Exposé
Der Roman thematisiert eine Bedrohung durch terroristische Anschläge mit radioaktivem oder bakteriologischem Material.
Kurzinhalt :
Rolaf Heymann – Meteorologe beim NDR – erhält den Hilferuf seines alten Schulfreundes Kurt Kulessa. Der Journalist Kurt ist bei einer Recherche in Tschernobyl in eine schwierige Lage geraten. Gegen anfängliche Bedenken folgt Rolaf dem Ruf. In Tschernobyl trifft er in seiner Reisegruppe auf Jule, die Tochter von Kurt. Die beiden geraten an Plünderer, die radioaktives Material aus der Sperrzone schmuggeln. Das Material soll einen Anschlag mit einer schmutzigen Bombe vorbereiten. Gleichzeitig wird in der Stadt Omsk ein solcher Anschlag verübt. Rolaf und Jule erhalten die Nachricht von Kurt, dass er am Aralsee in Usbekistan einem noch größeren Verbrechen auf der Spur ist. Auf der verlandeten Insel Wosroschdenje befindet sich ein ehemaliges Labor für bakteriologische Waffen.
Der Terrorist Haschem Jahani, den Kurt aus seiner Zeit in Afghanistan kennt, versucht, sich dieser Waffen zu bemächtigen. Mit Hilfe des zehnjährigen Jungen Jerlan und des Lkw-Fahrers Taufiq gelangen Rolaf und Jule auf die furchtbare Insel. Sie finden einen Koffer voller Reagenzgläser mit Anthrax-Bakterien. Es kommt zum entscheidenden Kampf mit den Terroristen.
Die Geschichte ist entsprechend der Erzählstruktur der Heldenreise gestaltet. Der Protagonist gerät aus seiner heilen Welt heraus in ein Abenteuer, das er zuerst gar nicht annehmen will, in das er sich aber dann aus Neugier einlässt. Unterstützt von einem Mentor und mehreren Gefährten wird er in eine Entwicklung hineingezogen, in der er zum Helden heranwachsen kann. Schließlich steht er seinem gefährlichsten Gegner gegenüber. Mit Hilfe der Gefährten kann er ihn besiegen. Zurück in seiner alten Welt bringt der Held eine Trophäe als Beweis für sein Abenteuer mit.
Figuren :
Rolaf Heymann Hamburg Meteorologe
Kurt Kulessa Tschernobyl , Aralsee Journalist
Jule Kulessa Tschernobyl Tochter von Kurt
Haschem Jahani Tadschikistan, Aralsee Terrorist und Drogenhändler
Hanno Söring Sylt Kriegsfotograph, Mentor von Rolaf
Taufiq und Jerlan Moynaq, Usbekistan Gefährten von Rolaf
Leseprobe
„Danach haben wir Gerd Eilenberger an einen Apfelbaum gefesselt und sind weggelaufen.“
Rolaf Heymann grinste und hob schulterzuckend die Hände. Er erwartete eine Reaktion aus der Runde und setzte hinzu: „… einfach nach Hause gelaufen.“
„Und dann?“, fragte Bernd.
„Ein Spaziergänger hatte Gerds Hilferufe gehört, band ihn los und brachte ihn zu seinen Eltern.“
„Und dann hat es mächtig Ärger gegeben, was?“
„Wir haben halt Indianer gespielt, damals. Gerd war immer mit dabei und an dem Tag war er eben unser Gefangener. Mutter Eilenberger hatte sich am Telefon bei meinen Eltern beschwert, aber sie haben nicht sehr doll mit mir geschimpft. Nur in die verwilderten Gärten durfte ich von da an nicht mehr. Aber gleich nach ein paar Tagen haben wir wieder dort gespielt.“
„Fand Gerd das eigentlich genauso harmlos wie du?“, fragte Inga ihren Mann mit kritischem Blick.
„Na, klar!“, erwiderte Rolaf. „Am nächsten Tag war wieder alles wie immer. Gerd gehörte ja zu unserer Clique. Die eigentlichen Feinde waren die Jungens aus Waldhausen. Wenn wir Südstädter gegen die Fußball spielten, mussten immer Eltern dabei sein. Sonst hätte es mehr als blutige Knie gegeben. Aber was hätte Gerd auch machen sollen? Wir waren ja alle dabei: Matthias, Axel, Kurt, Michael und ich. Wir waren alle seine Freunde.“
„Schöne Freunde ward ihr.“ Marco hob drohend den Zeigefinger. „Heutzutage hätte die Mutter von Gerd die Polizei benachrichtigt und eure Lehrer hätten eine Konferenz gegen Mobbing einberufen.“
„Ja!“, musste Inga lachen. „Ihr habt euren Freund zum Mobbing-Opfer gemacht. Die Lehrer hätten ein klärendes Gespräch im Sitzkreis mit Gerd angeordnet“, lachte sie.
Rolaf und Inga hatten ihre Kollegen Bernd und Marco mit ihren Ehefrauen zu einem Käsefondue eingeladen. So eine Begegnung fand alle paar Monate abwechselnd statt. Sie wollten sich nicht mit allzu viel Nähe auf die Nerven gehen, aber über die Jahre hatten sie einen ziemlich verlässlichen und gleichzeitig zwanglosen Rhythmus ihrer Treffen etabliert. Ihre Vereinbarung war seit langer Zeit, dass immer ein anderer der Gastgeber war und die Gäste die Getränke mitzubringen hatten.
Nachdem der geschmolzene Gruyere im Topf von den letzten Brotwürfeln aufgesogen war und nur noch sein würziger Geruch im Raum lag, hatte sie ihr Gespräch zu den Spielen und Streichen ihrer Kindheit geführt. Die Bereitschaft der Runde, über Jugendsünden zu sprechen, war mit der Zahl der geleerten Gastgeschenke gestiegen, ebenso wie die Neigung, die kindlichen Fehltritte dramatisch auszuschmücken. Jeder trug eine Geschichte bei, die ihm in Erinnerung kam, und alle lachten und versicherten, so etwas ähnliches auch erlebt zu haben. Rolaf entkorkte die letzte Weinflasche aus den Mitbringseln seiner Gäste.
Ihnen konnte die Arbeit morgen im Sender gleichgültig sein. Sie hatten alle dienstfrei: Bernd, der Nachrichtensprecher, und Marco, der Tontechniker.
Rolaf war der Meteorologe im Team des Radiosenders. Er hatte noch nie einen Wetterbericht ins Mikrophon gesprochen. Das tat Inga mit charmanter Stimme und fügte – von Bernd anmoderiert –noch die Verkehrsnachrichten an. Aber jeder launige Text über Eiskaffee- oder Glühwein-Stimmung war in den letzten Jahren von ihm formuliert worden, auf der Basis seiner exakten Wetteranalyse.
Rolaf war ein Meister darin, die trockenen Daten der Meteorologie in die Erlebniswelt der Zuhörer zu übersetzen. Er brachte eine prognostizierte Wolkenlücke am Mittag in Verbindung mit dem bevorstehenden Frühlingsmarkt in der Stadt. Ergiebige Schneefälle fügte er mit freundlichen nachbarschaftlichen Begegnungen beim Schneeschippen zusammen. Für jedes Wetter textete er eine Metapher des Miteinanders. Seine Wetterberichte waren seit Jahren Kult beim Sender, aber selbst gesprochen hatte er noch nie eine Zeile. Das machte Inga.
Rolaf war im Sommer 49 Jahre alt geworden. Das eine Jahr Abstand zu den fünfzig sah ihm aber niemand an. Er wirkte jünger. Das volle kurzgeschnittene Haar hatte an den Schläfen schon einen grauen Schimmer. Aber seine dunklen Augen wirkten aufmerksam und auf eine lebhafte Weise jugendlich. Seine Figur war die eines Marathonläufers: mittelgroß und schlank, fast schon hager.
„Hast du noch Kontakt zu Gerd?“, fragte Marco, während die anderen den Tisch abdeckten.
„Nein!“ Rolaf schüttelte den Kopf. „Das ist fast vierzig Jahre her. Wir haben uns aus den Augen verloren.“ Er strich sich nachdenklich über den Kopf. „Es gab einmal ein Klassentreffen vor Jahren. Aber Gerd war nicht dabei und vor allem Susanne nicht.“
„Susanne hast du bisher noch gar nicht erwähnt“, bemerkte Inga im Vorbeigehen. „Sollte ich sie kennen?“ Den erkalteten Fonduetopf in der Hand drehte sie sich mit hochgezogenen Brauen zu ihm. Inga war drei Jahre jünger als Rolaf, hätte aber auch für Ende dreißig durchgehen können. Sie war fast einen Kopf kleiner als er und wirkte kräftiger. Die rotblonden glatten Haare trug sie mittellang. Ihre grüngrauen Augen, mit denen sie ihre Umwelt immer etwas belustigt anzuschauen schien, strahlten eine tiefe innere Ruhe aus
„Nein, nicht nötig“, entgegnete er lächelnd. „Susanne war meine erste Freundin … also, versteht mich nicht falsch! Sie war nicht meine erste Liebe. Sie war meine Indianer-Freundin. Wir waren Blutsbrüder … nein, Blutsgeschwister“, stotterte er.
„So so!“ Inga ging zügig auf die Küche zu. „Du hast eine Schwester?“
Die anderen amüsierten sich über die gespielte Krise.
„Ich habe Susanne seit der vierten Klasse nie wieder gesehen.“ Rolaf lehnte sich zurück und fügte vielsagend hinzu: „Leider“.
*
„Deine Geschichte hat mich an ‘stayfriends’ erinnert.“ Es war spät geworden, der Besuch war gegangen und Inga saß mit Rolaf bei einem letzten Glas Wein am Tisch.
„Stayfriends?“, fragte er.
„Das Forum im Internet: alte Klassenkameraden treffen sich wieder. Kramlitz hat das neulich als neues Format vorgeschlagen. Aber so etwas eignet sich wohl mehr fürs Fernsehen.“
„Du meinst, Kramlitz, unser Redakteur, will Sendungen über Klassentreffen machen?“
„Ja!“, entgegnete Inga lebhaft. „Stell dir mal vor, du triffst deinen alten Klassenkameraden Gerd Eilenberger wieder und erzählst die Geschichte und er erinnert sich an seine Sicht der Dinge – vierzig Jahre später. Das kann doch eine spannende Sendung werden.“
„Wenn er mir nachträglich noch eine vors Maul haut, wird das bestimmt spannend“, sagte er.
„Oder stell dir mal vor“, fuhr sie unbeirrt fort, „du triffst Jahrzehnte später auf deine alte Blutsschwester Susanne. Das wäre doch fast schon dramatisch.“
„Jetzt übertreibst du aber.“ Rolaf gähnte.
„Oder was ist mit den anderen? Matthias, Axel, Kurt? Was ist aus denen geworden? Wie hießen die mit Nachnamen? Aus deiner alten Clique könnte man eine klasse Sendung machen, todsicher!“
„Glaube ich nicht.“ Er räkelte sich müde. „Das war doch nichts besonderes. Indianer spielen – alle haben das gemacht. Pierre Brice war unser großer Held, aber nicht nur unserer. Solche Winnetou-Clubs hat es bestimmt überall gegeben.“ Er grübelte nach. „Axel hieß Hartwich, Matthias hieß Behrend und Kurt war Kurt Kulessa. Gerd Eilenberger kennst du ja schon.“
*
Noch vor dem Frühstück suchte Rolaf am nächsten Morgen in den Tiefen seines Schreibtisches nach dem alten Klassenfoto. Die Suche war ergebnislos.
Auf dem Parkplatz von Edeka am späten Vormittag kam ihm beim Einpacken der Sachen etwas in Erinnerung.
„Mit Kurt Kulessa habe ich vor Jahren ganz lange gequatscht“, sagte er zu Inga.
„Mit wem?“, fragte sie.
