Internetbuch Nachhausefahrt

 

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NACHHAUSEFAHRT

´Tschau Paris, du arrogante, einsame Schlampe! Du überfüllte, anonyme Menschenmenge, Stadt der Buchläden, viereckigen Bäume, verrückter Métroleute und Kopfsteinwege´, denkt er.

Er sitzt wieder in einem verblassten, cremefarbenen, grau-grünen Sessel. Er fühlt sich neutral. Auch Ferien sind nicht wirklich witzig. Freiheit bedeutet Einsamkeit und bringt die Qual mit sich, Entscheidungen treffen zu müssen. Nach spätestens einer Woche wird es ihm langweilig und er freut sich auf die Rituale zu Hause wie MTV schauen oder einige Internetseiten zu checken.

Andere Leute sitzen im Waggon, die meisten ebenfalls in Fahrtrichtung und er kann jeglichen Kontakt vermeiden. Das ist gut so. Es wäre wirklich unangenehm, falls ihn hier jemand kennen würde und er sechs Stunden lang reden müsste.

Auf der linken Gangseite sitzen zwei junge Frauen um die zwanzig. Sie reden in einem St. Galler-Dialekt vor sich hin.

Im Viererabteil diagonal gegenüber sitzt eine junge Familie inklusive Eltern und zwei Kindern. Die zwei Mädchen sind vielleicht fünf und sieben Jahre alt. Der Vater, vermutlich in einer Kaderposition, ist schlank mit frischem Haarschnitt und er trägt eine dieser Brillen mit großen schwarzen Rändern, die Charakterstärke und Selbstvertrauen ausstrahlt. Seine Frau, recht hübsch, ist einen Kopf kleiner und sitzt ihm direkt gegenüber. Ihr Blick kreuzt sich von Zeit zu Zeit mit dem Blick ihres Mannes. Sie scheinen sich nach all diesen Jahren immer noch zu mögen. Die zwei Mädchen befinden sich auf der Gangseite. Das ältere sitzt zivilisiert auf dem Sessel; die Eltern scheinen ihren Kindern Benehmen und Werte zu vermitteln. Die Aufmerksamkeit der ganzen Familie richtet sich zum kleinen Mädchen hin, welches mit seiner Schulmappe rumalbert.

Als Verdrängung wird in der Psychoanalyse ein grundlegender Abwehrmechanismus bezeichnet, durch den tabuierte und bedrohliche Inhalte und Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung des Menschen ausgeschlossen werden. Dabei handelt es sich um Inhalte, die wir nicht wahrhaben wollen, weil sie unser Selbstwertgefühl stören. Dazu gehören beispielsweise schmerzliche und ängstigende Erfahrungen, die von negativen Affekten begleitet werden. Man erspart sich durch die Verdrängung die Auseinandersetzung mit Problemen und die Schwierigkeit, sich in einem Dilemma bewusst zu entscheiden. So bleibt der Konflikt ungelöst. In Träumen, in Fehlleistungen, in Neurosen oder psychosomatischen Krankheiten macht der Konflikt sich mehr oder weniger unerkannt geltend. Die Anstrengung, die dieser Widerstand fordert, ist manchmal so groß, dass kaum noch Kraft bleibt, um die eigentlichen Lebensaufgaben zu lösen. Die Psychoanalyse hat zum Ziel, die Verdrängungen aufzuheben, die Konflikte dahinter wieder bewusst zu machen und damit die Möglichkeit zu schaffen, sie in vernünftiger Einsicht zu lösen. Es ist wichtig zu realisieren, dass Verdrängung ein gewöhnlicher, bei allen Menschen auftretender Vorgang ist.

Die Entwicklung des Konzepts Verdrängung geht natürlich wieder mal auf Sigmund Freud zurück und ist zentraler Bestandteil der psychoanalytischen Theorie. Dabei konstituiert nach Freud die Verdrängung eine anfängliche Spaltung des Seelenlebens in die uns mittlerweile wohlbekannten Bereiche des Bewusstseins und des Unbewussten.

´Viele Menschen mögen sich fragen: Wie kann jemand so alleine und einsam leben? Wie kann jemand alleine in die Ferien reisen, ohne jeglichen Kontakt?

Ich antworte, dass es weitaus weniger schmerzvoll ist, jeglichen Kontakt zu vermeiden, als mit unerreichbaren Frauen zu flirten und sich nur ab und zu mit Freunden zu treffen. Denn bewusst muss für jede Freude doppelt so lange gelitten werden, wie die Freude selbst anhält. Ein aufrichtiges Gespräch, ein Lächeln oder eine Umarmung mit einer Frau, die einem was bedeutet, und man kann dafür tagelang melancholisch und einsam sein. Man hat eine gute Zeit, und danach vermisst man sie für eine Woche. Man hat eine gute Party, und danach hat man für zwei Tage einen Hangover.

