Erbe der Welt

Leseprobe Roman „Erbe der Welt“ von Valentin Richter Kapitel 1 – von der Flamme ins Feuer

I – Erinnerung

Kälte war das Erste, das ich zu spüren bekam. Kriechend, lauernd und stetig pochte sie auf mich ein. Ich erinnere mich an den Schmerz, den sie ausstrahlte. Ein eisiges Gefühl von Leben verlieh mir Gänsehaut und brachte mich so unsanft wie möglich in die Welt der Weilenden. Mein ganzer Körper schmerzte. Eine Weile hörte ich mit geschlossenen Augen in die Stille und wagte nicht, sie zu öffnen. Mein Schädel brummte. Ich versuchte nachzudenken, mich zu erinnern, was geschehen war. Verschwommene Bilder allein, flogen vor meinem inneren Auge entlang. Als sich meine Lider das erste Mal kurz entzweiten, erkannte ich nur grelle, weiße Flecken vor einem verschwommenen Hintergrund, die mich sofort wieder zwangen, in das schützende Dunkel zurückzukehren. Ich biss knirschend die Zähne zusammen, versuchte meinen Kopf anzustrengen, doch nur Fragen kamen heraus, keine Antworten. Alles fühlte sich unnatürlich an, was ich dachte und wie ich handelte. Und doch war es vertraut. Wie ein Fremdkörper in meinem Gehirn, der sich eingenistet hatte und gerade einen Boxkampf mit der Kontrolle über meinen Körper austrug. So lag ich unentschlossen im weiten, leeren Raum des Käfigs meiner Gedanken und versuchte, ja versuchte etwas denken zu können. Minute um Minute verstrich, bis mir letztlich klar werden musste: Alles, was ich dachte, hatte nichts mit meiner Erinnerung zu tun. Jedenfalls wurde es nicht damit verknüpft. Wie verrückt es auch klang, es schien, als sei ich gerade erst geboren. Auch wenn es sich nicht so anfühlen konnte, mein Kopf war vollkommen leer.

Behutsam und verwirrt wagte ich einen erneuten Versuch. Zunächst sah ich wieder nur verschwommene Segmente, die sich nach mehrfachem Blinzeln langsam deutlicher in ein Gesamtbild zusammensetzten. Eine graue Umgebung, in welcher immer wieder ein rotes Licht aufzublinken schien. Anscheinend hatte ich lockige, zerzauste Haare, so wie sie mir zu Heerscharen strohblond knapp bis über meine Augen fielen. Aussehen? Ich schaute an mir herab. Meine Augen schmerzten dabei erneut und mit krampfhaftem Zucken in den Lidern schob ich reflexartig eine Hand vor das grelle Licht, es war die Linke. Nur langsam setzte sich ein klares Bild zusammen, helltönende Hautporen zwischen zarten, dunkleren Adern. Lichtdurchflutet und hellrot. Die Kleidung, die ich trug, belief sich auf einen einst schneeweißen Anzug, welcher mir ebenfalls grell entgegenstach, mitsamt dunkler Krawatte und einem schwarzen Schuhpaar. Dieses verschwamm allerdings schon in unmittelbarer Entfernung. Das eigentlich durchaus galante Outfit war völlig verdreckt, wie durch Schotter geschleift. Es wies mehrere Risse auf, die meine linke Hüfte und rechte Kniescheibe blutend entblößten. Zu diesem Zeitpunkt spürte ich allerdings keinen Wundschmerz und blickte nur, interessiert wie ein gestürztes Kind, an den Schürfungen entlang. Das Blut war entronnen und hatte sich wie ein Rinnsal einmal bis zum Knöchel und einmal bis zum Oberschenkel vorgewagt, ehe es nun schwarz und weinrot am Stoff klebte. Dies belegte wohl, dass ich hier bereits etwas länger gelegen hatte.

Nach einer Weile war meine Sehfunktion weitestgehend vollständig stabilisiert. Ich begann schließlich damit, sorgfältig und noch immer recht behäbig, alle meine Taschen zu durchsuchen. Als wäre ich ein Neugeborenes, welches gerade erst seinen Körper kennenlernte. Langsam hob ich den einen Arm, lenkte ihn meinen Oberkörper hinauf und tastete mich wieder hinab und tat das gleiche mit dem anderen, doch es war nichts zu finden. Kein einziges Staubkorn war in meinen Seiten- und Hosentaschen. Enttäuscht friemelte ich mir den Dreck von den Fingern. Meine Haut fühlte sich kalt und fremd an.

