmer Schauer. Oh Gott – sie war mir so nah und gleichzeitig Lichtjahre entfernt. Ich eilte voraus, wählte einen kleinen Seitentisch am Fenster und bot ihr an, sich zu setzen. Und dann war es auf einmal nicht mehr zu leugnen: In Gegenwart dieser Frau benahm ich mich wie ein Teenager vor dem ersten Date. Da war nichts mehr von dem kühlen Reporter, dessen Rolle ich sonst so selbstverständlich einnahm. Stattdessen zitterten meine Hände wie die eines Greises, während tausend Dinge durch meinen Kopf schossen. Trotzdem fand keines der Worte den Weg über meine Lippen. Gerade, als ich uns zwei Kaffee bestellt hatte und ein paar belanglose Worte zur Lockerung der Situation verlieren wollte, platzte es plötzlich aus ihr heraus: „Dale, ich wollte Dich hier treffen, weil ich das Gefühl hatte, du hast ein Problem mit mir. Du bist im Restaurant so überstürzt davon geeilt, als hättest du den Teufel persönlich gesehen. Robert macht

sich große Sorgen deswegen; er kann Dich schon seit Tagen nicht erreichen. Und ich mache sie mir auch – auch wenn du das vielleicht nicht glaubst.“ Ungläubig starrte ich sie an. Sie nestelte nervös an ihrer Armbanduhr, dann fuhr sie fort. „Mir ist schon klar, dass ich dich eigentlich ja gar nicht kenne. Aber trotzdem möchte ich nicht, dass das schon von Anfang an gleich schlecht mit uns läuft.“ Sie beugte sich näher zu mir. „Also. Wenn du wirklich ein Problem mit mir hast, dann bitte ich dich, mir das jetzt ganz direkt zu sagen. Vielleicht kann ich ja etwas daran ändern.“ Ich schwieg betreten. Was sollte ich dazu auch sagen? Wie konnte sie so etwas auch nur eine einzig Sekunde annehmen? Ich kam mir vor wie ein Volltrottel. Und zwar einer, der sich selbst ganz gewaltig selbst etwas vorgemacht hatte. Susanah war gar nicht an mir interessiert. Sie hatte nicht das mindeste Interesse an einem Flirt und nur angerufen, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ich seufzte.

„Ich? dich nicht mögen? Wie kommst du denn darauf? Ich kenne dich ja schließlich nicht einmal!“ Verlegen ruckelte sie auf der Sitzbank herum. „Ich weiß…“, gab sie zu. „Und es tut mir ja auch

wirklich leid, dass ich so etwas annehme. Aber du hast bei unserem ersten Treffen einfach so gewirkt! Und jetzt gehst du nicht mehr ans Telefon und sprichst nicht mehr mit Deinem Bruder. Was soll man denn in so einer Situation sonst glauben?“ Fragend sah sie mich an. Ich rang mit mir. Sollte ich ihr etwa die Wahrheit sagen? Ich hatte keine Lust, ihr etwas vorzulügen. Auf der anderen Seite war aber auch mein Bruder mit in diesem Spiel und einer von uns würde – sollte sie vielleicht wider Erwarten doch Interesse an mir haben – dann auf jeden Fall der Verlierer sein. Und die Frage, die sich außerdem stellte, war: Wollte ich das dann? Wollte ich wirklich meinen eigenen Bruder in die Pfanne hauen? Aber allein schon der Blick in ihre sanften Augen lies mich schwach werden, ja, schmelzen wie ein Stück Butter in der Sonne. Hatte sie es nicht verdient, die Wahrheit über meine Gefühle zu erfahren? Vielleicht konnte ich es ihr ja sagen, ohne…Ja ohne was? Ohne, dass sie es

ihm sagte? Das war unwahrscheinlich. Ich überlegte ein paar Minuten. Dann fasste ich einen Entschluss: Ich würde es tun. Sie musste wissen, was ich für sie fühlte. Dass ich etwas fühlte. Nur, um Klarheit zu schaffen. Um mit offenen Karten zu spielen. Von Anfang an, so wie sie es gewollt hatte. „Susannah, es ist ein bisschen anders, als du denkst…“, begann ich. „Ich…“ Stopp Dale! schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Wenn du das jetzt aussprichst, machst du alles kaputt! Ich stockte. „Was ist denn los?!“, drängte sie ungeduldig. „Wieso redest du nicht weiter? Erklär mir bitte, wie es wirklich ist.“ Ich schwieg. Starrte auf die ungeputzte Tischplatte, auf der nun meine kalkweißen Hände lagen. „Susannah. Also es ist so, dass… du musst wissen…“ Verdammt, ich konnte es einfach nicht! Wie zum Teufel sollte man so etwas denn auch in Worte fassen!? Ich knallte mit der Faust auf den Tisch, so dass er bebte. Besorgt nahm sie meine Hand. Als ich aufsah, flüsterte sie eindringlich: „Dale. Jetzt hör mir mal zu. Egal, was es ist. du kannst mir vertrauen.“ Ich war hin und her gerissen. Öffnete den Mund, um es ihr entgegen zu schreien, doch wieder drang kein Laut über meine Lippen. Es war, als wäre ich stumm. Sie sah mich weiterhin mit einer Engelsgeduld abwartend an, hielt fest meine Hand. Plötzlich schämte ich mich dafür, dass ich sie einweihen wollte. Es war nicht fair meinem Bruder gegenüber. Wenn nur die geringste Chance bestand, dass auch sie…? Ich schloss die Augen, senkte den Kopf. Dann würden gleich drei Menschen leiden und nicht nur einer. Nach einer Weile seufzte sie. „Sieh mich an, Dale. Sieh mich bitte an. Es ist wirklich schade, dass du mir nicht vertrauen kannst. Ich hätte dir wirklich gerne geholfen. Aber dann muss ich eben dir jetzt etwas sagen…“ Ich hob den Kopf und lauschte.