„Mit Kurt Kulessa“, wiederholte er. „Ich habe doch gestern von meinen alten Klassenkameraden erzählt. Vor fünf, sechs Jahren hatten wir dieses Klassentreffen. Du weißt doch noch, Susanne hatte gefehlt.“ Rolaf grinste zu ihr herüber.
„An deine Blutsschwester kann ich mich erinnern.“ Inga sah nur kurz auf.
„Es war verrückt. Nach fast vierzig Jahren hatte ich mich mit Kurt wieder so gut verstanden, als wäre nichts dazwischen gewesen. Wir waren die letzten, die nachts noch an der Bar saßen. Er erzählte von seiner Arbeit als Fotograf. Kurt hatte keinen Beruf gelernt, aber die halbe Welt gesehen – ein richtig abenteuerliches Leben.“
„Du hast ihn beneidet, stimmts?“, fragte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
„Ja“, antwortete er gedehnt. „Ein bisschen schon. Er hat etwas aus seinem Leben gemacht, mit viel Willensstärke.“ Rolaf hörte auf und fragte sich, warum seine Frau diese Frage gestellt hatte. „Am Ende unseres Gesprächs konnte ich ihm eine Weisheit mitgeben, die ich gelernt hatte: ‘Die Leute wollen keinen Wetterbericht mit schlechtem Wetter’. Kurt hatte sich darüber geärgert, dass kritische Reportagen oft von der Redaktion abgelehnt worden waren. Er wollte aufrütteln. Aber zu viel über schlechtes Wetter wollen die Menschen nicht hören. So viel konnte ich ihm aus meiner Erfahrung erzählen.“
„Können wir losfahren?“ Inga hielt die Hand an der Kofferraumklappe und blickte fragend.
„Ja, sicher“, sagte er wie aufgeweckt. „Ich weiß jetzt auch, wo ich das Klassenfoto suchen muss.“
Wieder zu Hause brauchte Rolaf in seinem Arbeitszimmer keine zehn Minuten und er hatte das Bild gefunden. Alle Schubladen standen offen, mehrere Stapel von Papier verteilten sich auf dem Boden, er hatte ein ziemliches Chaos angerichtet. Aber das verblasste schwarz-weiß-Foto lag auf dem Schreibtisch. Etwa dreißig erwartungsfrohe Gesichter von hockenden, knienden und stehenden Erstklässlern waren zu sehen.
„Und wer von denen warst du?“, fragte Inga.
Er zeigte verlegen auf einen Kopf, der hinter der Schulter eines anderen hervorragte.
„Niedlich!“, entfuhr es ihr spontan. „Du konntest ja richtig süß lächeln, damals.“
„So hatten meine Eltern mich erzogen“, entgegnete er kleinlaut. „Immer freundlich lächeln.“
„Ein richtiges Babyface.“ Ingas Augen grinsten amüsiert.
„Sei froh darüber!“, konterte er in gespieltem Zorn. „Hätte ich damals kein Babyface gehabt, würde ich heute aussehen wie ein alter Mann, das heißt: so alt wie ich wirklich bin.“ Er runzelte die Stirn.
„Natürlich!“, lachte sie und legte ihren Arm um seinen Hals. „Alle haben mich im Sommer gefragt, ob du 39 oder 40 Jahre alt geworden bist.“ Sie berührte mit den Lippen seine Wange und flüsterte: „Das wolltest du doch hören, alter Mann?“
„Jetzt zeig mir mal die anderen!“, bat Inga mit Neugier im Blick.
„Die anderen?“, fragte Rolaf.
„Na, die, von denen du gestern erzählt hast: Gerd und Kurt und so weiter.“
Er zog die Mundwinkel herunter und atmete tief ein. Sein Zeigefinger fuhr fahrig über das Bild. „Ich kenne sie nicht mehr alle“, raunte er. Dann verharrte der Finger. „Nein, warte! Das ist Gerd.
Ich weiß es wegen seiner blonden Haare. Und da rechts, das müsste Kurt sein. Siehst du? Der da rechts außen in der ersten Reihe.“
„Der hat kein Babyface, schon als Erstklässler nicht.“ Inga beugte den Kopf tief über das Foto.
„Das hatte er auch später nicht“, bestätigte Rolaf. „Kurt Kulessa war immer dabei, wenn es Remmidemmi gab. Der hatte vor gar keinem Angst.“ Er schwieg einen Moment, drehte sich vom Klassenfoto weg und lächelte. „Einmal hat er mich rausgehauen“, flüsterte er. „Ich hatte mich mit dem Falschen angelegt – Frank Deppe aus Waldhausen. Der Kerl konnte nicht lesen und schreiben, aber er war stärker als ich. Kurt hat sich auf ihn geschmissen, als er sah, dass ich unten lag. Von da an ist Frank mir aus dem Weg gegangen.“
Inga nahm das Klassenfoto in die Hand und hielt es Rolaf vor. Sie sah ihn herausfordernd an. „Stell dir doch mal diese Sechsjährigen vor: das Babyface und Kurt, den Abenteurer! Hättest du mit ihm tauschen wollen, wenn es möglich gewesen wäre?“
„Nein“, antwortete er schnell. „Natürlich nicht. Kurt war viel schlechter in der Schule als ich. Er hat immer bei mir abgeschrieben. Am Ende der Grundschule war klar, dass er nicht auf ein Gymnasium gehen konnte.“
„Du bist arrogant, Rolaf“, sagte sie und legte das Foto zurück auf den Schreibtisch. „Ich habe dich nicht gefragt, ob du besser in der Schule warst. Ich wollte wissen, ob du heimlich in dir drinnen ein abenteuerliches Leben bevorzugt hättest.“
„Nein“, antwortete er gedehnt. „Ich glaube nicht. Ich bin nie in meinem Leben gestolpert oder gar hingefallen. Ich liebe die Sicherheit, in der ich lebe, und ich liebe auch manchmal die Langeweile.“ Er ging ein paar Schritte durchs Arbeitszimmer. „Obwohl“, schränkte er ein. „Was Kurt mir damals erzählt hat von seinen Reisen und von den Reportagen, das war schon faszinierend. Ich glaube, Kurt wollte die Welt verändern, er wollte mit seinen Berichten den Horizont der Menschen erweitern.“
*
Der Ellenbogen ist der nördlichste Zipfel Deutschlands und gehört zur Insel Sylt. Er ragt wie ein Kleiderhaken als Halbinsel über Sylt hinaus und weist in Richtung Dänemark. Eine private Fahrstraße aus in die Jahre gekommenen Betonplatten erlaubt gegen eine Mautgebühr die Fahrt mit dem Auto ans äußerste Ende der Insel, an dem sich eine Siedlung mit einer Pension und ein paar Häusern befindet. Von hier aus blickt man nach gegenüber auf den Ort List und bei klarem Wetter auf die Insel Römö und auf das dänische Festland. Ein rot-weiß gestrichener Leuchtturm steht ein paar hundert Meter vorher in den Dünen. Darunter geduckt befinden sich zwei Bungalows.
Auf der kleinen Terrasse des einen Hauses stand Hanno Söring mit einer Tasse Tee in der Hand. Söring hatte vor Jahren beschlossen, seinen Ruhestand hier gewissermaßen am Ende der Welt zu erleben. Von den Einnahmen aus seinen Fotobildbänden hatte er sich in die Erbengemeinschaft der Besitzer des Ellenbogens einkaufen können und dieses kleine Häuschen erworben.
Söring war ein renommierter Fotograf in allen Kriegs- und Krisengebieten der Welt gewesen und hatte für namhafte Zeitungen und Magazine gearbeitet. Er war bekannt dafür, dass er für seine Fotografien dicht heranging an dramatische Situationen. Mehr als einmal hatte er sich dafür in Lebensgefahr gebracht. Dabei war er nicht unbedingt ein Draufgänger. Er hatte immer die Chancen und Risiken bei einer Reportage genau kalkuliert und sich häufig mit erfahreneren Kollegen besprochen. So hatte er ein sicheres Gefühl dafür entwickelt, wie weit er gehen konnte.
Zu vielen dieser ehemaligen Kollegen hatte Hanno bis jetzt Kontakt gehalten und so verfügte er über ein beachtliches Netzwerk zu Fotoreportern in aller Welt.
Trotz seiner 65 Jahre besaß Hanno Söring eine schlanke, sportliche Figur. Seine wasserblauen Augen, die wirkten, als seien sie es ein Leben lang gewohnt in weite Ferne zu blicken, sahen hinüber nach List, wo gerade ein Fährschiff aus Römö einlief. Sein braungebranntes Gesicht war eingerahmt von schulterlangen, schlohweißen Haaren. Tief eingegrabene Falten um den Mund und auf der Stirn ließen ihn etwas müde wirken. Die graue Cordhose und das Leinenhemd trug er fast immer, so als hätte er mehrere Teile davon im Schrank.
Es war warm an diesem Spätsommernachmittag. Nur der Wind, der hier eigentlich immer wehte, kühlte die Luft etwas ab. Aber in seiner vollen Stärke blies er von der Seeseite her und die beiden Bungalows lagen geschützt im Windschatten der Dünen.
Hanno hatte am Vormittag eine beunruhigende Mail erhalten. Einer seiner früheren Kollegen hatte ein Problem und ihn um Hilfe gebeten. Offensichtlich war er bei einer brisanten Reportage und es gab Leute, die er damit gestört hatte. Hanno wusste nicht, worum es ging. Der Kollege wollte Fotos per Mail nachliefern und sich im Laufe des Tages telefonisch melden. Darauf wartete er seitdem.
*
Zwei Kitesurfer rasten in der Bucht des Ellenbogens über die Wasserfläche hinweg. Anders als die gewöhnlichen Surfer hielten sie nicht ein Segel in der Hand, sondern an 20 Meter langen Leinen einen Lenkdrachen – den Kite. Mit zwei oder vier Leinen steuerten die Sportler den Schirm im Wind und erreichten auf ihrem Board unglaubliche Geschwindigkeiten. Bis zu 100 km/h waren schon gemessen worden. Der Ellenbogen auf Sylt war ein bekanntes Revier für Kitesurfer. Jeder Surfer hatte einen Begleiter an Land, der beim Start und bei der Rückkehr behilflich war.
Hanno Söring winkte einem der Begleiter von seiner Terrasse aus zu. Er betrieb trotz seines Alters das Kitesurfen selbst und kannte eine Menge Leute aus der Szene. Heute hatte er aber nicht im mindesten den Wunsch, an den Strand zu gehen. Er musste für seinen Kollegen erreichbar bleiben, der ihm am Vormittag die kurze Mail gesendet hatte. Ihr Inhalt klang fast so wie ein Funkspruch: „Habe Probleme. Brauche Hilfe. Sende Fotos. Melde mich telefonisch. Kurt.“. Diese Worte waren Hanno den ganzen Tag durch den Kopf gegangen. Warum hatte Kurt so knapp geschrieben? War er in Zeitnot? Wurde er bedrängt? Mit welchem Projekt hatte er gerade zu tun?
Von Kurt Kulessa hatte er jahrelang nichts mehr gehört. Zum letzten Mal war er mit ihm in Afghanistan unterwegs gewesen. Ihn selbst hatte die Kriegsberichtserstattung interessiert und Kurt hatte Fotos von Schlafmohnfeldern gemacht, Naturbilder mit Bergkulisse. Am Kriegsgeschehen hatte Kurt nie ein Interesse gehabt. Aber Hanno hatte erlebt, dass Kurt ein Draufgänger war, wenn er ganz bestimmte Fotos wollte. Als er einmal eine Herde der seltenen Tibet-Antilope fotografieren wollte, ließ er sich zu einem von den Taliban beherrschten Dorf fahren. Von dort aus war er eine Woche auf sich gestellt mit den Extremisten allein unterwegs gewesen und kam danach breit grinsend mit seinen Antilopen-Fotos zurück.