Der Statur nach zu urteilen war ich ein Junge, oder ein Mann. Relativ groß. Auf meinem Oberteil war an meiner linken Brust ein Aufnäher befestigt worden, worauf eine Zahl eingeschrieben worden war. „014“ las ich, meinen Kopf krampfhaft nach unten richtend. Wie hilfreich. Doch als ich mich wieder entspannte, merkte ich, dass sich meine Augen recht schnell an die Grellheit gewöhnt hatten. Zum ersten Mal ließ ich mit klarem Blick meinen Kopf kreisen und fand mich in einem grauen, kahlen Raum wieder. Ich saß angelehnt an einem Bettgestell aus Metall, auf welchem eine dünne Matratze lag. An der Decke hing eine blassblaue Neonröhre mit spärlichem Licht, während an der Wand eine weitere Lampe angebracht war, die in Abständen immer wieder rot zu leuchten begann, doch keinen Ton verlauten ließ. Hier war ich also geboren. Und trotzdem fühlte es sich alles noch immer vertraut an, als wäre ich schon mindestens einmal hier gewesen, vor langer Zeit. Als würde mir mein alter Geist mit einem komischen Gefühl in der Magengegend einen Hinweis liefern wollen. Ich lauschte mit den neuen Sinnen einmal vorsichtig in die vier Wände hinein, um meinen Hörsinn zu testen. Es war totenstill.

Langsam reckte sich mein Hals. Ich nahm den ganzen Raum in Augenschein und bemerkte plötzlich einen stechenden Schmerz an meiner Schläfe. So fühlten sich also Kopfschmerzen an. Simple Dinge waren demnach sehr wohl in meinem Gedächtnis gespeichert. Mit schmerzerfülltem Gesicht sank ich augenblicklich wieder an die kalte Eisenstange zurück. Eine Weile lag ich nur da und hielt den Schmerz aus, der in grauen Punkten und Kreisen langsam vor meinem Innern verschwand. Kleine Fortschritte also, sie waren der Schlüssel. Nach einer Weile schon, konnte ich erneut genug Kraft für einen zweiten Versuch aufbringen.

Stück für Stück spannte ich meinen ganzen Körper, in schräger Position sitzend, immer weiter an, um mich endlich gänzlich auf hieven zu können. Da erstarrte ich einmal mehr so augenblicklich in der Bewegung, dass erneut alle Wärme aus meinen Adern floss. Trotz der schwachen Beleuchtung fiel genug Licht auf das Ende des Raumes. Dort war in festen Angeln eine hohe Stahltür befestigt, die einen Spalt breit geöffnet war. Was mir jedoch solche Angst bereitete, war vielmehr der Mann. Er lag vor der Tür regungslos auf dem Bauch, mit den Füßen zu mir. Erschrocken wich ich noch etwas weiter zurück, doch eine plötzliche und ungeahnte Neugierde spendete mir wiederum Kraft. Ein wenig kämpfte ich noch mit meinem Willen, doch dann setzte sich mein Bauchgefühl durch. Ich lehnte mich zur Seite und stand mit wackligen Beinen langsam auf. Taumelte dann, mit den Armen balanciert, vorwärts. Was hatte das zu bedeuten?

Aus der Nähe konnte ich den Rest des Körpers betrachten. Ebenfalls ein Mann nach der Statur. Mittelgroß, muskulös. Er lag auf dem Bauch und ein Arm unter seinem Kopf. Dieser blutete von der Seite und war blau, eingedrückt wie von einer Blechdose. Etwas Hartes musste seinen Schädel getroffen haben. Ängstlich schaute ich mich um. Es war anscheinend noch niemand gekommen, um ihn zu verarzten. Denn neben seiner Wunde war ein kleiner Bach aus Blut entstanden, welches, gleich dem Meinen, schon Trockenheitszeichen aufwies. Wir Beide hatten also in der Zeit unserer Bewusstlosigkeit keinen Besuch bekommen, oder jedenfalls keine Hilfe.

Missmutig drehte ich den Mann mit den Fingerspitzen um. Sein farbiges, junges Gesicht war nicht schwer verletzt, neben einigen Flecken und Kratzern am spitzen Kinn und den bartlosen Wangen. Das ließ mich zunächst ein wenig aufatmen. Er schien noch zu leben. Ich wagte mich nun noch näher heran, um hören, oder gar fühlen zu können, ob ich diese Theorie auch bestätigen konnte. Als ich, mich nah über ihn gebeugt, noch zu überlegen versuchte, wie ich dies nun genau in die Tat umsetzen könnte, riss er schlagartig die Augen auf.

Ich konnte geradeso einen Schrei unterdrücken. Er atmete auf einmal rasend schnell und in seinen Augen spiegelte sich blankes Entsetzen wider. Voll Schreck ließ ich ihn los und taumelte einige Meter zurück. Während ich noch meine Gedanken zu ordnen versuchte und so etwas sagen wollte wie „Entschuldigen sie, ich glaube mein ganzes Gedächtnis hat sich von meinem Hirn verabschiedet. Wissen sie vielleicht, was passiert ist?“, riss er mich aus all meinen Träumen. Fluchtartig rappelte er sich auf und sprintete in Richtung Tür. Ich schätze, dasselbe hätte er wohl getan, wenn ich meine Gedanken ausgesprochen hätte. Ohne viel nachzudenken rannte ich dem Unbekannten hinterher. Er wusste etwas, ganz bestimmt. Was war mit uns nur passiert? Hatten wir miteinander… gekämpft?