Nach dem wir uns verabschiedet hatten, trottete ich mit hängenden Schultern durch die Gassen. Es war vorbei. Sie hatte mir klar und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie sich für die Zukunft einen guten Kontakt miteinander wünschte und mein Bruder und sie immer für mich da sein würden – egal, was ich ihr vielleicht zu sagen gehabt hätte. Frustriert schüttelte ich den Kopf.

Ich hatte etwas anderes als dieses Freundschaftsblabla erwartet. Ich hatte erwartet, dass sie es wusste. Es spürte. Ja, es vielleicht sogar erwiderte. Aber nichts! Selbst wenn sie tatsächlich wusste, was in mir vorging, hatte sie es in unserem Gespräch nicht ausgesprochen oder mit Absicht ignoriert. So hatten wir beide um den heißen Brei herumgeredet. Schließlich hatte sie mir auch noch das Versprechen abgerungen, bei der Hochzeit dabei zu sein. Wie hätte ich ihr diese Bitte abschlagen können? Es hatte mich enorme Überwindung gekostet, zuzusagen. Sie aber war erleichtert gewesen. Trotzdem: Eines konnte ich nicht abschütteln: Während des ganzen Gesprächs hatte mich manchmal das leise Gefühl beschlichen, dass hinter dem, was sie mir sagte, ebenfalls so etwas wie Zuneigung stand. Ja, ich bildete mir sogar ein, es in ihren Augen, in ihren Worten, ja sogar in einzelnen Gesten erkannt zu haben! War ich verrückt? Ich konnte mich doch nicht so täuschen! Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Was nutzte mir denn dieses ganze beschissene Leben, wenn ich diese Frau nicht haben konnte? Wen interessierten überhaupt diese dummen Theaterkritiken, die ich Woche für Woche, Jahr für Jahr schrieb? Wen interessierte das, was ich tat? Ich konnte mich doch nicht nächste Woche einfach in die Kirche stellen und den beiden beim Heiraten zusehen! Ich konnte nicht Taufpate bei dem Kind, das dann aus dieser unglückseligen Ehe hervorgehen würde, sein! Alleine die Vorstellung daran gruselte mich. Es würde aussehen wie sie. An den Rest wollte ich gar nicht denken. Abrupt blieb ich stehen. Es musste eine Lösung her. Jetzt. Und was hatte mir in solchen Situationen immer schon geholfen? Na klar – das Übliche: Alkohol. Schreiben. Einsamkeit. Natur. Jemand, bei dem ich mich auskotzen konnte. Nur da war niemand.

Die einzige Person, mit der ich mich hatte immer austauschen können, war immer mein Bruder gewesen. Ich runzelte die Stirn – das konnte ich ja nun getrost vergessen. Wo verdammt nochmal waren eigentlich meine Kippen? Immer, wenn man sie brauchte, waren sie nicht da. Während ich nun wie ein Wilder die Taschen meines Mantels durchwühlte, rempelte ich versehentlich gegen eine junge Frau. „Blöder Penner, pass doch auf, wo du langgehst!“ schrie sie angeekelt und beeilte sich, mich möglichst schnell zurück zu lassen. Ich blieb fassungslos zurück. Wie ungepflegt musste ich aussehen, dass dieser fremde Mensch mich als Obdachlosen wahrnahm? Ein Blick in das Schaufenster zu meiner rechten genügte. Dort zeigte sich ein versiffter Mann mittleren Alters mit rot

umrandeten Augen, aus denen die Wut regelrecht schrie.

