Internetbuch durchschnittlich

 

Willkommen bei unserer neuesten Idee, einem kostenlosen Buch, dessen Teile ihr zu einem Ganzen zusammenfügen könnt.

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Für alle die nicht mehr suchen möchten

durchschnittlich, das Leben ist wohl so. Das ist so in der heutigen Gesellschaft, ein Normalzustand.

Eigentlich habe ich es im Leben gar nicht so schlecht getroffen. Ich bin in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, habe mich dann aber hochgearbeitet und erhielt mit 28 den Doktortitel. Einige Frauen wollten auch schon irgendwas von mir. Meistens habe ich es nicht verstanden oder gedacht, dass sie sich nur lustig über mich machen. Nein, eigentlich habe ich im Leben einen Joker gezogen. Ich habe einige Minderwertigkeitskomplexe, aber die haben mich schließlich zu dem gemacht, was ich heute bin. Zwischendurch habe ich etwas depressive Züge, ein paar harmlose Selbstmordgedanken, aber sonst darf ich mich nicht beklagen, ich leide ebenfalls nur durchschnittlich´, denkt er.

Er steht auf und geht. Was natürlich niemanden interessiert, und das soll auch so sein.

Am Ende vom Studium fing ich, von meiner neuen Einsicht ein Einzelgänger sein zu dürfen motiviert, mit Sprachreisen an. Ich bin zwar eine Pfeife in Englisch, aber man kann ja schließlich etwas dagegen unternehmen. Ich habe mich für sechs Wochen New York entschieden. Das war das erste Mal alleine im Ausland.

Gewohnt habe ich bei einer rund 60-jährigen Dame. Erstaunlicherweise waren wir auf derselben Wellenlänge. Ein Volltreffer, was mir erst später bewusst wurde, als ich bei anderen Sprachaufenthalten etwas weniger Glück mit der Gastfamilie hatte. Die Vermieterin nahm sich jeden Morgen eine halbe Stunde Zeit für mich. Sie unterhielt mich mit ihrem schwarzen Humor und ich berichtete von meinen Abstürzen vom Vorabend.

Die Sprachschule war ebenfalls ein positives Erlebnis. Leute aus der ganzen Welt kamen hier mit dem gleichen Ziel zusammen. Sie kamen von Polen, der Elfenbeinküste, Frankreich, Rumänien, Japan und leider auch massenweise aus der Schweiz. Besonders interessant fand ich die Diskussionen über irgendwelche Themen, wir nannten es später inoffiziell ´the tea hour´, und die verschiedenen Ansichten der verschiedenen Leute, mit verschieden großen Brüsten.

Es war zudem spannend zu beobachten, wie schüchtern und unsicher Menschen sind. Die meisten sind alleine angereist. Scheinbar unterscheiden sich die Menschen gar nicht so sehr voneinander. Wir haben alle Ängste in neuen Situationen, und das macht uns sympathisch. Die Leute machen noch keine dummen Sprüche auf Kosten von anderen, weil sie noch niemanden haben, der ihnen Rückhalt gibt. Sie können ihre Ängste noch nicht hinter einer großen Klappe verbergen. Man braucht vor ihnen keine Angst zu haben, sie sind alle noch harmlos und gut.

Die Menschen scheinen wirklich erst in Gruppen unerträglich zu werden. Die scheiß Gruppen verändern das Verhalten und bringen unsere schlechten Charaktereigenschaften zum Vorschein. Sie verändern den Menschen in einer extrem negativen Weise.

Zu meinem Erstaunen war ich in der Sprachgruppe beliebt.

Und die größte Überraschung war, dass ich in Englisch gar nicht so eine Pfeife bin, wie ich immer dachte. Die Vermieterin hat zu mir gesagt, dass ich von allen ihren Bewohnern am meisten Fortschritte gemacht habe. Dass sich mein Niveau im Vergleich zum bescheidenen Niveau der ersten Woche extrem gesteigert hat.

´Ja, wenn erst mal die Hemmungen überwunden sind, dann läuft es´, dachte ich.

