Kickflipp / Exposé und Leseprobe

Exposé

 

Er rast über die Gehwege, tanzt und wirbelt auf seinem Brett, er ist ein kleiner Meister auf dem skate-board, Franz, der jetzt dreizehn ist und in Hamburg wohnt. Geschwindigkeit ist sein Rausch und genau mit solch einer Wahnsinnsspeed kracht er in die Frau. Da liegen sie beide auf dem Asphalt, benommen vom Sturz. Er steht mühsam auf und trollt sich, will damit nichts zu tun haben, ‚scheiß Alte’, denkt er nur, ‚warum passt du auch nicht auf!’ Doch es kommt anders. Er findet ihre Börse, die sie beim Sturz verloren hat. Nun beginnt eine eigene Geschichte.

Das gefundene Geld bringt ihn in ihr Haus, sie lernen sich kennen, Karin Kleinherbst und Franz Hohmer, wenn auch auf seltsamen Wegen, denn Franz wirft es fast um. Er findet ein Bild in der fremden Wohnung, es zeigt seine Mutter, gute zwanzig Jahre jung. Die beiden Frauen scheinen sich zu kennen, doch Mutter hatte nie darüber gesprochen!

Es kommt zur Begegnung, zur Aussprache und Franz erfährt eine Geschichte, die ihn vor Bestürzung aus dem Haus treibt, er hängt da mit drin. Dennoch finden sie sich zusammen. Da passiert das Unglück: Sie feiern den lauen, schönen Sommer, feiern sich und sind unter dem großen Kirschbaum. Elly stürzt furchtbar schwer von einer Schaukel und wird in die Notaufnahme eingeliefert.

Franz zieht zu Karin, die beiden verstehen sich gut. Er bringt ihr das Skaten bei, doch sie verunglückt und wird ebenso in ein Kranken- haus eingeliefert. Jetzt ist er allein.

In dieser Zeit lernt Franz ein Mädchen kennen, etwas älter als er, Sonja, wie sich später herausstellen wird. Franz wird in Situationen gebracht, die zum Teil spannend oder einfach nur lustig sind. Oder auch grotesk, etwa, als ihn, den nichtsahnenden, den braven und vorsichtig äugenden Franz diese Sonja von hinten schubst, vom Steg aus in den Mühlenbach. Was ein Klatscher. Hallo! Und was für ein Geschrei und Detue in der anschließenden Verfolgungsjagd!

Dennoch gehören sie zu einem Bild von Situationen, in welchem diese beiden jungen Menschen sich kennen und lieben lernen.

Franz reift. Eines Tages erkennt er das. Und er sieht ein, dass er ein ‚Kickflipp’ nicht mehr ist und vor allem nicht sein will. Die Zeit, sich einen ‚Kick’ durch ein ‚abspeeden’ auf dem Asphalt zu holen, sind vorbei. Die Schule wird wichtig, das hat etwas mit Einsicht zu tun, vor allem, mit jenen Menschen, die um ihn sind und ihn dabei begleitet haben. Nicht nur Mutter, Karin, auch Sonja und Olaf, ihr Bruder. Der Einzelgänger wandelt sich und erkennt Werte, die im zuvor fremd waren und jetzt immer wichtiger werden: Freundschaft, Verantwor-tung, Zuneigung und – eine erste Liebe.

‚Heimat’ das ist ein Aufsatz, den er in dieser Zeit schreiben muss. Bei der Erarbeitung sieht er die Dimension dieses Begriffes, vor allem, wie er selbst davon tangiert wird.

Er erkennt für sich: Es ist kein Wasser, kein Land, es sind nicht Felder oder Berge, die den Begriff allein prägen, es ist vor allem der Mensch darin, aber der nicht für sich allein, es ist die Begegnung mit ihm, der Austausch. Heimat, die fängt bei deinem Nachbarn schon an und vertieft sich, je näher du dem anderen bist. Du selbst wirst zum Teil dieses Begriffes auch für den anderen, wenn du es willst und lebst dann in dieser wunderbaren Wechselwirkung.