Als es schon dunkel war, saß ich am Flussufer und hatte den Kopf in die sternklare Nacht erhoben. Mein Handy gab es nach mehrmaligem Versuchen auf, mich zu stören und vibrierte nutzlos in meiner Jacke. Schwer lag der angebrochene Rotwein, den ich mir vorhin an der Tanke geholt hatte, in meiner Hand. Ich würde gleich den letzten Rest hinunterkippen, denn ich wusste ganz genau, wer mich zu so nachtschlafender Zeit so dringend erreichen wollte: Sam. Und warum er anrief, wusste ich auch: Ich hatte den Redaktionsschluss für das Interview vergeigt. Das wiederum konnte das endgültige Aus für meinen Job bedeuten. Plötzlich überschwemmte eine ungeahnte Traurigkeit mein Gemüt, wie die Flut das Watt. Nur dass hier keine Ebbe mehr in Sicht war. Scheiß Situation. Aber Dale, der Sieger, hatte sich selbst reingeritten. Und das wegen einer Frau! Mal wieder. Ich verzog wie unter Schmerzen das Gesicht. Irgendwie bockte mich das alles gar nichts mehr. Ruhe wäre jetzt schön. Endgültige Ruhe. Ich blickte in das schwarze Wasser. Wie es wohl wäre, dieses unselige Leben an dieser Stelle einfach zu beenden? Das hatten hier schon viele getan, wie aus dem örtlichen

Klatschblatt immer wieder hervorging. Das letzte Mal war erst vor zwei Wochen gewesen: Ein 16jähriger

Teenie hatte sich aus Liebeskummer das Leben genommen. „Jung und dumm“, sagte man.

 

Aber hatte sie jetzt nicht ihre Ruhe? Vielleicht war sie ja glücklich, da wo sie jetzt war? Warum denn nicht schon mit 16 Jahren sterben – was wartete denn in diesem beschissenen Leben noch auf einen, wenn man älter wurde? Streit. Ärger. Hoffnungslosigkeit. Und wenn man alt war, verreckte man elendig an Prostatakrebs. Mahlzeit. Darauf konnte ich wirklich verzichten. Das Wasser zu meinen Füßen glitzerte verführerisch im Mondschein, niemand war in der Nähe. Wie würde es sein, dort zu versinken? Wie würde er sein, dieser Moment des Sterbens? Was ging einem durch den Kopf? Wurde man von Panik überwältigt oder öffnete man dem Tod die Arme, wie einem lang ersehnten Freund. Die Aussicht, es zu versuchen, war verlockend. Und jetzt – in dieser Sekunde hatte

 

ich doch erst recht einen guten Grund, damit endlich Schluss zu machen. Die Lust, mich einfach ins trübe Wasser fallen zu lassen, wurde übermächtig. Ruckartig stand ich auf und stieß

dabei versehentlich die Weinflasche ins Wasser. Sofort trieb sie davon. Sehnsüchtig sah ich ihr nach. Dann setzte ich zögernd den rechten Fuß ins Wasser. Doch als das kühle Nass meine Socken vollsog, verließ mich der Mut. Schwer ließ ich mich wieder auf meinen Hintern fallen. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein! Was war ich nur für eine Memme – sogar zum Selbstmord war ich nicht fähig! Bevor ich mich versah, fing ich an zu heulen, bis dass der Rotz aus meiner Nase seine klebrigen Fäden über mein Gesicht zog. Minuten später kicherte ich wie ein Irrer. Dann begann ich zu fluchen. Jemand, der mich vielleicht beobachtete, musste annehmen, ich sei verrückt. Durchgeknallt. Ein Irrer. So gab ich mich eine Zeitlang meinen unsteten Gefühlswogen hin. Als die Sonne schließlich den Horizont erhellte, bewegte ich mich nach Hause und schleppte mich mit in mein Bett. Die durchgeschwitzten, klebrigen Klamotten ließ ich an – es hätte zu viel Energie gekostet, sie auszuziehen.

Am Nachmittag schrillte das Handy. Noch völlig verschlafen und unkoordiniert griff ich danach und nahm das Gespräch an. Am anderen Ende war Sam. Und er war wütend. „Sag mal, was ist verdammt noch mal los mit dir, Dale?“ brüllte er. „Hat man dir jetzt komplett ins Hirn geschissen?“ Mir war klar, was jetzt kam. Kommen musste. Ich fing an, eine Entschuldigung ins Telefon zu stottern. „Sam, ich…“ Aber keine Chance – er ließ mich nicht einmal ansatzweise ausreden. „Du Idiot! Du hast das Interview platzen lassen! Du schreibst Kritiken, die ein Praktikant hätte besser formulieren können! Du bist unzuverlässig! Und du säufst!“ Seine Stimme schwoll an, wurde so