Es wurde Abend, die Surfer packten am Strand ihre Sachen ein und die Sonne tauchte die Dünen in ein orangenes Licht. Um sich nicht allzu lange in der Küche aufhalten zu müssen, öffnete Hanno eine Dose mit Fischsuppe und machte sie im Topf warm. Dazu schnitt er drei Scheiben Weißbrot ab. Die abendliche Beleuchtung über dem Hauptgeschäft von Gosch konnte er durch das Fenster von List her sehen. Dann warf er einen Blick auf seinen Computer. Elektrisiert stellte er fest, dass eine Mail eingetroffen war. Sofort setzte er sich und klickte einen Absender an, der ihm unbekannt war. Er sah keinerlei Text, hatte aber etwa dreißig Fotos erhalten.
Aufmerksam sah Hanno sich alle Bilder an: Birkenwälder, mehrgeschossige Plattenbauten, ein Riesenrad, Industrieanlagen. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Plötzlich bemerkte er einen strengen Fischgeruch. Er hatte die Suppe vergessen! Schnell lief er in die Küche, wo der Geruch nach Fisch eher schon ins Verbrannte überging. Er schaltete den Herd aus und goss Wasser in den Suppentopf. Nachdem es kräftig zischte und qualmte, riss er das Küchenfenster auf. Gegenüber der Bucht konnte er in der beginnenden Dunkelheit die Lichter noch besser erkennen. Vielleicht war die Suppe ja noch zu retten. Auf einmal klingelte sein Handy.
„Ja, Söring.“
„Hanno?“, fragte der Anrufer. „Ich bin es, Kurt.“
„Endlich! Was gibt es, Kurt? Was ist dein Problem?“
Es knisterte am anderen Ende der Leitung. „Ich habe da eine sensationelle Story. Aber ich werde behindert, wo es geht. Zur Zeit werde ich, glaube ich, sogar verfolgt.“
„Wo bist du?“, fragte Hanno.
„Am Ende der Welt, würde ich sagen. Ich brauche dringend Hilfe. Ich brauche Kontakt zu den Medien. Und ich brauche jemanden, dem ich absolut vertrauen kann.“
„Wie kann ich dir helfen?“
„Kennst du Rolaf Heymann?“, konnte er noch fragen, bevor die Leitung unterbrochen wurde.
Hanno Söring nutzte die Unterbrechung, um sich seine angebrannte Fischsuppe aufzutischen. Der Qualm war abgezogen und er konnte das Fenster schließen. Nach den ersten Löffeln befand er, dass er die Suppe gerade noch rechtzeitig gerettet hatte. Sie schmeckte gut. In Gedanken ging er viele Stationen seines Lebens durch, aber auf einen Rolaf Heymann konnte er sich nicht besinnen. Eine Viertelstunde später klingelte das Handy erneut.
„Das Netz ist hier sehr instabil, liegt vielleicht an der Strahlung“, meldete sich Kurt zurück.
„Welche Strahlung?“, wollte Hanno wissen.
„Egal“, antwortete er. „Kennst du Rolaf Heymann nun?“
„Nein, nie gehört, ein ungewöhnlicher Name.“
„Das war er vor vierzig Jahren auch schon. Rolaf ist einer meiner ältesten Freunde und er ist einer der wenigen Menschen, denen ich wirklich vertraut habe. Kannst du einen Kontakt zu ihm herstellen? Von hier aus ist das für mich unmöglich. Du hörst ja, wie gestört die Leitung ist. Manchmal bin ich tagelang ohne Empfang.“
„Wo bist du eigentlich, Kurt? Und was für eine Story ist das, an der du … ?“, fragte Hanno.
„Unwichtig“, schnitt er ihm das Wort ab. „Ich brauche Rolaf. Er ist Meteorologe und arbeitet bei einem Radiosender in Hamburg. Das ist das einzige, was ich weiß.“
„Beim NDR oder wo?“
„Das hat er mir damals nicht gesagt. Du musst es einfach überall versuchen. Jeder Sender hat eine Homepage und wenn er einen eigenen Wetterfrosch beschäftigt, dann wirst du seine Mail-Adresse dort finden: Rolaf Heymann! Tust du das für mich, Hanno? Ich brauche seine Hilfe.“
„Ich will es versuchen“, bestätigte er und die Verbindung brach wiederum ab.
*
„Natürlich beim NDR“, murmelte Hanno zu sich selbst. „Wenn ich mehr Radio hören würde, hätte ich den Namen bei jedem Wetterbericht längst gehört.“ Wie von Kurt beschrieben, hatte er den gesuchten Namen auf der Homepage unter ‘Kontakt’ gefunden. Die Mail-Adresse war für Zuhörer gedacht, die dort Lob und Kritik äußern konnten.
Also tippte er in das Textfeld unter ‘Kontakt’: „Sehr geehrter Herr Heymann! Kurt Kulessa bittet um ihre Hilfe. Rückruf bitte bei Hanno Söring!“ Dahinter notierte er seine Handynummer.
*
Am frühen Vormittag war Inga Heymann allein zur Redaktion gefahren. Es war wolkig und zum ersten Mal in diesem Spätsommer kam es ihr herbstlich kühl vor. Rolaf war zu Hause geblieben. Seinen Text für den Wetterbericht am Vormittag hatte er gestern Abend schon abgeschickt. Darin stand, dass der Sommer noch einmal zurückkommen würde. Sie blickte auf die dicken Wolken und es fiel ihr ein, dass Rolaf bei seinen Prognosen schon oft gelogen hatte. Er wusste eben, dass die Hörer von schlechtem Wetter nichts wissen wollten. Und so hatte er etwas über den bevorstehenden ‘Altweibersommer’ getextet, um die Seelen seiner Zuhörer zu trösten.
Inga betrat den Flur der Redaktion. Wie an jedem Tag musste sie sich auf die nervöse Atmosphäre, das eifrige Herumlaufen der Leute und den ständigen Gesprächspegel erst einstellen. Als sie in dem kleinen Büro von Bernd, dem Nachrichtensprecher, angekommen war, atmete sie durch.
„Hi, Inga!“, begrüßte er sie. „Wir sind in zwei Minuten auf Sendung. Für dich gilt mein Zeichen!“
Sie überflog die Verkehrsmeldungen auf ihrem Monitor. Den Wetterbericht kannte sie seit gestern Abend schon auswendig. Bernd hatte die Nachrichten in drei Minuten abgelesen und dann kam sein Zeichen. Mit ihrer gewohnt gut gelaunten Stimme verlas sie das Wetter und die Meldungen über Verkehrsstörungen. Dann machte sie noch einen vorher abgesprochenen Scherz mit Bernd und hatte nun zwanzig Minuten Zeit bis zur Besprechung für die nächsten Nachrichtensendung.
Inga ging zum voluminösen Kaffeeautomaten, den sich der Sender vor kurzem geleistet hatte, und drückte einen doppelten Espresso.
„Inga!“, sprach sie jemand an. „Ich habe da etwas für Rolaf. Die Hörer-Mails seit gestern auf unserer Homepage waren nichts besonderes: „Cooles Wetter , Scheißwetter“, aber hier hat einer wohl eine echte Nachricht geschickt. Schau doch mal auf deinen Monitor.“
Sie blickte auf ihren Schirm und verstand zuerst nur „Kurt Kulessa“ – der Name von Rolafs altem Schulfreund. Sie las die Mail noch einmal genau durch: ‘Sehr geehrter Herr Heymann! Kurt Kulessa bittet um ihre Hilfe. Rückruf bitte bei Hanno Söring!’ Inga glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Das war doch der Mitschüler aus alten Zeiten, von dem ihr Mann gestern so viel gesprochen hatte? So einen Zufall konnte es gar nicht geben! Sie leitete die Mail sofort an Rolaf weiter. Anrufen konnte sie ihn später noch. In zehn Minuten war es Zeit für die nächsten Nachrichten.
*
Am Vormittag hatte sich Rolaf während eines zweiten Frühstücks über die neusten Wettermodelle für die nächsten Tage informiert und seine Texte für die Nachmittagssendungen etwas abgeändert. Tatsächlich stand aktuell kein Altweibersommer bevor, sondern eine merkliche Verschlechterung. Er versuchte, diese trüben Aussichten in positive Worte zu kleiden, als sein Rechner den Eingang einer Mail anzeigte. Er stieg aus seinem Programm aus und aktivierte die Nachricht.
Danach blickte er minutenlang ratlos auf den Bildschirm: „Kurt Kulessa“. Sein alter Schulfreund, von dem er gestern erst gesprochen hatte, suchte Kontakt zu ihm. Er bat ihn um Hilfe. Hilfe, wobei? Einen Hanno Söring kannte er nicht. Er sah, dass die Mail von seiner Frau aus dem Sender weitergeleitet worden war. Spontan entschied er, der geheimnisvollen Nachricht auf den Grund zu gehen und tippte die angegebene Handynummer in seine Tastatur.
3
Hanno hatte am Vormittag einen weiteren Anruf von Kurt erhalten. Die Besorgnis in seiner Stimme war hörbar stärker geworden. Kurt klang aufgeregt. Er vermisste seinen Fotografen, mit dem er seit ein paar Monaten ein Team bildete. Er fragte erneut nach Rolaf, aber Hanno konnte nur seine Bemühungen schildern, ihn zu erreichen. Schließlich gab Kurt seinen derzeitigen Aufenthaltsort preis: Pripjat. Mehr sagte er nicht. Aber dieser Ortsname genügte, um Hanno erschauern zu lassen. Sofort nach dem Ende des Gesprächs machte er die Datei mit den Fotos auf, die Kurt gestern geschickt hatte. Er hatte sie nicht zuordnen können, zu keinem Ort, den er kannte. Aber jetzt? Er sah die verwahrlosten Plattenbauten, er sah das verrostete Riesenrad und er hatte den Ortsnamen im Kopf – Pripjat. Kein Zweifel: Kurt war am Ende der Welt, wie er es gesagt hatte. Pripjat war die verlassene Geisterstadt in der Nähe des 1986 explodierten Atomkraftwerks Tschernobyl. Hanno wusste, dass der Ort erst nach zwei Tagen evakuiert worden war. So lange hatte man die Menschen der radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Hanno hatte gehört, dass man seit einigen Jahren das Sperrgebiet um Tschernobyl in geführten Gruppen besuchen konnte, jeder ausgerüstet mit einem Dosimeter. Eine merkwürdige Form von Extremtourismus, hatte er immer gedacht. Aber das Reiseportal ‘tripadvisor’ wies im Internet für eine Reise nach Kiew den Ausflug nach Tschernobyl als Top-Sehenswürdigkeit aus. Was wollte Kurt an diesem verseuchten Ort?
Einige Zeit später hörte er einen Gitarrenlauf von ACDC – den Klingelton seines Handys.
„Rolaf Heymann hier. Sie wollten mich sprechen?“ Seine Stimme klang reserviert.
Hanno war überrascht. „Rolaf? Tatsächlich?“, rief er aus. „Ich freue mich, dass es geklappt hat.“
„Was hat geklappt?“, fragte er.
„Mein Versuch, Sie auf der Homepage des NDR zu erreichen.“ Er räusperte sich. „Aber bitte entschuldigen Sie! Ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig.“ Er holte tief Luft und begann. „Ich war mein halbes Leben lang Fotoreporter in Krisengebieten. Gestern hat mich ein alter Kollege angerufen, Kurt Kulessa. Ich kenne ihn von einer gemeinsamen Arbeit in Afghanistan. Kurt scheint in Schwierigkeiten zu sein. Er bat um Hilfe, und zwar um Hilfe durch Sie. Er benötigt einen Menschen, dem er vertrauen kann, sagte er. Und er braucht Kontakt zu den Medien. Sie arbeiten doch beim Radio?“
„Als Meteorologe, nicht als Kriegsreporter“, erwiderte er.
„Offensichtlich hegt Kurt Kulessa ein tiefes Vertrauen für Sie.“
„Worum geht es eigentlich und wo ist Kurt zur Zeit?“, fragte Rolaf.