Meine Beine trugen mich erstaunlich schnell, sodass ich den Fremden ohne große Mühe und Anstrengung erreichte, noch ehe er durch die Tür verschwinden konnte. Ich packte ihn an den Schultern und zog ihn zurück in den Raum. Meine Arme fühlten sich kräftig an, es war ein Leichtes, den Unbekannten aufzuhalten. Entschieden drehte ich sein Gesicht zu mir. Erst jetzt konnte ich ihn für einige Sekunden genauer betrachten. Zuvor sah ich neben seinen Verletzungen nur die großen, schwarzen Augen, die vor Furcht glänzten. Doch so genau hatte ich bei all der Aufregung auch nicht auf sein Aussehen geachtet. Nun erkannte ich auch seine dunklen Haare, die streng nach hinten gegelt waren. Er atmete schwer und sah mich entgeistert an, als würde er gerade seine eigene Todesszene betrachten. Ich hielt eine Hand beschwichtigend nach oben und wollte gerade mit der Kontaktaufnahme beginnen, da riss er sich schon wieder los, stolperte in die hinterste Ecke und blickte hektisch suchend auf den Boden. Dann wirbelte er verstört im Raum herum, als suche er etwas überlebensnotwendiges. Erst schaute ich irritiert, verstand nicht, doch bald dämmerte es mir. Bei dieser Panik und wie er sich zur Wehr setzte. Ganz gewiss war das ein Kampf gewesen. Und wenn ich auch nur ahnte, was er da auf den Steinkacheln suchte, ich wusste, es würde mir nicht gefallen. Dann ging alles plötzlich blitzschnell, ohne, dass ich nur einen einzigen Gedanken dazu hatte. Irgendein Reflex löste sich wie ein schnippender Gummi in meinem Kopf aus und ich raste wie in einem Wahn auf den Unbekannten zu, trat ihn, zu meiner eigenen Überraschung, heftig mit dem Fuß in die Seite und gegen die Wand. Er sank stöhnend zu Boden, versuchte sich jedoch gleich wieder aufzuraffen. In der kurzen Zeit seiner Orientierungslosigkeit suchte ich ebenfalls, wie von Sinnen, nach dem Objekt seiner Suche. Und da entdeckte ich es auch schon. Ungefähr zwei Meter vom Bettgestell entfernt, wo die Füße des Mannes zuvor hingezeigt hatten, lag im Schutz der Dunkelheit eine Handfeuerwaffe. Ich sah das Silber des Laufs im Augenwinkel glänzen, und alle Systeme in mir fielen aus. Ohne noch einen Augenblick zu zögern hechtete ich in die Richtung, griff nach ihr, drehte mich im Liegen blitzschnell um und schoss dem Mann in den Kopf.

Blut spritzte. Der Knall war ohrenbetäubend. Ich erschrak so heftig vor meiner eigenen Tat, als hätte ich mich gerade selbst erschossen. Die Kugel krachte durch seinen Schädel in die graue Wand dahinter. Der Mann sank, wie noch Minuten zuvor, der Länge nach zu Boden. Nun jedoch schien nichts mehr ihn aufzuwecken. Ein Blutsee sickerte zwischen die verdreckten Bodenziegel. Ich warf die Pistole mit aller Wucht von mir und schrie. Was hatte ich gerade getan?

Ein paar Minuten saß ich schwitzend und außer Atem neben dem Unbekannten, schaute ins Leere, rang nach Luft und weinte. Wohl eher eine Ewigkeit lang. Meine Hände zitterten. Er war mein einziger Anhaltspunkt gewesen und nun nie wieder ansprechbar. Die Tränen verflossen mit dem Schweiß auf meiner Wange und berührten kalt und salzig meine Lippen. Ich versuchte aufzustehen und setzte mich gleich wieder. Alles drehte sich. Er wollte mich umbringen, das war sicher. Er hatte nach der Waffe gesucht. Oder wollte er sich nur verteidigen, weil er wusste, dass ich gefährlich sei? Offensichtlich war ich zumindest viel gefährlicher, als ich es gar selbst ausmachen konnte.

Im nunmehr restlos einsamen Zimmer, das meinen Verstand offenbar verschluckt hatte und nicht so schnell wieder hergeben wollte, wartete ich auf unverhoffte Erlösung. Die ersten Minuten meines neuen Lebens kamen mir bereits wie ein Albtraum vor.