laut, so dass ich das Handy vom Ohr weg halten musste. „Mein Freund“, stellte er fest, „ich muss dir jetzt etwas sagen.“ Ich schloss die Augen, erwartete das Schlimmste. Und ich sollte Recht behalten. „Ich kann und will mir das nicht länger anschauen.“ fuhr Sam fort. „Ich habe die Schnauze gestrichen voll, für dich immer wieder die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Du hast ein Problem, Dale! Und zwar ein ganz gewaltiges! Ich weiß nicht, was bei dir privat gerade abgeht und es ist mir auch egal – aber die Tatsache, dass du schon seit längerem keine gute Arbeit mehr ablieferst, macht mich sauer. Sehr sauer. Und du weißt – wer, wenn nicht du! – dass die Auflage meiner Zeitung von der guten – nein, von der exzellenten – Arbeit meiner Leute abhängt! Arbeit, die du leider nicht erst seit gestern nicht mehr bringst, das ist dir doch klar?“ Wütend schnaubte er ins Telefon, schwieg dann einen Moment. Ich schickte Stoßgebete in den Himmel, dass er nicht aussprach, was er jetzt dachte aber dann tat er es doch: Live und in Farbe. „Dale. Es tut mir leid. Aber du bist draußen.“

„Sam verdammt!!“ spuckte ich ins Telefon. „Das kannst du nicht machen! Was habe ich dir nicht schon alles geliefert! Die Franken-Story – ich war damals der Erste, der dran war, da haben die

anderen die Lunte noch nicht einmal gerochen! Das Dandy-Protokoll! Für dich habe ich meine ganze Existenz als Reporter riskiert! Und wie oft habe ich deinen Arsch gerettet und die verdammte Auflage gesteigert! Du kriegst keinen Besseren als mich und das weißt du auch!“ Mein Gesicht brannte, das Adrenalin schoss nur so in Wellen durch meinen Körper. Du musst Dich unbedingt beruhigen, schoss es mir durch den Kopf. Du musst in Ruhe mit ihm reden: Sonst hast du überhaupt keine Möglichkeit mehr, eine neutrale Gesprächsbasis und damit ein gutes Ende dieses Telefonats

zu finden. Gerade als ich noch einmal ansetzen und ihn in versöhnlicheren Ton um eine letzte Chance unter Freunden bitten wollte – ja ihm versprechen wollte, dass er ab jetzt wirklich mit mir rechnen konnte – nahm er mir das Wort aus dem Mund. „Du irrst Dich Dale. Ich habe ihn schon.“ Ich starrte verblüfft an die allmählich verblassende kackbraune Tapete meines Schlafzimmers. „Wen hast du schon?“ „Michael“. Ich musste unwillkürlich lachen. Das war wirklich nicht zu glauben.

„Michael? Diese Schnarchnase? Der wittert ja noch nicht mal eine Story, wenn sie ihm auf dem Silbertablett serviert wird! Das kannst du doch nicht ernst meinen!“ Sam ließ sich Zeit für seine Antwort. „Und ob ich das ernst meine.“ Dann räusperte er sich und setzte einen versöhnlicheren Ton an. Weißt du was, mein Freund? Ich wünsche dir alles Gute. Ich hoffe für Dich, dass du Dich in

nicht allzu ferner Zukunft wieder einkriegst. Grundsätzlich bist du ja ein guter Kerl aber du hast ein echtes Problem mit dir selbst. Wenn du meinen Rat hören willst: Geh mal zum Onkel Doc. Ruh Dich aus. Komm runter. Du bist ja sogar jetzt schon wieder besoffen. Um elf Uhr morgens. So kannst du nicht arbeiten. Zumindest nicht mehr für mich. Machs gut Kumpel. Und pass auf Dich auf.“ Als ich das Freizeichen hörte konnte ich es nicht glauben. Mein langjähriger Freund und Chef hatte mich gefeuert und aufgelegt. Einfach so.

Ich schmiss mich auf mein Bett und fixierte die Decke. So beschissen hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Was war nur los? Wieso lief plötzlich alles so schief? Wann – oder besser – wo war ich so aus der Bahn geraten, dass ich jetzt auch noch meinen Job verloren hatte? Ich überlegte. Früher hätte mich so etwas kalt gelassen. Jobs. Weiber. Liebschaften. Mein Gott, sie gehörten zum Leben. Waren so genussvoll wie ein Glas Wein, aber nicht mehr. Nie mehr. Wieso verdammt nun hatte sich alles um 180 Grad gedreht? Ich schüttelte den Kopf. Bemerkte die leere Weinflasche neben meinem Bett. Die leeren Weinflaschen neben meinem Bett. Wütend stieß ich mit dem Fuß dagegen, so dass sie klirrend durch den Raum rollten und gegen die Wand knallten. Es musste aufhören, ich musste aufhören! Ich durfte nicht mehr so viel trinken! Das machte mich kaputt! Es