„Er hat mir nicht erzählt, an welcher Sache er gerade arbeitet.“ Hanno schwieg für einen Moment und entschied, nichts über seine jüngsten Erkenntnisse preiszugeben. „Er arbeitet am Ende der Welt, hat er mir gesagt, mehr nicht.“
„Am Ende der Welt? Also ist Kurt am Nordkap? Oder ist er in Patagonien?“
„Nein“, erwiderte Hanno. „Nach den Fotos zu urteilen, die er mir geschickt hat, ist Kurt zur Zeit in Russland.“
Rolaf hatte allmählich genug von diesem sonderbaren Telefonat. Er holte tief Luft. „Wissen Sie was, Herr Söring? Russland oder Afghanistan sind mir als Reiseziele gleichermaßen unangenehm. Mein alter Schulfreund Kurt ruft mich um Hilfe, wie Sie sagen. Aber er sagt nicht, wo er sich befindet und er sagt nicht, worum es geht.“ Er stand von seinem Stuhl auf und streckte sich. „Ich glaube, ich möchte dieses Gespräch jetzt beenden.“
„Warten Sie!“, rief Hanno. „Wollen Sie nicht mehr erfahren?“ Er atmete heftig. „Ich lade Sie ein zu mir auf die Insel. Ich könnte Ihnen über Kurt viel mehr erzählen.“
„Auf welche Insel?“, fragte er.
„Sylt. Ich habe ein Haus auf dem Ellenbogen. Besuchen Sie mich! Am besten noch heute. Kurt scheint in größeren Schwierigkeiten zu stecken, als ich jetzt sagen kann.“
„Auf Wiederhören, Herr Söring“, Rolaf legte auf.
*
Erst am frühen Nachmittag konnte Inga mit Rolaf den Parkplatz des Senders verlassen. Wie üblich hatten sich ihre Besprechungen länger hingezogen als geplant. Nun konnten sie endlich gemeinsam nach Hause fahren. Es brodelte in ihr, ihn noch einmal nach der geheimnisvollen Mail zu fragen, aber angesichts seiner schroffen Ablehnung vorhin hütete sie sich, dieses Thema anzusprechen.
Beim Espresso zu Hause in der Wohnküche kam es plötzlich aus ihr heraus. „Kurt scheint ein sehr großes Vertrauen zu dir zu haben.“ Ihre grüngrauen Augen fixierten ihn.
„Warum sagst du das?“ Er zog die Stirn in Falten und blickte auf.
„Wegen Hanno Söring. Ich habe ihn am Vormittag angerufen.“ Sie sah auf ihre Espressotasse.
„Du hast mit diesem selbstgefälligen Kriegsfotografen gesprochen?“ Rolaf stand vom Bistrotisch auf, ging ein paar Schritte und drehte sich zu ihr um. „Wahrscheinlich lange vor mir. Dann weißt du ja schon alles. Warum fragst du mich noch?“ Er hob die Hände und sah sie an. „Nein!“, unterbrach er sich. „Du weißt bestimmt schon weitaus mehr als ich.“
„Vermutlich.“ Inga grinste ihn provozierend an. Sie spürte, dass Rolaf ärgerlich geworden war. Aber sie hatte dieses Thema angesprochen und wollte nun auch dabei bleiben. Anders als er glaubte sie nämlich, dass Hanno Söring einen sehr ernst gemeinten Hilferuf übermittelt hatte. „Bitte setz dich wieder zu mir.“ Sie streckte lächelnd ihren Arm nach ihm aus. Rolaf ergriff ihre Hand und nahm Platz. „Und lass mich einfach mal ausreden!“, fügte sie hinzu.
„Ich hatte dich nicht unterbrochen“, entgegnete er und lehnte sich im Hocker zurück.
„Ich war neugierig heute früh. Ich dachte, als ich die Mail gelesen hatte, dass es so etwas gar nicht geben kann. Vorgestern hattest du die Namen deiner Mitschüler von vor fast vierzig Jahren erwähnt, gestern hatten wir über Kurt gesprochen und heute kommt eine Nachricht mit seinem Namen. Das kam mir alles sehr unwirklich vor. Du weißt ja, dass ich einen leichten Hang zur Esoterik habe. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Zufall einen Sinn ergeben muss.“ Sie unterbrach sich kurz.
„Deshalb habe ich vorhin fast automatisch die Rufnummer eingegeben und war selbst ein bisschen überrascht, Hanno Söring am Apparat zu haben. Ich fand ihn übrigens überhaupt nicht selbstgefällig. Er hat mir geschildert, dass dein alter Freund Kurt in einer Notlage sein muss. Sonst hätte Kurt sich nicht bei ihm gemeldet. Weißt du eigentlich, wo Kurt gerade ist?“
„In Russland, hat er gesagt. Mehr weiß ich nicht.“
„Kurt ist in Tschernobyl.“
„Mein Gott!“, entfuhr es Rolaf. „Will er sich umbringen?“
„Nein“, entgegnete sie. „Wie Hanno Söring es sieht, ist er einer Schweinerei auf der Spur. Genauer gesagt ist er in Pripjat. Das ist …“
„Pripjat ist die entvölkerte radioaktive Geisterstadt neben Tschernobyl“, unterbrach er sie. „Soviel weiß ich auch. Das ist ja noch schlimmer!“
Inga lehnte sich zurück und atmete tief ein. „Immerhin fahren täglich hunderte von Touristen dahin.
So richtig schlimm kann es also nicht sein. Gefahr droht Kurt wohl durch etwas anderes, wenn ich Hanno Söring richtig verstanden habe.“
„Was hat er dir denn berichtet?“, wollte Rolaf wissen.
„Kurt arbeitet an einer Reportage über Atommüll. Von den ukrainischen Behörden bekommt er die üblichen Informationen, die er für oberflächlich hält. Wenn er weiter fragen will, wird er behindert, Er glaubt, dass das radioaktive Material nicht sicher gelagert ist. Eigentlich besteht die ganz Zone – so nennen sie das Gebiet um Tschernobyl – aus radioaktivem Material. Zuletzt ist er von Soldaten oder Geheimdienstlern richtig angegangen worden. Er hat Hanno angerufen, weil er Angst vor denen bekommen hatte. Außerdem vermisst er seit gestern seinen Fotografen.“
„Dann soll er nach Hause kommen, verdammt noch mal!“, rief Rolaf. „Eine spannende Story kann er doch jetzt schon schreiben.“
„Da hast du sicher recht. Aber diese Frage stellst du am besten Hanno Söring selbst.“
„Bitte?“, fragte er. „Wie meinst du? Ich soll zu diesem Abenteurer fahren?“
„Fliegen“, antwortete sie. „Er wohnt auf Sylt. Dahin musst du fliegen.“
Er wusste zwar, was sie meinte, schaute sie aber doch überrascht an.
„Schau mal!“ Sie ergriff seine Hand. „Wenn du dieser ganzen Geschichte auch nur eine Spur Ernst beimisst, dann solltest du dich bei Hanno Söring über Kurt erkundigen, über seine Reportage und über die Probleme, in denen er jetzt steckt.“ Sie machte eine Pause. „Du hast an dem Abend nach dem Klassentreffen bei ihm wohl einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Hanno Söring meinte, du wärst der vertrauenswürdigste Mensch, den er kennt.“
„Ich habe doch nur mit ihm über alles möglich gequatscht.“
„Vielleicht geht das auch weiter zurück. Du warst ihm bestimmt ein guter Klassenkamerad.“
„Nach Sylt schaffe ich es heute jedenfalls nicht mehr“, wandte Rolaf ein.
„Doch, schaffst du. Um halb sieben geht der nächste Flieger.“ Sie lächelte.
„Du hast dich … “, staunte er. „ … du bist gut vorbereitet.“
„Ja, bin ich“, grinste sie. „Du hast doch nichts anderes von mir erwartet.“
Rolaf stand auf, ging einmal um die Kochinsel herum und stützte seine Hände auf der Herdplatte ab. „Vielleicht hast du recht“, sagte er quer durch die Küche. „Es interessiert mich schon, was mein alter Freund macht und was er ausgerechnet von mir will.“ Rolaf lächelte. „Weißt du, Inga! Früher – in der Schule – hat Kurt mich oft aus Kloppereien heraus gehauen.“ Er schwieg einen Moment lang. „Egal, was ich von diesem Kriegsreporter halte. Ich kann es ja einfach mal versuchen.“
Er rief bei der Fluggesellschaft an und orderte ein Ticket nach Sylt.
4
Hanno Söring hatte noch schnell ein Schild mit dem Namen „ROLAF“ angefertigt, nachdem Inga Heymann ihn von der bevorstehenden Ankunft ihres Mannes informiert hatte. Diese Nachricht hatte ihn außerordentlich erleichtert. Dann war er zum Flugplatz nördlich von Westerland gefahren.
Zwanzig nach sieben landete die kleine zwölfsitzige Maschine. Hanno kam sich mit seinem Schild, das er in der Empfangshalle in die Höhe hielt, etwas komisch vor – fast wie ein Hotelier, der seine Gäste abholte. Aber die beiden hatten sich ja noch nie gesehen.
Rolaf stieg in der Kluft eines Inselurlaubers aus dem Flugzeug: Trekkingschuhe, Jeans, hellgrüne Wolfskin-Jacke. Er musterte die Wartenden in der Halle und sah das Schild mit seinem Namen. Amüsiert stellte er fest, dass er diesen Mann mit den langen weißen Haaren auch ohne Schild als ersten angesprochen hätte. Sein Gesicht mit dem braunen Teint, in dem die wasserblauen Augen leuchteten, schien ihm passend für jemanden, der weit in der Welt herumgekommen ist.
„Herr Söring?“, fragte Rolaf mit ausgestreckter Hand.
„Ich bin Hanno“, entgegnete er lächelnd und griff seine Hand. „Ich würde mich freuen, wenn wir uns duzen.“
„Gern.“ Er lachte. „Dass ich Rolaf heiße, steht ja schon auf deinem Schild.“
Auf der zehnminütigen Fahrt zum Ellenbogen berichtete Hanno alles, was es seit heute früh an Neuigkeiten über Kurt zu erzählen gab. Bei der Einfahrt auf die Privatstraße kurz hinter der Weststrandhalle stieß Rolaf einen ungläubigen Ruf aus. Die Abendsonne warf ihr gelb-orangenes Licht auf die Dünen, die in einem Halbkreis bis zum Ende der Landzunge unwirklich leuchteten.
„Ein Grund, warum ich froh bin, hier leben zu dürfen.“ Hanno streckte den Arm aus und wies mit der Hand auf die Dünen, in einem Bogen die ganze Windschutzscheibe entlang. „Bei euch in Hamburg hat es wahrscheinlich geregnet.“
Rolaf nickte stumm und war mit seinen Augen nur bei diesem Naturschauspiel.
„Hier wohne ich“, sagte Hanno und zeigte auf ein kleines, in den Dünen verstecktes Haus. „Aber ich schlage vor, dass wir einen Strandspaziergang machen – dahinten, wo die Welt zu Ende ist.“
Die Straße endete an einem weitläufigen Parkplatz, der um diese Tageszeit fast völlig leer war.
Rolaf blickte zurück. Die untergehende Sonne tauchte die Dünenlandschaft jetzt in ein rötliches Licht.
„Komm mit!“ Hanno zeigte auf einen sandigen Weg. „Wir gehen wirklich zum Ende der Welt.“
„Und da treffen wir Kurt“, lachte er. „Du hast mir heute früh gesagt, dass er dort ist.“
Zielstrebig marschierte Hanno auf dem Sandweg bis zum Scheitelpunkt der Dünen. Von dort aus konnte man den Strand sehen und die mit der Flut heranrollende Brandung hören. In der Ferne sah man die Lichter des dänischen Festlandes und der Insel Römö. Wenn man sich etwas nach Westen drehte, wo die Sonne gerade hinter dem Horizont verschwunden war, sah man List mit den Lichtern des Fährhafens. Die Dünen waren nur noch dunkle Schemen.
