Internetbuch Ruhe

 

Willkommen bei unserer neuesten Idee, einem kostenlosen Buch, dessen Teile ihr zu einem Ganzen zusammenfügen könnt.

Wahrscheinlich bist du ganz zufällig hier gelandet, oder doch nicht? Oder du bist an der falschen Stelle oder was auch immer.

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Für alle die nicht mehr suchen möchten

Ruhe. Und die Eisenbahnräder passieren regelmäßig die Gleisfugen.

´Ein Schuss rechts, ein Schuss links. So, jetzt schön die Häuschen draußen beobachten´, denkt er.

Beide haben sie den Kopf in seine Richtung gedreht und wirken etwas verwirrt. Nun fixiert die Eine ihren Blick auf sein Spiegelbild im Fenster.

´Ups, Augenzoom zurück nach draußen´, denkt er.

Der Schmerz klingt langsam ab, er spürt jedoch, wie die Backe heiß wird. Um die Situation möglichst unauffällig zu halten, nimmt er ein Stapel Karteikarten mit Französischwörtern und kratzt sich gleichzeitig mit der linken Hand am Sack. Semaine trois von Martinique, sein Sprachaufenthalt vor vier Monaten. Im Augenwinkel sieht er, wie sich die zwei Weiber einander zuwenden. Als er beim dritten Kärtchen angelangt ist, bückt sich die Eine zur Anderen rüber und flüstert ihr etwas ins Ohr.

´Verstehe ich jetzt nicht. Was könnte sie ihr bloß gesagt haben? Vielleicht, dass ich mich am Sack gekratzt habe?´, denkt er.

Hattest Du den genug für eine zweite …“

Klatsch!

Blitzschnell hat er sich wieder Eine runter gehauen. Diesmal mit der linken Hand auf die linke Backe. Kärtchen vier flattert dabei auf den Boden. Beide drehen sie sich wieder zu ihm hin.

´Jetzt bloß keine Miene verziehen!´ denkt er. Er dreht seinen Kopf Richtung Boden und erblickt eines seiner Kärtchen. ´Scheiße, liegt bei den fetten Haxen der linken Kuh´, denkt er.

Er will sich mit dem Oberkörper nach vorne bücken. Das Muttermal ist aber schneller und streckt ihm das Kärtchen entgegen.

´Ups, an dieser Stelle verlangen wohl die Anstandsregeln, dass ich irgendwie reagiere´, denkt er.

Oh, danke sehr, ist mir runter gefallen“, sagt er.

Bitte, schon recht.“

Das war das Muttermal. Gespannt schaut er auf die Lösung auf der Rückseite.

´Ah, une nappe heißt es, das kann ich mir einfach nie merken´, denkt er.

Er macht es sich wieder bequem und führt das Kärtchen ans Ende des Stapels.

Unsicher schaut ein älterer Herr im diagonal gegenüberliegenden Abteil zwischen den Sitzbänken durch. Den Kopf über die Schulter zu ihm hin verrenkt. Verwundert und leicht arrogant erwidert er seinen Blick. Dann dreht er den Kopf Richtung Sitz und zuckt leicht mit den Achseln.

´Ich glaube, der hat gerafft, dass das Geräusch auf keinen Fall von so einem Strebergesicht wie mir kommen kann´, denkt er.

Und tatsächlich, sein Gesicht verschwindet wieder hinter dem Sitz.

Sehr interessiert wendet er sich wieder dem Wörterstudium zu.

Jetzt ist es still im Abteil. Das befriedigt ihn, ein kleiner Triumph für ihn.

´Wenigstens sind die Weiber fair, und ich muss mich nicht auf dem ganzen Weg schlagen´, denkt er.

Er fand seine eigene Naivität im Prinz Myshkin von Der Idiot wieder, von Fjodor Dostojewski. Ebenso wie seine Manieren zu gut waren, um sich bei Frauen durchsetzen zu können. Sie mochten ihn zwar, eine Verheiratete sagte ihm einmal, dass er perfekt sei, aber mehr passierte in der Regel nicht. Der Mann muss den ersten Schritt machen und er kann das einfach nicht. Er kann niemanden um etwas bitten. Die Frauen müssen im schlimmsten Falle einfach nur abwarten. Aber für Männer, die völlig blockiert sind, ist es hoffnungslos. Frauen nehmen ihn generell nicht wirklich ernst und unterschätzen ihn wohl etwas.

Anderseits ist ihm auch Der Steppenwolf von Hermann Hesse auf den Leib geschrieben worden. Wirklich wohl ist es ihm nur alleine, und seit er das weiß, verschwendet er keinen Gedanken mehr an seine Pulsadern. Er liebt es, alleine durch die Stadt zu ziehen und ist stolz darauf, dass er die Gesellschaft nur braucht, um sich von ihr abzuwenden.

Weiter identifiziert er sich voll und ganz mit The Outsider von Albert Camus. Er muss immer die Wahrheit sagen, selbst wenn er damit andere vor den Kopf stößt und es ihm schadet. Warum soll er etwas vortäuschen, was er nicht empfindet? Wenn ihn die bürgerliche Gesellschaft für seine Aufrichtigkeit ausschließt, dann ist das sicherlich nicht sein Fehler. Die Gesellschaft ist krank. Besser er wird für seine Authentizität ausgeschlossen, als durch Lügen integriert.