veränderte mich. Machte einen anderen Menschen aus mir. Ich wollte von vorne anfangen. Aber was hieß das? Hieß das, dass ich die Stadt verlassen musste, um ein neues Leben anzupacken, ohne mir ständig die Birne zuzubrennen? Hieß das weiterhin, kleine Affärchen haben ohne feste Bindung? Oder endlich mal Nägel mit Köpfen machen; einen Roman schreiben; besser spät als nie Familie gründen; die Sache mit der eigenen Familie bereinigen und Susannah als Schwägerin akzeptieren (bei diesem Gedanken drehte sich mir nach wie vor der Magen um)? Die Fragen überforderten mich. Mein scheiß Verstand überforderte mich! Ich wollte meine Ruhe! Nichts mehr denken! Cut! Aber nichts geschah. Ruhelos wälzte ich mich auf die andere Seite meines Bettes. Die abgenutzte Wand, die ich nun anstarrte, brachte auch keine Lösung. Vielleicht war es wirklich eine gute Möglichkeit, die Stadt zu verlassen und Abstand zu gewinnen. Ich könnte diesen Roman schreiben, mit dem ich mich schon seit Jahrzehnten beschäftigen wollte. Aber war meine Schreibe dazu überhaupt gut genug? Hatte ich so viel Grips, um Sätze zu formulieren, die aus meinem Innersten kamen? Würde sich überhaupt jemand dafür interessieren, was ich schrieb? Grundsätzlich fand ich

es einfach, über ein vorgegebenes Thema zu schreiben. Eine eigens ausgedachte Geschichte zu schreiben, dürfte mühsamer sein. Schriftsteller saßen dafür manchmal Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, in ihrem Kämmerchen und hackten sich die Finger wund. Und das ohne Erfolgsgarantie. Ich hingegen hatte nicht einmal die Geduld, an einem Artikel länger als zwei Tage zu feilen. Wenn ich ihn dann nicht abgeben konnte, änderte ich ihn bis zum Umfallen, weil er nicht perfekt war (bei der Gelegenheit fiel mir wieder ein, dass ich gerade meinen Job verloren hatte) oder löschte ihn. Ich selbst war mein schärfster Kritiker. Und ich wollte das schnelle Geld. Das war schließlich auch nicht zu vergessen. Wovon sollte ich leben bis dahin? Meine Stirn runzelte sich. Und wohin sollte

ich eigentlich abhauen? Wollte ich überhaupt gehen? Und welche Rolle spielten dabei Susannah und mein Bruder? Ach, vergiss die beiden doch endlich!, tobte es wütend in meinem Kopf. Und ich gab der Stimme in meinem Inneren Recht: Ich musste jetzt auf mich schauen – ohne Rücksicht auf Verluste. Schließlich war ich jetzt vogelfrei – ohne Job und Frau – was konnte es denn schließlich Besseres geben? Doch so ganz wohl fühlte ich mich bei dem Gedanken nicht. Trotzdem erschien

mir die Idee, abzuhauen und mich ab sofort komplett meiner Schriftstellerkarriere zu widmen, als die einzig Richtige. Der Zeiger der großen Standuhr neben meinem Bett rückte schließlich schon

auf drei Uhr morgens vor, als ich beschloss, mir noch einmal eine letzte Flasche Chianti zu genehmigen. Zur Feier des Tages. Irgendwie musste dieser Entschluss ja gefeiert werden.

Am Morgen schlug ich die Augen auf und war jedoch wider Erwarten immer noch ganz unten. Dies lag heute aber nicht unwesentlich daran, dass sich mein sonst so zuverlässiger Körper anfühlte, als sei er durch den Mixer gedreht: Steife Glieder und rasende Kopfschmerzen direkt über dem rechten Auge plagten mich. Wohl das Vermächtnis meines gestrigen Alkoholkonsums. Die letzte Flasche war wohl doch zuviel gewesen. Wo hatte ich nur die verdammten Aspirin? Normalerweise schmiss ich sie immer gleich zusammen mit dem Alk ein, damit der Kater am nächsten Tag nicht so wild ausfiel. Jetzt aber erinnerte ich mich dumpf, dass ich gar keine mehr zu Hause hatte. Auf dem Nachtkästchen neben meinem Bett lag das Telefon und starrte mich anklagend an. Ich wusste, dass ich es heute noch benutzen und meinen Bruder endlich würde anrufen müssen. Abwehrend stöhnte ich und hielt mir den Kopf. Auf ausufernde Problemgespräche hatte ich eigentlich keinen Bock, würde aber wahrscheinlich nicht darum herum kommen. Jetzt aber musste ich aber erst einmal aufs Klo. Tief atmete ich durch und zwang mich auf die Beine. Dort jedoch kam ich mir vor wie in einem Karussell auf dem Jahrmarkt – alles drehte sich. Mann, war das heute ein fetter Kater! Unerwartet spürte ich ein flaues Gefühl in meinem Magen, dann schoss etwas Bitteres auch schon die Kehle hoch. So schnell es ging, stolperte ich ins Bad und erbrach mich in einer Fontäne in das schon seit Wochen ungeputzte Klo. Es dauerte fast eine Stunde, bis mein Körper nichts mehr ausschied. Ich stöhnte vor Erschöpfung und hielt mir den mittlerweile noch mehr dröhnenden Kopf, der Schweiß bahnte sich in Bächen seinen Weg über meinen Körper. Das gab es doch nicht! So beschissen wie heute hatte ich mich wirklich schon lange nicht mehr gefühlt. Vom Kotzen erschöpft ließ ich mich auf die kalten Fließen fallen, von wo ich auch augenblicklich wegdämmerte. Ich träumte wirr; verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Irgendwann bemerkte ich, dass ich unbequem lag und mir das Bein abschnürte, aber ich hatte null Energie, um etwas dagegen zu tun. Von der Ferne drang lautes Klopfen in mein Bewusstsein. Zunächst baute ich es in meinem Traum ein, dann aber erkannte ich, dass offensichtlich jemand wie besessen an meine Wohnungstür hämmerte.