Vom Schulenglisch war überhaupt nichts mehr vorhanden. Die meisten Englischregeln waren völlig neu für mich. Obwohl wir sie vermutlich im Gymnasium schon durchgeackert hatten. Scheinbar hat mich die Angst im Gymnasium mehr blockiert, als ich bis dahin vermutet hatte.

Im Großen und Ganzen eine absolut positive Erfahrung, die sechs Wochen New York. Aber am meisten hat mich gefreut, dass ich scheinbar ohne Probleme alleine im Ausland existieren kann. Ich brauche nicht wirklich jemanden. Etwas, was ich mir später im Leben noch zunutze machen werde.

Er schlendert durch die Rue Saint-André des Arts weiter durch das Quartier Latin, beziehungsweise durch das, was vom großen Namen noch übrig geblieben ist. Nämlich hauptsächlich Fast Food Läden, Pubs, Ramschläden, vom Charme als Hemingway, Fitzgerald, Joyce und Co hier noch gesoffen haben ist vermutlich wenig übrig geblieben. Nur noch eine billige Touristenabzocke mit einem großen, längst verblassten Namen. Und vermutlich hatten es die Schriftsteller vor rund 60 Jahren auch nicht wirklich witzig hier. Auch die litten mindestens durchschnittlich. Ihre größte Motivation zum Schreiben war oft ihre Geldnot.

Beim nächsten Platz biegt er nach links ab und trifft wieder auf den Boulevard Saint-Germain, dem er bis zum Place Saint-Germain-des-Prés folgt. Hier stehen laut Reiseführer zwei Lieblingsbistros von Hemingway und Co rum, nämlich das Café Flore und gegenüber die Brasserie Lipp. Sie sticht dank dem dunkelbraunen Holzton und der knallorangen Sonnenstore zwischen den restlichen grauen Steingebäuden ins Auge. Zusätzlich ist die Brasserie unübersehbar mehrere Male mit großen roten und orangen Buchstaben beschriftet.

´Ein geiles Puff würde in ähnlicher Weise auf sich aufmerksam machen´, denkt er.

Er beschlagnahmt einen Tisch im Wintergarten. Der Kellner behandelt ihn wie einen Gast. Das ist ihm immer etwas unangenehm, ernst genommen zu werden. Das ist ihm zu spießig, zu nobel. Und es entspricht nicht wirklich seinem Selbstvertrauensstatus. Er steht dann unter Druck, sich rollenkonform zu verhalten, so wie es der Kellner vorgibt. Und Druck kann er nicht ausstehen.

´Können die nicht einfach fragen: „He ciao, was du wollen trinken?“

Sehen die nicht, dass ich eine verdammte Pfeife bin?´, denkt er.

Er hat oft das Gefühl, dass er seinem Status entsprechend gar kein Recht hat, ein Restaurant zu betreten. Er vermutet, dass er wieder herausgeschickt wird. Er ist doch nur ein billiger Niemand. Hat weder den Nobelpreis noch den Oscar gewonnen. Und auch wenn es so wäre, an seiner inneren Versagereinstellung würde das auch nicht viel ändern.

Er bekommt sein Bier, das anderthalb Mal so teuer ist wie das Fast Food Menu von vorher.

Egal, er trinkt es trotzdem. Dazu führt er einige Notizen nach und schreibt einige Sätze zu seinen neusten Fotos. Nach einer halben Stunde zahlt er und verlässt das Lokal Richtung Métrostation Saint-Germain-des-Prés.

LE MARAIS

Bei der Station Saint-Germain-des-Prés steigt er in die Linie 4 und fährt Richtung Norden bis Châtelet, wo er auf die 1 Richtung Château de Vincennes umsteigt.

Ein farbiger Typ steht am Ende vom Abteil und versucht zu lauter Musik, die aus seinem überdimensionalen Ghettoblaster dröhnt, zu rappen. Seine Gesten sind total übermotiviert, er scheint um sein Überleben zu rappen, oder zumindest will er, dass ihm auch wirklich jeder Geld gibt.