„Kurt ist leider nicht hier, aber da unten am Strand ist Deutschland zu Ende. Der Ellenbogen ist der nördlichste Punkt. Lass uns runtergehen.“
Mit jedem Schritt dem Strand entgegen wurde das Geräusch der heranschlagenden Wellen lauter.
Der Sand strahlte noch spätsommerliche Wärme ab, der Wind hatte fast ganz nachgelassen.
„Du hast einen Sinn für Inszenierungen.“ Rolaf lächelte in der beginnenden Dämmerung und sah hinaus aufs Meer. „Aber mal zur Sache: Was macht Kurt im radioaktiven Tschernobyl?“
„Ich habe dies nicht inszeniert“, erwiderte Hanno lächelnd. „Das hat die Natur allein getan.“ Er schwieg eine Zeit lang und ging im Sand weiter. „Kurt arbeitet an einer Story über Atommüll, das heißt eigentlich über illegalen Umgang mit Atommüll. Es ist das beste Pflaster für seine Recherche, da die ganze Gegend dort aus Atommüll besteht.“ Er zeigte ein spöttisches Grinsen und ging weiter. „Der Ort Pripjat, von dem er sich gemeldet hat, ist nicht umsonst evakuiert worden. Es strahlt dort auch heute noch. In den Häusern darf man nicht einmal eine Nacht verbringen.“
„Das weiß ich“, sagte Rolaf, während er hinter ihm her den Strand entlang ging. „Was heißt ‘illegaler Umgang mit Atommüll’? Ich dachte immer, die räumen alles auf. Sie bauen ja sogar ein neues Dach über den Sarkophag.“
„Ja, das tun sie“, lachte Hanno. „Und damit stoppen sie vielleicht das Schlimmste. Aber das andere Zeug. Was sollen sie denn mit den verstrahlten Autos tun, oder mit den Helikoptern, die damals genau über das Kraftwerk geflogen sind? Es gibt keine Endlagerstätte für diesen ganzen Müll.“
„Das war nicht meine Frage, Hanno.“ Allmählich kamen sie auf ihrer Ellenbogen-Umrundung wieder dem Parkplatz näher. „Was hat Kurt über illegale Entsorgung zu berichten?“
„Ich weiß es nicht. Er hat nicht darüber gesprochen.“ Hanno ging auf sein Auto zu. Inzwischen war es fast dunkel. „Aber es gibt für mich nur eine logische Antwort.“ Er hielt Rolaf die Wagentür auf. „Lass uns zu mir nach Hause fahren. Der Tag ist vorbei.“
„Hier kannst du deinen Rucksack abstellen.“ Hanno zeigte ihm die kleine Kammer in seinem Bungalow, die nur mit einem Bett und einem Stuhl möbliert war. Die Aussicht durchs Fenster auf die Bucht bis hin nach List war großartig. „Das ist mein Gästezimmer.“
Das Wohnzimmer seines Hauses war dagegen groß und geräumig. Sein Panoramafenster zeigte zur Terrasse, von der man auf die gesamte Bucht blicken konnte. Nach hinten heraus lagen die Küche und sein Schlafzimmer, mit Blick in die Dünen.
„Ich habe in meinem Leben eine ganze Menge gelernt. Kochen gehört leider nicht dazu. Ich mache uns ein paar Scheiben Brot mit Lachs. Solange kannst du dir die Fotos von Kurt ansehen.“
Hanno klickte auf der Tastatur seines Laptops und schon erschien ein Bild, das heruntergekommene Plattenbauten in einem Birkenwald zeigte. Rolaf klickte die Fotos weiter: noch ein Birkenwald, ein verrostetes Riesenrad und ein Autoskooter wie auf einem Rummel, ein paar übereinander gestapelte Schrottautos und ein großes Gebäude mit einem Sowjetstern unter dem Dach.
„Das ist das Hotel“, erklärte Hanno, der einen Teller mit Lachsschnittchen und zwei Flaschen Bier in der Hand hielt. „Pripjat war ein luxuriöser Ort.“
„Was ist deine logische Antwort?“, fragte Rolaf.
„Antwort worauf?“, erwiderte Hanno, der im Moment nicht wusste, worauf er hinauswollte.
„Du hast vorhin gesagt, Kurt hat über illegalen Umgang mit Atommüll recherchiert, aber weiter nichts erzählt. Es gäbe nur eine logische Antwort.“ Er lehnte sich zurück. „Das habe ich gemeint.“
Hanno stellte die Schnittchen und das Bier auf den Tisch und beugte sich zum Laptop.
„Schau mal, Rolaf. Das Hotel, die Häuser, die Autos und so weiter: Eigentlich ist alles Atommüll, was du siehst. Sie können zwar Touristen in die Zone hineinlassen für einen Tag, aber leben kann dort niemals jemand mehr. Diese ganze Sperrzone mit jedem Baum und Strauch ist ein einziges Entsorgungsproblem. Aber kümmern tun sie sich nur um ein neues Dach auf dem Reaktor – Arche nennen sie es. Schöner Name! Der alte Sarkophag ist nämlich nach dreißig Jahren von innen heraus schon ganz schön zerfressen. Alles andere hier draußen verwahrlost vor sich hin. Kein Mensch kann sich um die Entsorgung einer ganzen Stadt kümmern.“ Er machte eine Pause, wies mit der Hand auf die Brote und öffnete die Bierflaschen. „Ich glaube, Kurt ist dahinter gekommen, dass von diesem radioaktiven Müll etwas wegkommt.“
„Wegkommt?“, wiederholte Rolaf. „Das verstehe ich nicht.“
„Ich verstehe es auch nicht“, entgegnete Hanno. „Aber nun iss doch erstmal was!“ Er griff zu den Schnittchen, nahm das Bier und prostete ihm zu. Eine Weile aßen sie schweigend.
„Womit soll ich Kurt helfen?“, fragte Rolaf auf einmal. „Er muss doch nur selbst nach Hause kommen und seine Reportage machen.“
„Er ist noch nicht fertig, glaube ich“, war Hannos Antwort. „Er ist etwas Größerem auf der Spur.“
„Und was kann ich dazu tun?“
„Einen schlechten Wetterbericht schreiben.“ Hanno lächelte. Um seine hellblauen Augen waren zahllose kleine Lachfältchen zu sehen.
„Bitte?“ Rolaf verstand nicht.
„Davon hat Kurt mir mal erzählt. Du hättest ihm geraten, dass die Hörer keinen schlechten Wetterbericht mögen. Er aber hat jetzt schlechte Nachrichten. Du sollst an seiner Recherche teilhaben und sie gegebenenfalls übermitteln, falls er selbst nicht dazu kommt.“
„Klingt bedrohlich“, murmelte Rolaf zu sich.
„Nach Bedrohung klang es bei Kurt zuletzt tatsächlich.“ Hanno griff noch einmal zur Bierflasche. „Er wurde von den Behörden behindert, fühlte sich ständig beobachtet und gestern hat er in Pripjat sogar eine richtige Auseinandersetzung mit Geheimdienstlern gehabt. Außerdem vermisst er seit zwei Tagen seinen Fotografen.“ Er atmete tief ein. „Keine Frage: Kurt steckt in einem Schlamassel, bei dem er dringend Hilfe braucht, deine Hilfe.“
„Gibt es keine deutsche Botschaft in Kiew, die er ansprechen kann?“
„Vermutlich ist die Sache dafür zu brisant.“ Hanno lehnt sich zurück. „Als ich noch aktiv war, war ich ein paarmal in so ähnlichen Situationen.“ Er stöhnte und schüttelte den Kopf.
„Die Botschaft hilft dir, wenn du deinen Pass verloren hast oder dir alles geklaut worden ist. Wenn du deine Nase aber in eine politische Angelegenheit gesteckt hast, dann rät dir die Botschaft nur dringend damit aufzuhören, damit es keinen Ärger gibt. Und aufhören ist nun einmal etwas, das ein Journalist nicht kann, wenn er einer Story auf der Spur ist.“
Es trat eine Pause im Gespräch ein. Rolaf musste nachdenken. Worauf lief das hinaus, was er bis jetzt gehört hatte? Illegaler Umgang mit Atommüll war politischer Sprengstoff oder kriminelles Treiben. Vielleicht war sein alter Schulfreund tatsächlich in Gefahr. Aber wie sollte er selbst, ein Meteorologe beim Radio, ihm aus dieser Gefahr heraushelfen können? War es ein gutes Argument, dass er der einzige Mensch war, dem Kurt Kulessa vertraute? Sollte er wirklich hinter ihm her nach Tschernobyl reisen?
„Was erwartest du von mir?“, fragte er schließlich.
„Nichts, was du nicht selbst willst.“ Er blickte ihn gleichmütig an. „Du kennst Kurt viel länger als ich. Wie vertraut du mit ihm bist, weißt nur du allein. Du wirst selbst entscheiden, ob du ihm helfen willst. Ich kann dich dabei nur unterstützen.“
„Soll ich zu Kurt fahren?“
Hanno schwieg und sah ihn ohne erkennbare Regung an. Seine entspannte, positive Ausstrahlung reichte allerdings auch ohne Worte aus, um Rolaf einer Entscheidung näher zu bringen.
„Ich muss mit Inga sprechen“, brachte er hervor und ging auf die Terrasse.
Das Tippen der 1 auf dem Speicher seines Handys reichte, um den Ruf zu ihr zu aktivieren.
„Hi, Inga!“, meldete er sich. „Ich spreche seit Stunden mit Hanno Söring. Und nun möchte ich gern etwas von dir wissen. Du hast mich doch neulich gefragt, ob ich neidisch bin auf so ein abenteuerliches Leben wie Kurt es führt?“
„Ja, ich erinnere mich“, antwortete sie.
„Meine Antwort ist nein. Ich bin nicht sehr scharf auf Abenteuer. Aber ich möchte zu ihm fahren. Es klingt so, als ob er mich dringend braucht. Es ist …“, unterbrach er sich kurz. „Ich empfinde so eine Art Verpflichtung für Kurt. Ohne Grund hat er sich nicht ausgerechnet an mich gewandt.“
„Ich verstehe, was du meinst“, entgegnete sie. „Ich hatte gleich ein gutes Gefühl bei Hanno. Du musst jetzt das tun, was du für richtig hältst. Ich bin hundertprozentig bei dir. Ich könnte zum Beispiel deinen Koffer packen.“ Inga lachte.
„Vielleicht kannst du morgen für mich Urlaub beantragen. Der war ohnehin schon lange fällig.“
„Klar, mach ich“, versicherte sie.
„Ich habe nur Sorgen wegen meiner Manuskripte für den Wetterbericht …“
„Die können auch andere schreiben“, unterbrach sie ihn. „Weißt du eigentlich, wie lange ich schon deine Texte verlese? Glaubst du nicht, ich kann die für ein paar Tage auch mal selbst schreiben?“ Sie sagte eine Zeit lang nichts. „Da hatte ich doch nicht so unrecht mit meinem esoterischen Tick. Es konnte kein Zufall sein, dass du dich an deinen alten Schulfreund erinnerst und ein paar Tage später sendet der eine Meldung an dich.“
„Vielleicht stimmt das“, entgegnete er. „Also Inga: Ich melde mich später noch mal. Ciao!“
Er sah zum Sternenhimmel über den Dünen, atmete tief durch und ging ein paar Schritte auf die leere Straße hinaus.
„Ich bin bereit“, sagte Rolaf, als er wieder ins Haus trat.