„Dale, bist du da? Mach endlich auf! Ich mache mir Sorgen um Dich!“ Ich nahm die Stimme nur verzerrt wahr und doch erkannte ich sie. Es war Robert. Er war also gekommen, um mit mir zu sprechen. Mein liebender, treu sorgender Bruder stand da draußen und wollte mit mir reden. Der Mann, der meine Liebe fickte. Ich lachte bitter auf. Was war die Welt nicht ironisch? „Wenn du jetzt nicht gleich aufmachst, trete ich die Tür ein!“ brüllte er. „Nein, tu´s nicht, ich komme ja schon…“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihm und versuchte, mich in Richtung Tür zu bewegen. Er aber hörte mich nicht und brüllte weiter das ganze Treppenhaus zusammen. Nimm Dich zusammen, Dale, redete ich auf mich ein und kroch schwerfällig auf den Eingang zu. Ich versuchte, mich hochzuhieven, doch das war schwieriger, als ich dachte. Irgendetwas stimmte nicht. Es war nicht nur das kribbelnde Bein. Nein – es war etwas anderes. Ich fühlte mich wie ein Hundertjähriger mit Gicht. Bekackt und beschissen. Endlich kam die Tür in Griffweite. Meine zitternde Hand drehte mit letzter Kraft den Türknauf nach rechts und als hätte er nur darauf gewartet, stemmte sich Robert von Außen dagegen. Wie ein nasser Sack fiel ich hinter der Tür zu Boden, als er sich nun mit Gewalt Zutritt zu meiner Wohnung verschaffte. Sofort stürzte er zu mir. Sein Gesicht sah besorgt aus. Ich wollte ihn beruhigen, ihm sagen, dass alles in Ordnung war, konnte jedoch die Augen nicht lange genug aufhalten, um mit ihm zu sprechen. Alles verschwamm nun zu einem einzigen Brei. „Dale, was um Gottes Willen ist mit dir los?!“, schrie Robert. „du bist ja völlig am Ende!“. Ich murmelte beschwichtigend in die Schwärze, hinter der ich meinen Bruder vermutete. „Nein…nein, sieht…

schlimmer aus… als… es ist. Mach dir keine Sorg………“. Das war das letzte, was ich von mir geben konnte. Dann verschluckte mich die Dunkelheit.

Als ich erwachte, lag ich in einem Krankenhausbett. In der Vene meines rechten Armes steckte eine grobe Nadel, durch die sich eine durchsichtige Flüssigkeit den Weg in meinen Körper bahnte. Sie hatten mir ein unbequem starres Nachthemd angezogen und meinen Körper bis oben hin zugedeckt. Ich fühlte mich mies, aber so mies wie vorhin ging es mir nicht mehr. Offensichtlich hatte ich den Wein nicht vertragen. Der viele Alk, das wenige Essen – eine Kombination, die mir wohl endgültig den Rest gegeben hatte. Schläfrig drehte ich den Kopf nach links. Erst jetzt bemerkte ich, dass neben mir jemand saß. Mein Bruder. Er schien zu dösen. Selbst in diesem Zustand war sein Gesicht noch angespannt. Als ich ihn musterte, dämmerte es plötzlich wieder. Der Jobverlust, Susannah, das neue Leben, das ich beginnen wollte. Tränen der Wut schossen in meine Augen und ich schämte mich. Was zur Hölle sollte ich meinem Bruder sagen, wenn er aufwachte? Etwa, dass ich Alkoholiker war? War ich das überhaupt? Nervös kratzte ich mir die Stirn, sie fühlte sich heiß an. Ich wusste es nicht mit Bestimmtheit. Aber ich vermutete es. Die Flaschen in meiner Wohnung waren mittlerweile einfach zu viel für ein normales Feierabendmaß. Robert schlug die Augen auf. Als er bemerkte, dass ich wach war, sprang er sofort auf. „Dale! Mensch! du bist ja wach! Wie geht es dir?“, krächzte er noch etwas heiser vom Schlaf. Ich sagte nichts, sondern blinzelte nur. Ich war gerührt von seiner Führsorge. Anscheinend hatte er hier die ganze Zeit gesessen, so verknittert wie