 

 

Leseprobe

 

 

Schatten von fliehenden Bäumen. Asphalt, der jagt mit ihm, treibt ihn, Schritt für Schritt, Schwung für Schwung, rechts erst, dann der Wechsel, links, das schwächere Bein, nur für kurze Zeit und schon wieder rechts. Das board trägt ihn, er jagt, er schießt dahin, ein Pilot seiner eigenen Lust. Gerüche fangen ihn ein, Düfte, der Lärm der Straße. Die Stadt hat ihn. Mit Sonne, mit Regen, mit leeren und vollen Bürgersteigen, mit Dreck darauf, dass er wach sein muss, wenn er sich in diese Pendelbewegung fallen lässt, die ihn trägt und ihm die Geschwindigkeit gibt, die er braucht und den Rausch auch, diesen Kick, dass es nicht endet und immer so weiter geht, wie Schwingen von großen Flügeln, die ihn weit, weit tragen. Licht ist dort und der große Gesang der Straße und er wie der große starke Vogel, der mit sich selbst jagt. Beute und Jäger zugleich.

Kickflipp ist das, so benennt er es, dieses Gefühl, diesen Rausch, der ihn über die dünnen Teerbänder der Geh- und Fahrradwege treibt, der ihn dabei singen und jauchzen lässt und ihm die Gestalt von Geschwindigkeit gibt, der ihm die Menschen und Hunde, die er trifft zu Schatten reduziert und die Kinder, diese so farbig gekleideten Kinder, zu Wischern von Gelb und Rot und Blau.

Ein Spiderman der Ebene ist er, cool und mit dem Kick, diesem Zungenschlag der Straße, der ihn vorantreibt und ihm Kraft und Lust dazu gibt, friss mich ein bisschen!

An manchen Tagen pendelt er nur gemütlich, an anderen rast er. Wie ein Tier ist er dann, obwohl er gerade erst mal zwölf ist, rast und lotet sich aus, will Grenzen kaum kennen, schnell muss er sein, nichts als nur das. Schneller als der neben ihm auf der anderen Fahrbahn, der Radfahrer oder gar das Auto. Den „Verrückten“, nennen ihn manche in der Schule. Er schüttelt nur den Kopf, denn er weiß nicht, wen sie da wirklich meinen. Die Gleichung stimmt nicht, da ist er sicher. Die Schule kann ihn mal.

Den Kopf nimmt er in den Nacken, durchatmen, pendeln und atmen, Schwung selbst sein, nicht nur geben und nehmen, also ausnützen. „Treiben“ könnte er es nennen, sich treiben lassen, sein eigener Schwung sein, um die Menschen herum, die Hunde, um alles, was ihm entgegenkommt, sich treiben lassen, den kleinen Bogen ziehen, pendeln in diese Aufgabe von Lücken, oder dann wieder, mit den Fahrradfahrern, den lockeren Sprint dazwischen. Die Ansprache rüber zur Straße, der Typ mit dem neuen Rad.

He Alter, was trödelst du! Den Kick sucht er.

Auf Dauer kommt er nicht mit, das weiß er schon, ein Rad ist ein Rad und doch, der Sprint ist seine Chance, die lockt ihn. Da schließt sich der Kreis wieder, dort, wo er den Schwung aus sich heraus findet, diese wunderbare Kraft. Skates wie Hermes sie gern gehabt hätte, er grinst. Ein Götterbote ist er, ja, er erinnert sich, während er dahin gleitet, der Film, Odysseus und dieser Typ da auf der Insel mit…. ja wie hieß sie doch noch, die Zauberin, die wunderschöne, von fetten Schweinen umzingelt und verehrt, eine Zauberin? Nicht nur Odysseus war bei ihr, dieser Typ mit den Flügeln an den Fersen auch, Hermes, der durch die Lüfte glitt, Mann. Ja, das ist er auch, Hermes. Mit Blitzen im Haar und an den Füßen. Das ist sein Wolkenpferd und sein Gesang, der Gesang der Kugellager und des widerspenstigen Asphalts. Ein Ding ist das! Ein Ding.

 

Allein ist er hier heute morgen, die Menschen sind entweder schon an ihrem Arbeitsplatz oder zu Hause geblieben, schlafen noch oder schon wieder. Und die Kinder, die sind in der Schule. Er nicht. Ist nicht aktuell heute, er hat sich frei genommen. Er macht das manchmal, wenn ihn das schmale, graue Band neben der Straße, der Fahrradweg oder der Bürgersteig besonders lockt, weil die Sonne gut ist oder ein leichter Wind weht oder der Tag sie alle weggefegt hat, ganz geheimnisvoll, die Fremden, die anderen, die wie er morgens auf der Straße sind, unterwegs zur Schule oder zur Arbeitsstätte. Manchmal ist das so, manchmal und unerklär-lich. Ein Fest dann, und das will er nicht aufgeben so wunderbar frei ist dort, oder wenn er einfach Bock hat, nicht erklärbar, einfach nur Bock.