Drei irre Typen stehen ein paar Schritte daneben und amüsieren sich köstlich über ihn. Sie ahmen seine Gesten nach und geben zum Rhythmus der Musik mit den Armen eine Wellenbewegung weiter. Der Farbige bemerkt sie, fasst ihr Verhalten aber als bewundernde Nachahmung auf, weniger als Ironisierung, und wird dadurch noch motivierter und zieht sein nächstes Ass aus dem Ärmel; Robotterschritte. Auch dabei ist er völlig von sich überzeugt, die Schritte sehen leider nur billig aus.

Viele der Mitfahrer geben ihre Schutzmechanismen auf und beobachten die vier Typen mit einem Schmunzeln. Sie schielen durch ihre Sonnenbrillen, heben ihre Blicke von den Handys, betrachten die Spiegelbilder der vier Antihelden in den Fenstern oder stellen ihre Musik-Player leiser. Sie entblößen sich nur ganz vorsichtig, damit sie sich bei Gefahr sofort wieder abschirmen können.

Bei der nächsten Haltestation steigen weitere Menschen ein, und eine Gruppe täuscht knallhart vor, den Rappertypen nicht zu bemerken. Er lässt sich das so nicht gefallen. Der Typ ist vermutlich neu in der Stadt, noch nicht oft enttäuscht worden, und er läuft ihnen ein Stück nach und rappt sie penetrant von hinten an.

Ein Grund mehr für die drei Typen, ihn auszulachen. Der Hauptdarsteller schmunzelt auch etwas über das Groteske seiner Situation, gibt dann zum Schluss aber noch mal alles bei einer Tanzeinlage, wo er sich als Höhepunkt auf den Boden wirft. Nach dem Motto: Schaut mal, das habe ich auch noch drauf!

Die Tanzeinlage ist leider genauso scheiße wie seine Rappkünste. Er steht auf und hetzt voller Enthusiasmus mit ausgestreckter Mütze durchs Abteil. Den Fahrgästen ist das Schmunzeln schlagartig vergangen, die Musik-Player laufen wieder auf voller Leistung, als hätten sie nichts mitgekriegt. Kein Scheißer gibt ihm was.

Man sieht dem Typen seine zunehmende Erregung an. Verdammt, er rappt und tanzt hier um sein Leben und er bekommt nicht mal einen Cent?

Er findet einige Cents in seinem Portemonnaie.

´Die Pfeife kann zwar nichts, aber immerhin war er lustig, hat hier einen auf Clown gemacht´, denkt er.

Seine kleine Spende scheint den Typen wieder etwas zu beruhigen, sonst hätte er wohlmöglich gleich losgeschrien.

Er selbst verlässt die Métro bei der Station Saint-Paul, im Herzen von Le Marais.

Le Marais heißt so viel wie Sumpf, verrät ihm sein billiger Reiseführer, was das Gebiet ursprünglich war. Dann wurde es bevorzugtes Wohngebiet der Adeligen, welche im 17. Jahrhundert viele Paläste errichteten. Ihr Interesse ging jedoch zurück und so ließen sie die Paläste nach und nach wieder zerfallen. Erst in den 1970/80er Jahren wurden die Gay-Szene, flippige Modemacher und trendige Yuppies auf die Gemäuer aufmerksam und es ging wieder bergauf mit Le Marais. Die meisten Paläste wurden saniert und das Gebiet besteht heute aus vielen ausgefallenen Designerläden, Museen und einer kleinen jüdischen Gemeinde.

Er läuft von Saint-Paul wieder in Richtung Westen mit dem Ziel, einige Plätze zu finden, welche sie während einer Führung in seinem Sprachaufenthalt besucht haben. Er erinnert sich vage an eine Straße, die noch weitestgehend in ihrem ursprünglichen Stil erhalten war, ganz aus Pflastersteinen gefertigt. Wo einige Fenster und Türen oben in einem Bogen ausliefen und die Hausfassaden, Vorplätze und Gehwege aus großen Steinen gefertigt waren. Eine 30 minütige Suche nach dieser Straße südlich der Rue Franҫois Miron bleibt jedoch erfolglos.