Hanno stand auf, ging auf Rolaf zu und umarmte ihn. „Das hatte ich mir gewünscht.“
Er holte noch zwei Flaschen Bier aus der Küche und stieß mit ihm an. „Jetzt müssen wir planen!“, sagte Hanno mit erhobener Stimme. „Du musst zunächst nach Kiew. Dorthin gibt es morgen kein Flugzeug, das weiß ich.“ Er dachte kurz nach. „So komisch es klingt: Die schnellste Verbindung ist morgen der Fernbus vom ZOB in Hamburg aus. Der Bus fährt immer um zehn Uhr los und ist am nächsten Tag um zwölf in Kiew. Die Haltestelle liegt in der Nähe vom Maidan-Platz. Den kennst du wahrscheinlich aus den Nachrichten. Dort nimmst du deine Unterkunft am besten im „Dnipro – Hotel“. Das ist riesengroß, günstig und organisiert täglich Fahrten mit einem Kleinbus nach Tschernobyl. Diese Touren sind zur Zeit ein Renner.“
„Woher weißt du das alles so genau?“, wunderte sich Rolaf.
„Ich bin gut vorbereitet. Seit Kurt mich zum ersten Mal kontaktiert hat, habe ich nach Wegen gesucht, ihn zu erreichen. Außerdem war ich schon mehrere Male in Kiew, zum letzten Mal vor zwei Jahren zur Zeit der Demonstrationen.“ Er zog die Augenbrauen zusammen. „Das war wirklich gefährlich damals. Die Regierungstruppen haben scharf geschossen, oder die Rechtsradikalen. Wer weiß das schon? Ich habe aus nächster Nähe Fotos gemacht, die ich mir heute nicht mehr ansehen möchte.“
„Was hältst du davon, wenn du mitkommst?“, fragte er.
„Nein!“ Hanno schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bin im Ruhestand. Ich werde dich von hier aus
so gut unterstützen wie ich kann. Dies hier … “, zeigte er mit der Hand auf sein Laptop auf dem Schreibtisch, neben dem das Handy lag. „ … ist meine Schaltzentrale. Von hier aus kann ich dir besser helfen, als wenn ich mit dir reisen würde.“
Rolaf blickte ihn fragend an.
„Eins muss ich dir noch mitgeben für deine Fahrt.“ Hanno bückte sich zu einer Schublade im Schreibtisch und kramte. Dann hielt er ein Mobiltelefon in der Hand, aus dem eine kurze Antenne herausragte. „Dies ist ein Satellitentelefon. Damit kannst du von überall aus telefonieren, egal ob du ein Netz hast. Es hat mir in abgelegenen Gegenden schon oft geholfen. Ich schenke es dir.“
„Das, … das …“ Er nahm das Gerät in die Hand. „Dieses Handy kostet mindestens tausend Euro!“
„Du wirst es brauchen können. Ich habe ein paar wichtige Verbindungen schon eingegeben. Die Nummer von Inga als erstes, dann die der Redaktion. Meine Handynummer ist drauf und sogar die von Kurt. Aber der wird keine Anrufe entgegennehmen.“ Hanno schmunzelte, als er sah, wie andächtig Rolaf das Gerät anschaute. „Du solltest ein bisschen üben, damit umzugehen. Zum Beispiel könntest du Inga sagen, dass du morgen um halb neun in Fuhlsbüttel bist.“
„Um halb neun?“, fragte er.
„Richtig. Eineinhalb Stunden bis zur Abfahrt vom ZOB. Viertel vor acht fliegst du hier los.“ Hanno lachte. „Viel können wir nicht mehr trinken. Du hast morgen einen langen Tag.“ Er holte noch zwei Flaschen Bier aus der Küche.
6
Vor dem Frühstück um sieben Uhr versicherte sich Rolaf an der Rezeption noch einmal der Gültigkeit seines Tickets für die Tagestour. Die Angestellte sprach in fließendem Englisch mit ihm und legte die notwendigen Papiere für die Fahrt nach Tschernobyl auf den Tresen. Daneben stellte sie ein Messgerät, wie es jeder Besucher der Zone vom Veranstalter erhielt. Das Gerät war ein Dosimeter, das die radioaktive Strahlung in Millisievert anzeigte. Offenbar sollten die Teilnehmer der Exkursion Klarheit über ihr persönliches Risiko haben, wenn sie sich während ihres Ausflugs allein bewegten. Zur Zeit war auf der Anzeige der Wert von 2,1 mSv zu lesen. Das war nach Rolafs Wissen so normal wie auf dem Hamburger Rathausmarkt.
Gegen acht sammelte sich eine kleine Gruppe Touristen um die drei weiß lackierten Kleinbusse, die vor dem Hotel standen. „Tschernobyl – Pripjat“ stand auf einem Schild, das hinter der Frontscheibe angebracht war. Mit einer gewissen Skepsis musterte Rolaf seine Mitreisenden. Eigentlich hielt er nichts von dieser Sorte Katastrophen-Touristen.
„Hi, I’m Pete“, begrüßte ihn mit ausgestreckter Hand ein Amerikaner. „Now we see the greatest nuclear disaster on earth.“ Pete wirkte begeistert. Eine große Kamera hing ihm von der Brust herab.
„A disaster, really“, entgegnete Rolaf. „Aber Radioaktivität kannst du nicht fotografieren.“
Pete verstand nicht und sah ihn ratlos an.
Andere Teilnehmer der Exkursion standen unschlüssig um die Busse herum, warfen verstohlene Blicke auf die Mitfahrer und schienen auf jemanden zu warten.
„Dobre djen!“, hörte man die sonore Stimme eines schwarzhaarigen jungen Mannes in Jeans und Windjacke mit dem Logo der Reisegesellschaft, der lächelnd auf die Gruppe zuging. In seinen Haarschopf hatte er eine Sonnenbrille gesteckt, in der linken Hand hielt er ein Klemmbrett mit den Anmeldezetteln der Gäste. Der Mann baute sich in der Mitte der Teilnehmer auf, hob den rechten Arm und wartete, bis die Gruppe sich um ihn versammelt hatte.
„Hello, good morning!“, grüßte er mit Dynamik in der Stimme. „My name is Boris Artjomowitsch, your guide on our trip to Tschernobyl and Pripjat. Welcome!“ Er verbeugte sich leicht. „Please call me Boris!“ Mit einem gewinnenden Charme verlas er aus seinen Unterlagen die Namen der Mitreisenden und wies sie den drei Kleinbussen zu. Jeden der Gäste bat er, den Reisepass und die Buchungsbestätigung vorzuzeigen. Nach kurzer Zeit waren die Busse voll besetzt.
Rolaf sah sich um, als die kleine Karawane losfuhr. Er blickte zurück zum Hotel und zur Straße, die zum Maidan-Platz führte. Dort war Victors Restaurant. Er verspürte Aufregung bei dem Gedanken, auf den Straßen von Kiew jetzt zu diesem mysteriösen Ort aufzubrechen. Abenteuerlust erfasste ihn, wenn er – von innen seitenverkehrt – das Schild mit der Aufschrift „Tschernobyl“ las. Er schaute sich im Bus um und sah sich seine Reisebegleiter an. Pete war in seinem Bus gelandet und saß ganz hinten, gemeinsam mit zwei Australiern, die jetzt schon ihr Dosimeter in der Hand hielten und sich über die Messwerte unterhielten. Davor saßen zwei Japaner, beide in einen Reiseführer vertieft, von dem sie aufblickten und gestikulierten, wenn ihnen im Vorbeifahren etwas bekannt vorkam. Eine junge Frau döste mit Kopfhörer zwei Reihen hinter ihm vor sich hin. Die beiden kultiviert aussehenden russischen Pärchen hinter ihm redeten beständig miteinander und zeigten auf irgendetwas durch die Fenster. Rolaf hatte zum Glück einen Platz in der ersten Reihe erhalten, hinter dem Reiseleiter und neben einem schweigsamen Polen.
Auf der Fernstraße, die aus Kiew heraus nach Norden führte, begann Boris seine Moderation. Er sagte, dass die Fahrt etwa zwei Stunden dauern würde und dass es Instruktionen für die Sperrzone später gäbe. Zunächst legte er eine DVD mit einer Dokumentation über den Reaktorunfall von 1986 ein, die sich die Gäste auf einem Fernsehschirm anschauen konnten.
Rolaf sah Birkenwälder an sich vorbeirauschen, ab und zu mal ein Dörfchen, dann wieder Wälder, er blickte zum Fernsehschirm und schlief in seinem Sitz ein.
Nach einer Weile schmerzte sein Nacken, genau wie vorgestern im Fernbus. Er zuckte hoch. Die Dokumentation war längst zu Ende. Er reckte seine Glieder und sah sich um. Die Gespräche im Bus waren inzwischen verstummt. Die Reisenden blickten mit einer widersprüchlichen Mischung aus Spannung und Langeweile ziellos aus dem Fenster. Es zogen immer wieder Waldstücke und Felder vorbei.
Boris meldete sich am Mikrofon und erklärte den weiteren Ablauf. Man würde den ersten Stopp in Tschernobyl machen und ein Museum besuchen. Die Gelegenheit zu einem Imbiss würde es dort auch geben. Danach wäre die Weiterfahrt zum Geisterort Pripjat vorgesehen und schließlich würden sie in der Nähe des Unglücksreaktors halten.
Boris wandte sich daraufhin den Instruktionen für das Verhalten in der Sperrzone zu. Er hob hervor, dass die Exkursion gesundheitlich völlig unbedenklich wäre, solange sich die Teilnehmer an die Verhaltensregeln hielten. Er riet dazu, das Dosimeter immer eingeschaltet bei sich zu tragen und bei steigenden Anzeigen sofort den Rückweg anzutreten. Die wichtigste Grundregel wäre – sagte er dann – nichts anzufassen: keine Bäume, keine Hauswände und auf keinen Fall den Erdboden. Die Bäume zum Beispiel würden sich seit Jahrzehnten in einem radioaktiven Kreislauf befinden. Der Regen wasche radioaktive Partikel von ihnen ab und spüle sie ins Erdreich. Von dort würden sie durch die Wurzeln wieder in den Baum zurückgeführt. Derselbe Effekt würde auch bei belasteten Blättern auftreten, die im Herbst zu Boden fallen und eine verstrahlte Mulchdecke bilden. Mit der Zeit kehre die Strahlung von dort aus wieder in den Baum zurück. Das Berühren von Gegenständen aus Metall sollte absolut tabu sein. Metall speichere radioaktive Partikel besonders lange.
Boris erwähnte eine weitere Regel: nichts über Mund und Nase aufnehmen. Besonders vor Staub in Gebäuden warnte er. Aber auch Essen und Trinken sollten die Gäste nur im Restaurant oder im Bus, auf keinen Fall draußen im Freien. Nach dem Passieren der 30-Kilometer-Zone würde er jedem einen Mundschutz aushändigen.
Boris beschloss seine Instruktionen mit einem Hinweis: „Ich mache diese Touren in die Zone jetzt seit zwei Jahren und beobachte immer dieselbe Entwicklung bei den Teilnehmern. Wenn wir in Tschernobyl zum ersten Mal aussteigen, werdet ihr kaum zu atmen wagen. So groß ist eure Angst vor der Strahlung. Aber wenn wir zwei Stunden später in Pripjat sind, wollt ihr alles anfassen und am liebsten auf dem Rasen Fußball spielen, weil eure Angst verflogen ist. Radioaktivität sieht man nicht, riecht man nicht und schmeckt man nicht. Wenn sie nach Schwefel stinken würde, würdet ihr vor Ekel weglaufen. Ich möchte euch bitten, den Gedanken an Ekel zu bewahren, wenn ihr auf euer Dosimeter schaut.“
Wenige Minuten später fuhren sie langsam an einem Schild vorbei – rot auf gelb – das Warnzeichen für Radioaktivität. Es folgten Warnschilder in russischer und englischer Sprache, die den Beginn der Sperrzone ankündigten. Dann war ein Schlagbaum zu sehen. Zwei Offiziere kamen aus ihrem Wachhäuschen heraus und gingen auf die Busse zu. Die Passagiere mussten ihre Pässe und die Buchungsbestätigung vorzeigen. Die Offiziere hielten eine Kopie der Anmeldungen in der Hand und verglichen die Namen. Nach etwa einer Viertelstunde nickte einer von ihnen und machte einem Soldaten ein Zeichen. Der Schlagbaum ging hoch. Sie fuhren in die 30-Kilometer-Zone ein.