Leider hat er auch das verdrehte Wertesystem vom Willy in Der Tod eines Handlungsreisenden von Arthur Miller in sich wiedergefunden. Was ein Mensch ist, ist nur von dem abhängig, was er erreicht hat. Jemanden zu schätzen, nur seiner Existenz willens, hat er nie gelernt. Diese Einstellung hat ihm eindeutig sein Vater mitgegeben. Entweder man ist gut in etwas, oder man ist überflüssig, ein Versager. Daher ist es für ihn unmöglich, jemals mit sich selbst zufrieden zu sein und er fühlt sich oft als Versager. Obwohl er mit 28 Doktor der Wissenschaften wurde, einige Preise gewonnen hat und ein Multitalent ist.

Jetzt kommen …“, die Hängetitten haben sich zum Muttermal hin gewendet und unsicher einen Satz begonnen. Dann drehen sie sich unsicher zu ihm hin.

Blitzschnell richtet er sich auf. Ein Adrenalinschub schießt durch seinen Körper.

´Muss ich mich jetzt wirklich nochmals schlagen?´, denkt er.

Die Hängetitten schauen verlegen auf den Boden … und verstummen.

´Tja, eigentlich hat sie ja recht, wir kommen wohl wirklich gleich an.´ Gespannt wendet er sich von den Französischwörtern ab und schaut wieder auf die Häuserfassaden. ´Vielleicht sehe ich schon irgendein Wahrzeichen oder so was. Wird zwar eher schwierig, hier im Norden. Peut-être la Tour Eiffel?´, denkt er.

Nichts, nur einige Brücken von unten und viele Bahngleise.

Das ist bereits das dritte Mal, dass er in Paris ist. Einmal mit 16, mit seiner Klasse vom Gymnasium. Das zweite Mal vor zwei Jahren im Sommer, alleine, im Französischsprachkurs.

´Da, doch noch ein Wahrzeichen!´, denkt er.

Auf der linken Seite entdeckt er die Sacré-Coeur, sie verschwindet dann und taucht wenig später auf der rechten Zugseite wieder auf, bereits etwas größer

´Ja, da ist mein Hotel´, denkt er.

Ding, ding, ding, ding.

Irgend so ein Vierklang kommt aus dem Lautsprecher.

´Vermutlich ein D-Dur Akkord´, denkt er.

Chères messieurs et dames, dans quelque instants nous arrivons à Paris Gare de l’Est. C’est le terminus. Le personnel accompagné espère que vous aviez un bon voyage et nous vous souhaitons un bon séjour.“

´So, geschafft, doch noch lebend angekommen, ohne Leichen im Abteil´, denkt er.

Er nimmt seine Niki-Umhängetasche vom Nebensitz und packt seine Karteikarten, das CD-Etui und den Discman ein. Dafür zieht er einen Stadtführer und einen Notizzettel aus der Tasche, mit der Adresse des Hotels und der Métronummer, und verstaut es in der Innentasche seiner Jacke. Alles bereits fein säuberlich auf der Fahrt vorbereitet. Die vor ihm auf dem Tischchen liegende Agenda und das Portemonnaie verstaut er in seinen Gesäßtaschen.

´Stopp, Ausland hier´, denkt er.

Er zieht das Portemonnaie wieder raus und verstaut es in der vorderen Hosentasche auf der rechten Seite seiner Eier.

So eine Ankunft versetzt ihn immer in eine kleine Hektik. Wieso, weiß er eigentlich auch nicht so genau, vermutlich die limitierte Zeit um eine Handlung abzuschließen. Aber er hat ja ständig vor irgendwas Angst. Eigentlich immer, wenn Menschen anwesend sind, vor allem Menschen in Gruppen sind eine große Plage für ihn.

Er steht auf, zieht die Jacke an und hängt die Tasche um. Nun geht er zum Gang und zieht seinen Koffer zwischen den Sitzen heraus. Ein letztes Mal wendet er sich an die Weiber.

Adieu.“

Die zwei Weiber sind etwas überrascht, die Eine bringt aber noch ein: „Adieu“, heraus.

´Unfreundliche Leute gibt’s!´, denkt er.

Er ist der Erste der sich Richtung Ausgang bewegt und kann ungestört den Gang entlang gehen. Nach knapp drei Metern geht das Geplapper der zwei Sitznachbarinnen wieder los. Mit einem Lächeln läuft er aus ihrem Schallwellenbereich.

´Die Erlösung, das muss er sein, der Höhepunkt meines scheiß Lebens. Ich spritze gleich ab. Werde ich diese zwei sympathischen Plappergurken je wieder sehen dürfen?´, denkt er.

Er erreicht die Tür und hält sich am Geländer fest. Er schwankt etwas hin und her. Der Zug kommt erst eine Minute und zwölf Sekunden später zum Stillstand.

Es ist an ihm, die automatische Türöffnung zu betätigen.