seine Kleidung aussah. Robert beugte sich über mich und drückte meinen Arm. „Du hast uns aber vielleicht einen Schrecken eingejagt – weißt du das eigentlich?“. Ich nickte, unfähig, dazu etwas zu sagen. Mittlerweile hatte sich ein riesiger Kloß in meinem Hals gebildet und ich befürchtete, beim ersten Wort die Beherrschung zu verlieren und vor meinem Bruder in Tränen auszubrechen. Besorgt runzelte dieser die Stirn – an diesem Tag sah er wirklich ein paar Jährchen älter aus als sonst. „Du hast sicher mitbekommen, dass du eine Alkoholvergiftung hattest…“ Ich nickte. So etwas Ähnliches hatte ich mir bereits gedacht. „Mit über drei Promille im Blut hätte das tödlich enden können…“, fuhr er fort. „Sie haben dich sofort auf die Intensivstation gebracht und dir mehrere Infusionen zum Verdünnen des Blutalkohols gegeben. „Das hier…“ – er blickte vorwurfsvoll auf die die Flasche mit der durchsichtigen Flüssigkeit direkt über uns – „…ist übrigens auch eine.“ Ich schwieg betreten.

„Du bist schon drei Tage hier. Es war verdammt knapp.“ Ich schloss die Augen. Konnte das wirklich wahr sein? War ich tatsächlich so kurz vor dem Abnippeln gewesen? Seltsam. Am Abend zuvor hatte ich es doch sogar noch selbst gewollt. Jetzt aber war ich fast froh, noch am Leben zu sein. Robert ließ sich langsam wieder auf den Stuhl zurück gleiten. „Sag mal, willst du mir jetzt nicht endlich sagen, was mit dir los ist? Wieso konnte ich dich über Tage nicht erreichen? Warum hast du bei dem Treffen so komisch reagiert? Irgendetwas passt doch nicht.“ Ich wusste, dass jetzt der Punkt gekommen war, an dem ich Farbe bekennen musste, er würde keine weiteren Ausreden mehr dulden. Also entschloss ich mich für einen Teil der Wahrheit. Den Teil, der ihn nicht verletzen

würde. „Also gut Rob…“, seufzte ich. „Ich erzähle es dir.“ Erwartungsvoll sah mich mein Bruder an. Ich schloss die Augen, wollte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, wenn er es erfuhr und ich in seiner Wertigkeit wieder absinken würde. „Sam hat mich gefeuert! Schon vor ein paar Tagen. Das

ist es, was mich belastet.“ Robert schnaubte. „Und deswegen hast du Dich fast zu Tode gesoffen? Dale, verdammt! Das ist doch hirnverbrannt! Das ist nur ein Job!“ „Ja! Ein Job, der immerhin meine Miete bezahlt und mich über Wasser hält“, fuhr ich ihn an. „Ich brauche ihn! Du weißt, dass ich keine großen Ersparnisse habe. Nicht so wie du. Es hat ja nicht jeder so leicht im Leben wie mein Bruder, der Anwalt.“ „Hey!“, winkte er ab und stand abrupt auf. „Jetzt komm mir nicht so! Ich

muss ganz genauso für mein Geld arbeiten wie du! Nur gebe ich es eben nicht für meinen Suff aus!“ Ich erwiderte nichts. Er hatte ja Recht. Wir schwiegen betreten. „Und warum hat er Dich gefeuert?“, wollte Robert wissen. „Ihr ward doch immer so gut befreundet?“ „Weil ich einen Abgabetermin verpasst habe.“, knirschte ich. „Einen einzigen beschissenen Termin.“ Robert kniff die Augen zusammen und sog die Luft durch die Zähne. „Wegen einem Termin? Oh Mann. Das ist hart. Das ist echt hart. Das gebe ich zu.“ Ich nickte, wieder fühlte ich, wie meine Augenwinkel feucht wurden. Wann genau war ich eigentlich so eine verdammte Heulsuse geworden? Zitternd fuhr meine linke Hand über die Augen, damit er es nicht sah. Er trat wieder näher an mein Bett heran. „Dale. Du weißt, wie ich zu dem Thema Alkohol stehe. Ich habe dir das auch schon öfters gesagt, dass du dich schon allein aufgrund Deiner Arbeit zusammenreißen müsstest. Jetzt hast du wohl dafür wohl die endgültige Quittung bekommen. Oder warum hast du diesen Termin sonst verpasst, wenn nicht deswegen?“ Auffordernd sah er mich an. Ich hob hilflos die Schultern. Was sollte ich auch sonst