Rolaf blickte mit jedem Meter, den sich der Bus auf der löcherigen Betonpiste weiter bewegte, gespannt aus dem Fenster. Er befand sich jetzt in dem, was manche Leute zu Hause „Todeszone“ nannten. Er versuchte, Veränderungen im Bild der Natur zu erkennen, die an ihm vorbeizog. Er hatte von Mutationen bei Flora und Fauna gelesen, die der Atomunfall bewirkt hatte. Seine Phantasie suchte nach Riesenwölfen und Wäldern mit rotem Laub. Stattdessen sah er dieselben Birkenwälder wie in den letzten Stunden. Das Ortsschild von Tschernobyl war zu sehen. Rolaf hatte bemerkt, dass einige seiner Mitreisenden nach dem Passieren des Schlagbaums ihre Kameras in Bereitschaft hielten. Beim Ortsschild klickten nun alle Apparate. Nur der ruhige Pole neben ihm fotografierte nichts, ebensowenig die junge Frau mit den Kopfhörern.
Während der Bus in den Ort hineinfuhr, wunderte sich Rolaf darüber, wie belebt Tschernobyl war. In diesem Ort, dessen Name für alle Welt den atomaren Tod bedeutete, lebten viele Menschen.
Später hörte er, dass sie alle Angestellte des längst abgeschalteten Kraftwerks waren, das weiterhin gewartet und überprüft werden musste.
Boris teilte an jeden einen Mundschutz aus, kurz bevor der Bus auf einem zentralen Platz anhielt.
Er wies darauf hin, dass für die Gruppe zunächst der Besuch im Museum vorgesehen wäre. Das Verhalten der meisten Teilnehmer zeigte sich so, wie Boris es vorhin vorhergesagt hatte. Der Pole und die beiden Australier legten sofort den Mundschutz an. Die Japaner zögerten beim Aussteigen, verließen mit Mundschutz als letzte den Bus und hatten die Augen stets auf das Messgerät gerichtet. Die beiden Ehepaare aus Russland hielten sich dicht bei Boris und stellten ihm Fragen. Pete war als erster ausgestiegen und erkundete bereits den Platz, hatte aber immer sein Dosimeter in der Hand. Rolaf hatte das Gerät weggesteckt, nachdem er 2,5 Millisievert abgelesen hatte – ein Wert wie zu Hause. Völlig unbekümmert ging die junge Frau umher, die ihre Kopfhörer inzwischen abgelegt hatte.
Vor dem Neubau des kleinen Tschernobyl-Museums hob Boris den rechten Arm und wartete, bis sich seine Gruppe und die Besatzung der beiden anderen Busse um ihn geschart hatte.
Die Besichtigung begann mit einer Computeranimation aus dem Inneren des Reaktors am 26. April 1986, dem Unglückstag. Technische Einzelheiten der fehlerhaften damaligen Konstruktion wurden erklärt. Es wurde auch gesagt, dass die eigentliche Betriebsgenehmigung für das Kraftwerk damals nicht vorgelegen hatte. Rolaf, der kein ausdauernder Museumsbesucher war, schüttelte den Kopf und ging allein weiter. Er sah sich eine Puppe mit der Kleidung der bedauernswerten Liquidatoren an, der Soldaten, die damals zu Hunderten auf das Dach des Reaktors geschickt worden waren. Er ging zügig an einer Fotogalerie von Verstorbenen der Strahlenkrankheit vorbei. Als ein Modell des neuen Sarkophags sein Interesse weckte, stellte er fest, dass er weit vor seiner Gruppe war. Er sah sich das Modell an – ein ungeheures Bauwerk – und verließ das Museum.
Minutenlang schaute Rolaf sich um, als er draußen in der Ortsmitte von Tschernobyl stand. Nie hätte er sich vorgestellt, dass er in diesem Inbegriff von Katastrophe und Tod ein solch lebhaftes Treiben vorfinden würde. Dies war nicht das Ende der Welt. Hier liefen Spaziergänger über den Platz und Autos fuhren herum. Es gab einen kleinen Supermarkt und ein Restaurant. Menschen unterhielten sich und lachten. Rolaf wusste, dass diese Menschen alle zwei Wochen ausgetauscht wurden. Ein Daueraufenthalt war in Tschernobyl nicht möglich. Rolaf wusste auch, dass in diesem scheinbar normalen Stadtbild etwas fehlte, etwas, das man erst auf den zweiten Blick bemerkte. Es gab keine Kinder in diesem Ort.
Er schlenderte auf das Restaurant zu und bestellte sich einen Kaffee. „Unwirkliche Szenerie“, dachte er: am späten Vormittag entspannt im Restaurant bei einer Tasse Kaffee zu sitzen, nicht auf der Mönckebergstraße in Hamburg, sondern in der Ortsmitte von Tschernobyl. Dann fiel ihm ein, dass es ein günstiger Zeitpunkt wäre, bei Hanno anzurufen.
„Guten Morgen, Rolaf“, meldete er sich sofort. „Du bist gerade angekommen, schätze ich.“
„Ja“, bestätigte er. „Ich bin in Tschernobyl. Du wirst es nicht glauben. Es herrscht hier die gleiche Strahlenbelastung wie bei uns zu Hause.“
„Das wundert mich nicht“, erwiderte Hanno. „Die Strahlung schwankt sehr stark in der Zone. Es ist wie bei einem Flickenteppich. Behalte weiter dein Dosimeter im Auge.“
„Mache ich. Keine Sorge! Jetzt bin ich aber gespannt darauf, Kurt zu treffen. In einer Stunde etwa müsste es soweit sein. Dann sind wir in Pripjat.“
„Kurt hat mir vorhin eine Mail geschickt.“ Er räusperte sich. „Er fühlt sich verfolgt, schreibt er. Ein paar interessante Fotos hat er angehängt. Ich schicke sie dir aufs Handy.“
„Weiß Kurt, dass ich auf dem Weg zu ihm bin?“, fragte Rolaf.
„Das weiß er schon seit vorgestern“, antwortete Hanno. „Aber vorhin habe ich ihm geschrieben, dass du bald in Pripjat eintreffen müsstest. Geantwortet hat er darauf nicht mehr.“
„Ich melde mich wieder, wenn ich deine Fotos gesehen habe.“ Rolaf beendete das Gespräch und verließ das Restaurant.
Er ging langsam zu den weißen Kleinbussen. Der Fahrer nickte ihm freundlich zu und Rolaf stieg ein. Von seinem Platz in der ersten Reihe blickte er ungeduldig auf die Tür des Museums. Er wollte endlich weiter nach Pripjat. Das Klemmbrett von Boris lag auf der Ablage hinter der Scheibe. Da er im Moment nichts Besseres zu tun hatte, stand er auf und warf einen Blick auf die Liste der Mitreisenden. Seinen eigenen Namen las er und den von Pete. Er sah bei vier Gästen kyrillische Buchstaben. Darunter standen die zwei Japaner. Und dann erschrak er. Er las den nächsten Namen zweimal und sprach ihn halblaut aus: „Jule Kulessa“. Das musste die junge Frau mit den Kopfhörern sein. „Kulessa“, dachte er. So einen Zufall konnte es nicht geben. Dieser Name war alles andere als geläufig.
Ein paar Minuten später kam die Gruppe aus dem Museum heraus. Rolaf stieg aus dem Bus und ging auf sie zu.
„Entschuldigen Sie bitte!“, rief er. „Frau Kulessa?“
„Ja“, antwortete sie überrascht und hob ihren Kopf.
„Haben Sie zu tun mit einem Kurt Kulessa?“ Sie standen sich jetzt gegenüber.
„Ich habe mit niemandem etwas zu tun“, war ihre Antwort. „Wer will das wissen?“
„Mein Name ist Heymann, Rolaf Heymann. Ich bin ein alter Schulfreund von Kurt.“ Er überlegte, ob er er ihr gleich die Wahrheit sagen wollte und entschied sich dann spontan. „Kurt hat mich um Hilfe gerufen, von Pripjat aus. Deshalb bin ich hier.“
„Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“, sagte sie unbewegt. „Vielleicht eine zufällige Namensgleichheit.“ Mit einem angedeuteten Lächeln ging sie auf den Bus zu.
Sie fuhren jetzt auf die Geisterstadt Pripjat zu. Während der Viertelstunde, die die Fahrt dahin dauerte, sah Rolaf sich die soeben von Hanno übersendeten Fotos an. Beim ersten Bild musste er fast lachen. Es war ein Selfie von Kurt mit dem Autoskooter von Pripjat im Hintergrund. Beim genaueren Hinsehen bemerkte er, dass Kurt älter geworden war. Weiße Strähnen durchzogen seine schwarzen Haare ebenso wie seinen dichten Bart. Ein anderes Foto zeigte einen Stapel von Schrottautos. Im Hintergrund sah man das Rotorblatt eines Helikopters. Auf dem nächsten Bild erkannte er einen Container, halb gefüllt mit Metallschrott. Rolaf konnte sich den Zusammenhang dieser Bilder nicht erklären. Dann sah er eine Person auf einem Bild, nicht Kurt, sondern einen bärtigen rauhen Gesellen mit einem Schweißgerät in der Hand. Der in eine rot-schwarze Jacke gekleidete Mann schweißte an den Scharnieren einer Autotür.
„Wir halten jetzt an einem verlassenen Bauernhof“, sagte Boris durch das Mikrofon. „Sie werden dort die versteckten Gefahren der Radioaktivität sehen.“ Er stieg aus, ging auf das verwahrloste Haus zu und holte an einem Apfelbaum sein Messgerät aus der Tasche. „Sie sehen eine Anzeige zwischen 25 und 30 Millisievert.“ Er fuhr mit dem Gerät an der Baumrinde entlang. „Das ist ungefährlich für Sie, wenn Sie nur ein paar Stunden hierbleiben. Aber es ist die zehnfache Belastung zum normalen Wert, den wir vorhin in Tschernobyl hatten.“ Er ging auf die Haustür zu.
„Wenn Sie das Haus betreten, würde ich Ihnen den Mundschutz empfehlen“, sagte Boris.
Einige Teilnehmer blickten verunsichert. Sie hatten ihren Mundschutz im Bus vergessen.
„Ich sagte Ihnen ja, dass Sie in einer Stunde in Pripjat Fußball spielen werden. Unterschätzen Sie bitte niemals die „Hot Spots“ in der Zone, die heißen Strahlungspunkte, die überall sein können. Sie haben zwei Minuten, um Ihren Mundschutz aus dem Bus zu holen.“
Während die Hälfte der Reisegruppe zum Bus zurück eilte, ging Rolaf auf Jule Kulessa zu.
„Ist das Ihr Vater?“, fragte er und hielt ihr das Selfie von Kurt auf seinem Handy hin.
Sie blickte diesen scheinbar aufdringlichen Kerl empört an und schaute dann auf das Display. Ihre Augen weiteten sich. Rolaf reichte ihr das Handy. Sie nahm es in die Hand und stammelte dann: „Woher? … Woher haben Sie …?“
„Das erscheint mir jetzt nicht wichtig“, antwortete er. „Sind Sie die Tochter von Kurt Kulessa?“
„Ja“, sagte sie und schlug kurz die Augen nieder. „Wie konnten Sie das wissen?“, fragte sie.