In der Schule nehmen die das nicht so genau. Schriftliche Entschuldigungen der Eltern verlangen sie nicht und weil er ein guter Schüler ist, zumindest solche Leistungen bringt, kneifen sie schon mal ein Auge zu. Übertreiben ist nicht, das weiß er auch.

Er grinst jetzt, wenn er an seine Mitschüler denkt. Sport haben sie gerade, den Lemmert, dieses Wrack von Sportlehrer. Außer Schreien und blöde Spiele hat der doch nichts drauf. Völkerball und so’n Kack. Sport hat er hier genauso. Aber das sind Bewe-gungen, die er liebt und pflegt, weil sie ihm gehören, anders als in der Schule. He, das ist wie’n Löffel randvoll Suppe essen und nichts verkleckern, mach das mal, einen ganzen Teller durch. Oder greif sie dir, diese wundervollen Teerbänder, wie schöne Landebahnen können sie sein, sogar für einen Jet! Flügel dann, die ein Wind hat und ihm leiht und damit treibt und fordert und führt, denn er ist auf seiner Lieblingsstrecke, dann fliegt er ein, echt flach, die Arme wie Flügel, Flächen von Blech. Wahnsinn!

Er hat geschaut, der Weg ist frei. So flieht er über den Gehweg, beobachtet aus dem Augenschlitz die Umgebung, man weiß nie. Schnelle Blicke, alles paletti. Die Skates hat er heute nicht, die Rollen brauchen neue Lager, doch das board ist ebenso ein Freund. Es singt, während er es treibt. Rechts erst, dann das schwächere, das linke Bein und gleich wieder rechts.

Schatten von Bäumen, die lichten sich, der Gehweg ist zu Ende. Er stoppt, atmet tief durch und stützt sich mit dem langen Arm aufs Knie. Dabei beobachtet er die graue Linie bis zur nächsten Straßenkreuzung und sieht befriedigend: Er ist noch immer allein, ein Geschenk.

Die Straße überquert er, dann holt er den Schwung sich wieder, mehrt ihn aus der Hüfte heraus. Das eine Bein treibt, das andere knickt leicht ein, verstärkt die Kraft des Abstoßens. Dazu die Hüfte und den Schwung der Arme. Weit holt er aus, wie Flügel fast schon wieder. Der Jet. Geschwindigkeit ist das, Lust, die treibt, sich selbst treibt und anspornt. Hallo, es geht noch ’was!

Immer schneller wird er, ein innerer Jubel packt ihn, denn lang, so schön lang und gerade und wunderbar leer ist jetzt das grau-blaue Band, das ihn trägt und will, und er rast, wie auf einer Startbahn, mit Rollen und der Musik von Turbinen. Ein Rausch ist das. Doch da! So plötzlich, so wahnsinnig plötzlich, und groß, und immer noch größer, der Baum nicht, das Haus nicht, ein Schatten, schwarz und mitten auf dem Weg, nicht schön daneben, sondern genau dort, wo er doch ist und treibt, riesig für ihn aus seiner gehetzten, gebeugten Haltung und furchtbar groß und unausweichlich schon ein Mensch!

Was will der denn hier? denkt er noch für den Bruchteil eines Schreckens, oder auch: Wie kam der hier her, so scheiß plötzlich?

Wo doch niemand zuvor da war, denn geschaut hat er ja, sich vergewissert. Da ist er sich sicher.

Und rast und drischt auch schon in diese fremde dunkle Masse, denn zu spät ist alles Handeln oder Ausweichen oder Bremsen. Nichts geht mehr. Die Geschwindigkeit, wie ein Stein, den er wirft, ist er nun selbst und prallt in die Frau. Durch die Luft wirbelt er, sieht für einen Moment das graue Band von oben, dann die unteren Blätter des Baumes, und schlägt hart auf. Die Erde hat ihn wieder.

Betäubt liegt er, weiß noch gar nichts, hat die Augen offen, als würde er sehen und macht es nicht und kann es nicht. Ist für einen Bruchteil noch immer, der, der vom Himmel fiel, Hermes nicht, kein junger, schöner Gott. Ikarus ist er, für einen kleinen Moment, der Ungehorsame, der Besserwisser, der Alleskönner und jetzt der Gefallene. Die Flügel, die Flügel verbrannt.