Er kehrt zur Métrostation zurück und versucht es mit der Rue de Prévôt, Prévot oder Prevôt, die Schilder in dieser Straße, wie allgemein in Paris, sind da sehr tolerant. Aber auch die weitere Suche im Südosten der Station Saint-Paul bringt ihn nicht weiter. Somit bleibt nur noch mehr oder weniger der Nordwesten übrig. Also läuft er auf der Rue Saint-Antoine wieder Richtung Saint-Paul, eine Rechtswende auf die Rue de Turenne scheint ihm vielversprechend. Doch dummerweise findet er nur, was er den Tag zuvor suchte, den Place des Vosges.

Also geht er doch wieder zurück auf die Rue Saint-Antoine und biegt die nächste wieder rechts ab, bis er nach einigem Herumirren die Rue de Francs Burgeois aufstöbert. Sie zeigt einige Innenhöfe, die sie möglicherweise einige Jahre zuvor in der Führung besucht haben. Irgendwo entdeckt er auch das Centre Culture Suisse, wo in einigen Gebäuden die Fläche des Obergeschosses größer ist als diejenige des Erdgeschosses. Die Steuerabgaben waren früher von der Hausgrundfläche abhängig, daher hat man im ersten Stock die Wohnfläche vergrößert. Das ist zwar immer noch nicht ganz das, was er gesucht hatte, das ist ihm jedoch mittlerweile egal.

Im Laufe meines Studiums wurde mir dank der Satzergänzungsübung immer bewusster, dass ich nicht wirklich der Gruppentyp bin. Im Gegenteil, ich leide geradezu unter und in ihnen. Weiter musste ich mir eingestehen, dass mein krankhaftes Üben auf dem Instrument nur eine Folge meiner Minderwertigkeitskomplexe und gleichzeitig eine Suche nach Anerkennung des Vaters war. Meine Übungszeit ist zwar während dem Studium drastisch zurückgegangen, ich war aber immer noch in der Brass Band, dem Heiligtum meines Vaters. Erst nach dem Abschluss meines Studiums hatte ich so viel Distanz, um die Musik an den Nagel zu hängen, ohne ein allzu schlechtes Gewissen gegenüber meinem Vater zu haben.

Der Austritt aus der Brass Band und Rückgabe des Instruments waren gleichbedeutend wie die Lösung von jeglichem Einfluss meines Vaters, um endlich das zu machen, was ich wirklich will. Dazu kam, dass ich das Pendeln zwischen Zürich und meinem Zuhause satt hatte, ich wollte nicht jedes Wochenende nach Hause, um in einer Gruppe an einer Probe teilzunehmen. Die Zeit fehlte mir zudem ebenfalls, um genügend zu üben, um meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, sodass ich mit meiner Leistung nicht mehr zufrieden war. Das hat sich nicht mit meiner Philosophie vertragen, etwas richtig zu machen oder gar nicht, egal ob etwas Negatives, beispielsweise Saufen, oder etwas Positives. Und in einem zweitklassigen Musikverein zu vergammeln, das war meiner Meinung nach nichts Richtiges. Das waren genügend Gründe, um ein dezentes Austrittsschreiben zu verfassen.

Zusätzlich war ich noch in einem etwas größeren zweiten Verein, in den ich hineingezwängt worden war: Die Katholische Kirche. Als Kind, ohne eigenen Orientierungssinn wurde mir die Religion aufgezwängt. Ich wurde einer Gehirnwäsche unterzogen mit Religionsunterricht, aufgezwungenen Kirchengängen, der Erstkommunion und der Firmung. Man gilt geradezu als Außenseiter und wird als Kind angeklagt, wenn man das Theater nicht mitmacht. Ich frage mich, wieso einem die Religion als Kind aufgedrängt werden muss? Wenn etwas Wahres daran wäre, dann würde man automatisch früher oder später selber dazu finden. Dann müssten einem die Erwachsenen nicht am Sonntagmorgen in die Kirche schleppen, wenn man eigentlich besseres zu tun hätte, wie beispielsweise den Rausch vom Vorabend auszuschlafen und eine Runde aus dem Fenster zu kotzen.