„Ich habe es nicht gewusst. Ich habe es geraten“, entgegnete er. „Was ich wissen möchte ist, warum wir beide am gleichen Tag im selben Bus zu Ihrem Vater fahren.“
Die übrige Reisegruppe betrat das alte Bauernhaus und Boris demonstrierte durch ein heftiges Treten auf die Dielen, dass der aufgewirbelte Staub die radioaktiven Partikel empor trieb. Die Anzeige der Dosimeter stieg auf 50 bis 60 Millisievert an. Einige Teilnehmer wichen zur Tür zurück.
Rolaf Heymann und Jule Kulessa waren gar nicht erst in das Haus hineingegangen.
„Ich habe vor ein paar Tagen eine Mail von meinem Vater bekommen. Er brauchte Hilfe, schrieb er, er käme allein nicht mehr klar.“ Die Frau sah Rolaf fragend an. „Und warum sind Sie hier? Doch sicher nicht wegen eines Klassentreffens mit Ihrem alten Schulfreund.“
„Nein, deswegen nicht, und wenn schon Klassentreffen, dann sicher nicht hier“, entgegnete er. „Aber zuerst würde ich vorschlagen, dass wir uns duzen, Jule.“
Sie blickte ihn kurz an und antwortete dann: „O.k., Rolaf. Heißt du wirklich so? Ich meine, ich habe schon Rolf gehört und Olaf. Aber wenn wir uns duzen, sollte der Name schon stimmen.“
„Rolaf“, sagte er. „Der Name stimmt.“
„Jule“, sagte sie und gab ihm die Hand.
Die anderen kamen aus dem Bauernhaus zurück. Alle Gäste bestiegen den Bus, der jetzt die letzten Kilometer bis nach Pripjat fuhr.
Boris meldete sich wieder per Mikro. „Wenn Sie zu Hause gedacht hatten, Tschernobyl wäre der Name für das Reaktor-Unglück, müsste in Wirklichkeit der Name Pripjat dafür stehen. Sie haben vorhin Tschernobyl gesehen. Für die Menschen ist es schwierig, dort zu leben, aber der Ort lebt. Pripjat dagegen ist seit 1986 komplett entvölkert. Leider erst zwei Tage nach dem Unfall hat man alle 50 000 Einwohner evakuiert. Es ist seitdem eine Geisterstadt. Wenn Sie jemals einen Ort am Ende der Welt gesucht haben, in einem gewissen Sinne ist Pripjat dieser Ort.“
Boris fuhr fort: „Sie werden in Pripjat eine Stunde Zeit zur freien Verfügung haben. Sie können den Ort allein erkunden oder mir bei einer Führung folgen. Wenn Sie allein unterwegs sind, bitte ich Sie, Ihr Messgerät ständig eingeschaltet zu lassen. Die Strahlenbelastung wird da, wo wir aussteigen unproblematisch sein.“ Er hielt sein Dosimeter in die Höhe. „Aber wie ich schon mal sagte, ist die Strahlung in der Zone verteilt wie ein Flickenteppich. Es gibt Bereiche, die so normal radioaktiv belastet sind wie bei Ihnen zu Hause, und nur zwanzig Meter weiter Flächen mit der hundertfachen Belastung. Und es gibt immer noch Stellen, an denen der Aufenthalt – auch für ein paar Minuten – absolut lebensgefährlich sein kann. Besonders warnen möchte ich Sie vor dem Fluss, in dem schwer belastete Kähne Strahlung abgeben, und vor dem Schrottplatz, auf dem die Fahrzeuge stehen, die damals dicht an das Kraftwerk herangefahren sind. Am schlimmsten verstrahlt sind die Helikopter, die durch die radioaktive Wolke hindurch geflogen sind. Das Betreten dieser Bereiche ist absolut verboten. Wenn Sie einen Anstieg der Werte auf ihrem Messgerät feststellen, weichen Sie bitte dahin zurück, wo Sie hergekommen sind. Versuchen Sie nicht, sich irgendwie durchzuschlagen, weichen Sie einfach zurück.“
Der Bus fuhr in den Ort. Er streifte einige Birkenzweige, die in die Straße hineingewachsen waren. Es schien, als würden die Birken versuchen, diese Gegend von den Menschen zurück zu erobern. Die ersten Gebäude, die man sehen konnte, waren alle von Zweigen verdeckt. Dann erkannte man mehrstöckige Plattenbauten. Die Gebäudekomplexe ließen eine Stadt vermuten, in der einmal zigtausend Menschen gewohnt hatten. Die Straßen, durch die sie fuhren, waren menschenleer.
Rolaf hatte sein Dosimeter im Auge. Die Anzeige schwankte zwischen fünf und sechs Millisievert, kein Besorgnis erregender Wert, zumindest nicht, solange er im Bus saß.
Am Kulturzentrum hielten sie an, einem Gebäude, von dessen Dach noch der alte Sowjetstern auf sie herabschaute.
Zögernd stiegen die meisten Gäste aus und sahen sich vorsichtig um. Jeder hielt sein Messgerät in der Hand, fast alle trugen einen Mundschutz. Pete und seine australischen Kameraden dagegen verließen unbeeindruckt den Bus und begaben sich sofort auf eine eigene Erkundungstour.
Rolaf und Jule sahen sich wortlos um. Abgesehen von ihrer Reisegruppe war es völlig still. Andere Menschen waren heute Vormittag in Pripjat nicht unterwegs. Sie sahen an den Fensterreihen des verrotteten Kulturpalastes empor. Zahlreiche Fenster waren eingeschlagen. Aus den Fugen des Gebäudes wuchs dichtes Unkraut. Mit einigem Abstand folgten sie denen, die sich der Führung von Boris angeschlossen hatte, der Pole, die Japaner und die beiden russischen Pärchen. Diese Gruppe betrat gerade ein Wohnhaus.
Die beiden dagegen gingen um den Kulturpalast herum. Sie waren nicht an Besichtigungen interessiert, sie wollten Kurt treffen. Plötzlich standen sie vor dem, was man inzwischen als trauriges Wahrzeichen der Geisterstadt bezeichnen konnte. Sie sahen ein verrostetes Riesenrad, das über die allgegenwärtigen Birken hinausragte. Ein wenig schaukelten die Gondeln. Am 1. Mai 1986 hätte das Riesenrad zum ersten Mal mit Fahrgästen kreisen sollen, in einem neu geschaffenen Freizeitpark für die Stadt. Es war nicht mehr dazu gekommen.
Jule berührte Rolaf am Arm und zeigte etwas weiter. Ein Autoskooter war zu sehen. Von der Überdachung sah man nur noch die Streben, aber auf der Fahrfläche standen mehrere Skooter, einige waren umgestürzt.
„Zeig mir mal das Selfie!“, forderte Jule. „Das war doch hier.“
„Das war genau hier.“ Rolaf positionierte sich mit seinem Handy an einem bestimmten Punkt und hielt ihr das Foto hin. „Gestern hat Kurt genau hier gestanden.“
„Du hast Recht.“ Jule sah sich das Bild genau an. „Hier hat Papa sein Selfie gemacht.“
Er schwieg eine Zeit lang. Das Wort „Papa“ ging ihm im Kopf herum. „Jule“, sagte er schließlich. „Ich möchte mehr von dir wissen. Warum hat dich dein Vater genau angerufen? Und was hat er dir geschrieben über die Schwierigkeiten, in denen er steckt?“
„Er brauchte Hilfe, waren seine Worte“, sagte sie. „Und er könne niemandem vertrauen. Kann ich eigentlich dir vertrauen?“ Jule sah ihn fragend an.
„Sicher!“ Rolaf nickte. „Und weißt du auch, warum?“, entgegnete er kopfschüttelnd. „Weil er genau die Worte über mich benutzt hat. Ich wäre der einzige, dem er vertrauen könnte, als sein alter Schulfreund. Das ist der Grund, warum ich hier bin.“
„Meinem Vater sind vertraute Menschen wichtig. Er ist einer gefährlichen Story auf der Spur. Polizei und Terroristen wären hinter ihm her, hat er in seiner Mail geschrieben.“
„Terroristen?“, fragte er. „Ich dachte, er wäre hinter einem Atomskandal her. Das überrascht mich. Kannst du mir die Mail mal zeigen?“ Er streckte seine Hand aus.
„Nein.“ Jule sah ihn mit hochgezogener Stirn an.
„Gut, dann nicht.“ Er drehte sich halb von ihr weg. „Stress mit der Polizei ist ja noch normal für einen Reporter.“ Er hob die Arme hoch. „Aber Terroristen! Das klingt sehr ernst! Ich werde gleich mal Hanno danach fragen.“
„Wer ist Hanno?“, fragte sie.
„Ein Kriegsfotograf, ein alter Freund von Kurt“, erklärte er. „Wegen Hanno bin ich hier. Kurt hat ihn vor ein paar Tagen angerufen – wahrscheinlich zur selben Zeit, zu der du die Mail von ihm bekommen hast – und ihn gebeten, mich zu kontaktieren.“
„Und daraufhin bist du sofort in die Ukraine gefahren?“ Sie sah ihn ungläubig an.
„Nein. So schnell ging es nicht.“ Er lächelte und blickte dann auf. „Aber, sag mal. Die gleiche Frage könnte ich dir stellen. Du erhältst eine Mail von deinem Vater und brichst sofort auf nach Tschernobyl. Warum?“
„Das mit Papa und mir ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie dir mal.“
Rolaf blickte auf sein Messgerät und sah, dass der Autoskooter kein verstrahlter Ort war. „Wo ist er?“, fragte er sich. „Kurt hat mich an das Ende der Welt gelockt und nun will ich ihn sehen.“
Er gab die Nummer von Hanno in sein Satellitenhandy ein.
„Was gibt’s Neues?“, meldete sich dieser ohne Umschweife.
„Ich bin in Pripjat, ich bin an der Stelle, an der Kurt gestern noch war, oder sogar heute früh. Wo ist er jetzt?“, fragte er. „Er weiß, dass ich zu ihm unterwegs bin. Weit kann er doch nicht mehr sein!“
„Ich muss dir leider sagen, dass ich keine Ahnung habe. Kurt hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.“
In dem Moment sah Rolaf die Australier mit Pete am Riesenrad vorbeilaufen. Sie sprachen laut miteinander und gingen unbekümmert weiter.
Rolaf wurde ungeduldig. „Du willst mir doch nicht sagen, dass du mich auf diese Reise geschickt hast, um ihn zu verfehlen. Ist mein alter Schulfreund vielleicht nur ein Phänomen in deinem Kopf?“
„Mein Vater ist kein Phänomen!“, mischte sich Jule in das Gespräch ein. „Ich weiß, dass er irgendwo hier ist.“ Sie klang verärgert und entschlossen zugleich.
„Schau mal, Jule!“ Er zeigte in die Richtung, in der gerade Pete und die Australier verschwunden waren. „Da steht jemand.“ Ein Mann in rot-schwarzer Jacke war zu sehen. Rolaf machte aus der Ferne ein Foto von ihm.
„Hanno? Bist du noch dran?“, rief er in den Hörer. „Da steht – glaube ich – der Typ, den Kurt fotografiert hat. Ich sende dir das Bild jetzt. Bitte vergleiche die Fotos!“
Dann beendete er das Gespräch und wandte sich Jule zu. „Wir müssen hinter diesem Mann her. Er ist eine Verbindung zu deinem Vater.“
Rolaf lief auf das Riesenrad zu, Jule hinter ihm her. Der Unbekannte war dahinter in einem Gebüsch verschwunden. Beide rannten in das Buschwerk hinein und riefen hinter dem Mann her. Rolaf sah sich um, aber es war niemand mehr zu sehen. Pete und die beiden Australier hätte er jetzt gern in seiner Nähe gehabt. Das klackende Warngeräusch seines Dosimeters machte sich bemerkbar. Rolaf warf einen Blick auf die Anzeige. Hundertfünfzig Millisievert las er. Das war fast das Hundertfache der normalen Strahlenbelastung. Er machte Jule mit der Hand ein Zeichen.
„Ach, was!“, sagte sie. „Für ein paar Minuten ist das kein Problem. Wo ist der Typ?“