Dann spürt er den Schmerz. Schnell ist er da, wie zehn Messer oder ein Feuerfluss, bricht ihm den Atem, die Luft. Scheiße, lass mich wenigstens atmen. Wie mit harten Schnüren schlägt und packt es ihn in den Armen, den Beinen und den Gelenken, da ist er drauf geknallt, dass das Knie ihm bis ins Hirn brennen will, als würde er nur noch daraus bestehen, seinem blutigen Knie und dem geprellten Rücken gleich dazu.

Doch dann ist es das Herz, das auch schreit, auch wenn es nicht abgeschürft ist, weil es ihn anschreit, weil er hier versagt hat, irgendwie schon. Er weiß noch nicht genau, was passiert ist, warum sie, die Frau, die so plötzlich da war, auch so plötzlich da sein konnte. Hatte er nicht richtig geschaut?

Quatsch! schreit ihm sein Herz zu! Und besinnt sich und will ihn verteidigen.

Red dir das erst gar nicht ein! Sie hätte auch schauen müssen. Hat sie das? Hat sie das wirklich? Nein!! Und nochmals nein! Sie nicht. Sie hat nicht geschaut, doch du. Du hast es. Ganz sicher.

 

Wie betäubt liegt er noch immer, atmet schnell und benommen. Dann betastet er sich vorsichtig, Beine, Arme und Kopf. Er bewegt sich, zögernd, will dem Schmerz ausweichen, doch der schlägt zurück und bellt. Wie ein tollwütiger Köter bellt er.

He! schreit der ihn an, ihn schon wieder und nicht sie, die Alte. Nimm dir deine Scheiß Zeit! Verrückt bist du, so zu rasen!

Schließlich kommt er hoch, steht und keucht noch immer, bewegt sich vorsichtig, hebt Arm und Bein, dreht den Kopf. Nichts Ernsthaftes, stellt er erleichtert fest, alles geht noch. Auch das Knie hat aufgehört zu bluten. Abschürfungen, Blut und Haut und Schweiß, na gut, aber kein Bruch. Prellungen nur und die Schmerzen. Er blickt sich um. Da liegt ein Mensch. Die Frau ist es, in die er hineingerammt ist. Sie liegt und wimmert, bewegt sich etwas, hilflos fast, hält sich das Knie. Sein board liegt direkt daneben. Merkwürdig, durch die Luft ist es doch geflogen, mit ihm zusammen und gesehen hat er das auch, für einen irre kurzen Moment das wirbelnde Brett mit den Rollen, und doch ist es jetzt hier, ganz schön weit weg davon. Aber dann muss doch dieser Mensch dort genauso….

Er denkt nicht zu Ende, er humpelt zu ihr, zum Brett, trifft auf zwei fragende Augen, Bitten darin wie Wasser, das geweint ist.

Er schaut weg.

Scheiß Alte, denkt er, was treibst du dich da auch so plötzlich herum, schnell mal zwischen oder aus den Bäumen heraus. Aufpassen solltest du. Jetzt ist die Kacke am dampfen.

Er nimmt das board unter die Füße, gibt sich Schwung, so gut das nur geht und fährt weg. Ganz einfach macht er das, dreht sich nicht ’mal mehr um. Dann ist er weg.

Die hilft sich selbst, denkt er noch. Wer so blöd ist und nicht schaut, na ja. Geschieht ihr recht. Passiert sicher kein zweites Mal. Die weiß jetzt Bescheid.

Alles tut ihm noch weh, Schmerzen, wo er nur denken und fühlen kann. Schreien und heulen könnte er, macht er aber nicht.

Scheiß Alte.

Dann aber da drinnen, da pocht es plötzlich, ganz mächtig und macht ihn unruhig:

He, die Alte. War das in Ordnung von dir, sie liegen zu lassen? Was rast du auch so.

Aber da schreit er dagegen, mit wilden Augen und Armen und Händen, die in der Luft rudern, will den Vorwurf nicht gelten lassen. Die ganze Wut, die ihn auf das board wieder gestellt hat und ihn anschiebt, mit diesen Schmerzen überall anschiebt, die ganze Wut schreit er hinaus:

Er kann sich das so richtig vorstellen.