tun? Er kannte mich zu gut. Trotzdem musste ich ihm nicht auch noch die Genugtuung geben, es offen auszusprechen. „Und denkst du nicht, dass er dir noch einmal eine letzte Chance gibt?“ Entschieden verneinte ich. Robert sah durch mich hindurch. Schien zu überlegen. Um den peinlichen Moment zu überspielen und von mir abzulenken, räusperte ich mich und fragte nach Susannah. Sofort kehrte das Strahlen in seine angespannte Mimik zurück. „Oh, danke der Nachfrage. Es geht ihr gut! Die Heirat ist ja schon nächsten Samstag. Sie ist schon sehr aufgeregt. Ich glaube, das Kleid hat sie schon fünfmal aus- und wieder angezogen, damit es auch ja richtig sitzt. Sie isst nur noch Salat. Alles andere könnte ja dick machen.“ Seine Worte trafen mich ins Herz und sofort verfluchte ich es, überhaupt mit dem Thema angefangen zu haben. Robert guckte verklärt, dann ging er zum Fenster. Mit dem Rücken zu mir gewandt fuhr er fort. „Weißt du, wir hoffen wirklich beide, dass du nächste Woche bei unserer Hochzeit dabei sein kannst. Das wäre uns wichtig.“ Alles in mir verkrampfte sich. Ich wusste ganz genau, was er nun von mir hören wollte. Aber das zumindest war ich ihm wahrscheinlich schuldig, nachdem er mir das Leben gerettet hatte.

„Also gut…“, seufzte ich. „Ich weiß zwar nicht, wie es mir in einer Woche geht… Aber wenn es gesundheitlich passt, bin ich natürlich bei Eurer Hochzeit dabei.“ Ich hätte würgen können, als ich die Worte aussprach – trotzdem hatte ich keine Wahl. Und vielleicht würde ich ja irgendwann wirklich mit der Situation umgehen können. „Das ist schön!“, stieß Robert aus und drehte sich wieder zu mir um. „Das bedeutet mir sehr viel. Und wegen Deiner Probleme: Wir finden eine Lösung, das verspreche ich dir.“ „Ach ja? Und welche?“, erwiderte ich skeptisch. „Am Besten, du ziehst zuerst einmal zu uns…“, schlug er vor. „Wie bitte?“ Mir blieb fast die Spucke weg. „Wie zur Hölle meinst du das?“ „Na, das ist doch ganz klar!“, grinste mein Bruder. „Du wohnst erst einmal übergangsweise erstmal bei uns. Was sagst du dazu? Das ist doch die perfekte Lösung! Und die

Miete für deine Wohnung lege ich dir für diese Zeit einfach aus – dann bist du zumindest schon einmal von diesem Druck befreit. Du weiß ja, ich habe ein großes Haus und einen riesigen Garten. Dort könntest du vielleicht wieder etwas Ruhe finden und dir klar werden, was du eigentlich willst. Was hältst du davon?“ Ich musterte ihn. Er hatte wirklich nicht die geringste Ahnung, was er mir da gerade anbot. Trotzdem war mir klar, dass mir das Alleinsein im Moment nicht gut tat. Zu groß war die Gefahr, mich wieder zuzuschütten. Und vielleicht war es ja wirklich die Chance auf eine Kehrtwendung? Ein neues, besseres Leben. Die Aussicht war verlockend. „Ich weiß nicht, ob ich das so einfach annehmen kann“, gab ich zu bedenken. „Und ob das deiner Frau passt, auch nicht…“„Glaub mir, Susannah hat nichts dagegen…“, wischte Robert meine Bedenken mit einer abwertenden Handbewegung weg. „Und überhaupt: Du bist doch schließlich mein Bruder! Wenn ich dir helfen kann, dann tue ich das!“, antwortete mein Bruder überzeugt, fügte aber dann noch hinzu: „Aber trotzdem, eine Bedingung habe ich: Falls du wirklich bei uns einziehst, trinkst du keinen Tropfen Alkohol mehr. Ist das klar? Sonst kannst du gleich wieder gehen. Du willst doch von dem Teufelszeug loskommen oder nicht?“ Forschend hob er die rechte Augenbraue und fixierte mich mit seinen tiefblauen Augen. Beinahe hätte ich aufgelacht. Natürlich hatte ich den Willen! Ich wollte trocken sein! Ich wollte einen Roman schreiben und ich wollte verdammt noch einmal damit klarkommen, dass mein Bruder mit der Frau, die ich liebte, zusammen war! Und das konnte ich höchstwahrscheinlich nur, wenn ich mich der Situation stellte – eine gewisse Art von Aversionstherapie sozusagen. Also rang ich mir die Worte ab, die er so dringend von mir hören wollte. „Ja, das möchte ich. Definitiv. Und deswegen nehme ich Dein Angebot auch an.