Und, ist es das wirklich wert? Vielleicht ist man unter dem Strich glücklicher, fühlt weniger Schmerzen, wenn man den Freuden und Frauen einfach aus dem Weg geht? Wenn man die Sehnsucht aufgibt, den richtigen Partner zu finden? Wenn man sich einfach nur abschirmt?

Es ist so unglaublich schwierig und mit so vielen schmerzlichen Niederlagen verbunden, jemand passendes zu finden. Es wäre geradezu ein Wunder … Vielleicht ist es besser, den Menschen aus dem Weg zu gehen und ein neutrales Leben zu führen. Man empfindet keine großen Freuden, dafür auch keine großen Schmerzen mehr. Denn erst wenn man etwas kostet, wird einem bewusst, was man verpasst. Ohne Hoffnung und Sehnsucht verspürt man auch keine Schmerzen mehr, jedenfalls weitaus weniger als bei völliger Verdrängung. Und verdrängen ist, was ich mache.

Generell wird das Leben vermutlich am besten überstanden, wenn die richtige Bilanz zwischen Verdrängung und ins Bewusstsein rufen gefunden wird. Die Sinnlosigkeit unseres Lebens und unserer Existenz sollte man besser verdrängen. Und der Mangel an Liebe? Ich weiß es nicht´, denkt er.

Sorry.“

Die St. Gallerin am Fenster quetscht sich zwischen dem Vordersessel und den Beinen ihrer Freundin durch, um sich an ihrer Reisetasche über dem Sitz zu schaffen zu machen. Sie öffnet den Reißverschluss der Nebentasche und zieht ein Taschenbuch heraus. Sie scheint bereits beim Packen fein säuberlich eingeplant zu haben, dass es ihr auf dem Rückweg stinklangweilig wird und sie etwas zum Lesen braucht.

Sie zwängt sich mit dem Buch in der Hand zurück auf ihren Sitz.

Merci“, sagt sie zu ihrer Freundin.

Gierig schlägt sie das Buch auf und beginnt zu lesen.

´Der eigentliche Grund, warum ich Gruppen nicht ausstehen kann, ist, dass ich mich gehemmt fühle und nicht ich selbst sein kann. Man kann sich nur gut fühlen, wenn man sich selbst ist, mit sich im Reinen ist. Deshalb fühlte ich mich während der ganzen Gymnasialzeit schlecht, konnte mich nicht selbst entfalten. Ich glaube, dass die meisten Menschen von Natur aus grundsätzlich gut wären. Aber die Interaktion mit anderen Menschen zwingt uns dazu, uns zu schützen und zu verstellen, sodass wir nicht mehr authentisch sind. Das beeinflusst uns in einer sehr negativen Weise und ist besonders in Gruppen ausgeprägt. Es ist somit weniger das Gruppenverhalten, das ich nicht mag, sondern mein eigenes, unauthentische Verhalten in der Gruppe. Wenn ich ich selbst sein kann, dann fühle ich mich auch in einer Gruppe gut.

Leider kommt das nur sehr selten vor, und praktisch nie ohne Alkohol, da mich zu viele Wunden hemmen. Einige dieser Wunden im Leben verheilen, beispielsweise die Schreibschwäche ist mir heute völlig egal, weil es schlicht keine Rolle mehr spielt. Die Intensität von anderen Wunden nimmt zwar ab, aber sie werden mich immer hemmen. Dazu gehören beispielsweise die Verbrennungen oder auch die katastrophale Dissprüfung, da sie so aktuell ist. Gewisse Wunden gehen so tief, haben sich in der Kindheit über eine so lange Zeit eingefressen, dass ich sie kaum jemals überwinden werde: Komplexe gegenüber Frauen, Angst vor Leuten in Gruppen, Mühe mit Kritik, Angst vor Konflikten, Blockierung durch Angst, große Schüchternheit, Minderwertigkeitskomplexe, das alles vor allem wenn ich überarbeitet bin. Mit diesen Eigenschaften werde ich wohl sterben. Man kann sich längerfristig vielleicht zu zehn Prozent ändern, vor allem, indem man sich selber akzeptiert, aber man kann sich nicht völlig verändern´, denkt er.

Ein Opa läuft den Gang entlang. Er ist etwas unsicher auf seinen Beinen unterwegs und schwankt hin und her. Er touchiert die Schultern von mehreren Fahrgästen.

Tschuldigung!“, sagt er jedes Mal.

Es scheint ihm wirklich etwas unangenehm zu sein. Schließlich verschwindet er aus dem Abteil und das WC-Signal oberhalb vom Ausgang schaltet kurze Zeit später auf Rot.