Sie, durch die Bäume durch, mit der schweren Einkaufstasche, die zieht noch mal runter, den Kopf und die Augen auch, da schaut man erst recht nicht hoch. Das ist es. Da schaut man überhaupt nicht. Alles klar, er muss sich weiter nichts vorwerfen, von wegen er. Sie hätte doch schauen sollen, ob der Weg frei ist. Hallo! Er war doch auf dem Weg und nicht sie! Sie steckte irgendwo zwischen den Bäumen. Hätte ja auch ein Hund sein können, der daher schießt, weil sein Herrchen schon so weit weg ist und ihn gerufen hat. Na und dann?

Er grinst. Mensch, das kann er noch. Weil er sich das da vorstellt, während er wieder auf dem Asphalt treibt, die Alte und der Hund, ein großer natürlich, so ein Rottweiler mindestens, wie der ihr anschließend den Rock zerreißt, in Streifen natürlich, wie auf Hawaii, nur nicht zu einem so schönen Baströckchen. Ne, so schön bestimmt nicht.

Hübsch siehst du jetzt aus, du altes blindes Huhn. Wenn du auf die Straße gehst, schau erst. Denn es gibt noch andere. Der Bürgersteig ist auch eine Straße. Klaro, weiß ich doch aus dem Unterricht, Fahrradprüfung, vorletztes Jahr. Und ich hab’ geschaut. Ganz sicher, ich schon.

Je weiter er fährt, je sicherer sind seine Bewegungen, desto besser passen sich diese Sätze seinen Überzeugungen an. Und die Schmerzen sind auch geringer geworden. Er und Schuld? Nie und nimmer. Und das Herz schlägt schon wieder ganz schnell für ihn und versorgt ihn mit Kraft. Das skate-board singt wieder sein Lied, die Welt atmet normal.

Alles ist gut.

Es ist Mittag. Er ist zu Hause, hat sich gewaschen und den Schrammen die Blutflecken genommen. Auch die Kleidung gewechselt. Ein Sturz? Er? Das gibt nur Fragen und die will er jetzt nicht haben. Was sollte er auch sagen? Dass er in eine Frau hineingedroschen ist mit seinem Surfbrett, zu einer Zeit, wo er doch in der Schule sein sollte! Nein, keine Zeichen, nichts, das auf etwas Ungewöhnliches hinweist! Nie und nimmer.

Sauber sitzt er an seinem Arbeitstisch, schreibt. Hat sich die Haus-aufgaben vom Freund geben lassen, krank sei er, hat er in der Schule ausrichten lassen. Starke Kopfschmerzen. Migräne?

Am Tisch sitzt er, träumt seine road-story von heute morgen. He, war das cool. Mann, die Alte, die muss ja den totalen Salto. Er lacht, hat sich das gerade so vorgestellt, wie das board durch die Luft segelt und die Alte daneben, hoch die Beine.

Den Hot spring hättest du üben sollen, altes Mädchen, er lacht, sieht das absolut vor sich und lacht. Richtig laut macht er das.

Mutter steht im Zimmer.

Na Franz, war’s schön heute in der Schule? Du lachst, mitten am Tag, machst Hausaufgaben und lachst. Erzähl doch ’mal.

Sie geht die wenigen Schritte zu ihm, doch Franz wehrt ab, er weiß warum. Nichts hat er zu erzählen. Wenn er das würde, gäb’s heiße Worte und noch heißere Ohren. Er kennt das, Mutter hatte so etwas mal rausgekriegt und danach war eine schwere Zeit für ihn zu Hause angebrochen. Da denkt er gar nicht gerne dran. Ja, Mutter. Vater ist nicht so. Aber den sieht er nur einmal im Monat. Die beiden haben sich getrennt, ist schon Ewigkeiten her, kommt ihm jedenfalls so vor. Und ist seitdem nie geändert worden. Einmal im Monat, eins von diesen Wochenenden mit ihm, dem Vater. Das ist zu wenig, logo, ihm würde er das schon erzählen, der lacht sicher darüber. Sagt ihm bestimmt nur, na, Franz, war wohl etwas zu viel, mach’ste nicht noch ’mal, o.k.?’

Und das wär’s dann gewesen, aber Mutter? Ne, das wollte er kein zweites Mal erleben.