´Was ist bloß falsch gelaufen mit mir? Ich meine, niemand hat mich vergewaltigt oder misshandelt, meine Kindheit und Jugend waren einfach nur von durchschnittlichen positiven und negativen Ereignissen durchzogen. Ich habe zwar kaum Selbstvertrauen und werde nicht geliebt, aber das ist doch normal für jeden zweiten Menschen. Das können doch auch nicht die Gründe sein, wieso ich mich so völlig fehl in der Gesellschaft und überflüssig im Leben vorkomme!

Ist die Art der Erziehung durch meine Eltern verantwortlich? Nein, auch das kann es nicht sein. Zumindest war das Verhalten meines Vaters nichts böswilliges, sondern lediglich Aufrichtigkeit, Übersättigung und ein Mangel an Sozialkompetenz. Eigenschaften, die auch ich in extremer Form aufweise. Mein Vater war einfach nur ehrlich und hat keine Zuneigung und Liebe vorgegaukelt, die nach 15 Jahren in der Ehe nicht mehr vorhanden war. Er hat keinen verlogenen Small Talk mit seiner Familie betrieben. Der Alltagsstress auf dem Bauernhof hat die meiste seiner Energie abverlangt, er konnte seiner Familie keine Zuneigung vortäuschen und wollte in seiner Freizeit einfach nur abschalten. Und die weitergegebenen Werte wie Genauigkeit, Durchhaltewillen, Ehrlichkeit oder Fleiß waren gut gemeint und sollten mir helfen, besser durchs Leben zu kommen als er. Im Großen und Ganzen hat mein Vater einen guten Job gemacht. Und nach drei Kindern war halt keine Restliebe für mich mehr vorhanden. Da kann ich meinen Eltern nichts vorwerfen.

Bei der Erziehung meiner eigenen Kindern würde sich nicht viel ändern. Ich würde mir zwar auch Mühe geben, ein guter Vater zu sein. Ich würde Bücher lesen, um alles richtig zu machen und versuchen, es anzuwenden. Doch nach einigen Jahren wäre auch ich übersättigt. Auch meine Kinder würden einen durchschnittlichen Schaden davontragen. Sie würden nicht das nötige Selbstvertrauen erwerben, um glücklich zu sein. Wie sollte ich ihnen etwas weitergeben, das ich selber nicht besitze?

Nein, schuld ist weniger die Erziehung und die Erlebnisse in der Kindheit und Jugend, die mich zum durchschnittlichen Leiden verdammt haben, sondern die absurden Randbedingungen unseres Lebens an sich. Der Durchschnittsmensch kann heutzutage nicht glücklich sein, unter diesen Umständen.

Die Kernfrage ist also, wieso meine Eltern bloß auf die absurde Idee kamen, mich zu zeugen? Nur weil es damals so üblich war? Haben sie die negativen Konsequenzen, die ihre Handlung auf mich haben würde, abgewogen? War ihnen klar, dass ich es sein werde, der sich mit all diesen Fragen rumquälen muss? War ihnen bewusst, dass ich es sein werde, der im Leben gefangen sein wird, da es als durchschnittlicher Leidender nicht mal zum Selbstmord ausreicht? War meine Zeugung überhaupt eine bewusste Entscheidung oder einfach nur ein Unfall? Was, was habe ich meinen Eltern bloß zuleide getan, dass ich mich nun mit meiner Existenz rumquälen muss?´, denkt er.

Er sitzt nun schon seit rund zwei Stunden im Zug rum. Paris liegt weit hinter ihm und der Zug durchquert ein flaches, kaum besiedeltes Gebiet.

Er steht auf und geht Richtung Zugende. Der nächste Waggon ist nur halb vollgepackt mit Leuten. Sie scheinen nicht mehr groß zu kommunizieren, nach gemeinsamen Ferien und zwei Stunden Zugfahrt ist ihnen der Small-Talk-Stoff ausgegangen. Viele würdigen ihm einen kurzen Seitenblick, bevor sie wieder gelangweilt zum Fenster rausschauen, vor sich hinstarren oder etwas lesen.

Die hintere Abteiltür öffnet sich automatisch auf Knopfdruck und er erreicht das Ende des Zuges. Er ist ganz alleine im Vorraum. Zwei Türen befinden sich links und rechts um ein- und auszusteigen. Ein Glasfenster in der Endtüre gibt den Ausblick auf die vorbeirasenden Gleise und die Landschaft frei.

Es ist am Eindämmern. Der blaue Himmel ist vereinzelt mit weißen Schleierwolken bedeckt und der Horizont wird von der Sonne mit einem matt Gelbviolette eingefärbt, das sich mit den weißen Wolken vermischt. Die Landschaft ist flach mit grünen