Übereifrig macht er sich an die Hausaufgaben, Fragen oder Ablenkungen sind jetzt nicht angebracht, alles klar, liebe Mama? Mutter geht. Er macht die Aufgaben tatsächlich fertig, morgen darf er in der Schule nicht negativ auffallen. Da gäb’ es womöglich heikle Fragen und Diskussionen.

Er hat wenig auf, daher ist er bald fertig, packt die Schultasche, stellt sie unter den Tisch und nimmt sein board.

Mam, bin noch mal kurz draußen, skaten. Sollte Udo nach mir fragen, sag ihm bitte, dass ich schon unten bin. Mach’ mich ’n bisschen warm.

Mit „fragen“, meint er den small-talk am Telefon.

Er geht die Treppe langsam hinunter. Vorhin, auf dem Board, das ging einfach besser. Aber jetzt, die Treppenstufen plagen ihn plötzlich, zeigen ihm, was ihm alles weh tun kann. Doch bald treibt er wieder über den schwarzen Belag der Bürgersteige.

Menschen sind jetzt da, ne Menge. Es ist früher Nachmittag. Schnell fahren geht jetzt sowieso nicht. Doch sich treiben lassen, die Passanten wie Pilonen benutzen, Schleifen fahren, Schlangenlinien, ein Spiel ist das, warum auch nicht.

Nimm sie als Signalmännchen, denkt er. Und es macht ihm Spaß, denn er muss richtig kalkulieren. Wehe, wenn er da falsch liegt. Ein Zusammenprall, das gäbe heiße Worte und noch heißere Ohren!
Kann er sich nicht, will er sich nicht erlauben. Deine Geschwin-digkeit minus die eines solchen Passanten in gleicher Richtung. Den Gegenverkehr lässt er aus. Ist schwer zu kalkulieren.

Er ist bald wieder da, sieht sie schon von weitem, die Stelle des Zusammenpralls heute morgen. Die Alte ist weg. Was sollte sie auch noch hier machen. Er kommt dem Ort langsam näher. Etwas hat den Asphalt dunkel eingefärbt.
Wird wohl ’ne Tüte Milch gewesen sein, denkt er. Dann hält er an. Schaut, hier also ist es gewesen. Plötzlich, im Gras neben dem Baum leuchtet es rot. Franz geht hin, bückt sich, greift in das welke Grün, hat einen Apfel in der Hand, dann noch einen. Dann, ja, mein Gott! Er erschrickt heftig, lässt fast fallen, was er gefunden hat, eine Geldbörse!9

Ihm wird schwindelig. Manno! Er wirft die zwei Äpfel hastig ins Gras zurück und steckt die Börse schnell ein. Dann springt er aufs Brett und treibt wie blöd den Asphalt hinunter, bis an die kleine Querstraße und die auch noch bis zum Spielplatz. Das kann ihm gar nicht schnell genug gehen. Er weiß, dort gibt es immer Ecken, die ganz leer sind, vollkommen einsam und unbeobachtet. So ist es auch heute, die übliche Ruhe nach der Mittagszeit.

Er überblickt die Situation. Dort bei den Sandkästen tummeln sich Mütter und Kinder. Aber hinten bei den kleinen Rutschen ist niemand. Er nimmt das board unter den Arm und geht dahin. Während er das macht, fühlt er den Druck in seiner linken Hosentasche. Das ist die Börse.

Nicht zu schnell ist er, es würde auffallen, hoch gucken würden sie, aufschauen, die Mütter und Väter von den Kleinen, aufmerksam sein. Deshalb lieber etwas langsamer, wie einer von ihnen, der die Langeweile gepachtet hat.

Eine Bank findet sich, ganz frei, da setzt er sich hin. Vorher aber greift er in die Hosentasche und holt die Beute heraus. Er setzt sich, fühlt das Leder in seiner Hand, es ist alt und rissig und er fühlt, wenn er drauf drückt, das „Harte“,das Kleingeld schon.

Schnell schlägt sein Herz, kurz der Atem. Einen Schatz hat er gefunden, bestimmt!

Schwer liegt die Börse in seiner Hand. Braunes, altes, Leder, abgegriffen ist es und hat einen Reißverschluss und oben drauf dann diesen großen Knopf. Er greift ihn, drückt ihn, doch nichts passiert. Die Börse öffnet sich nicht. Er probiert es noch einmal, wieder nichts. Dann zieht er an dem Knopf, doch wieder ohne einen Erfolg, die Börse gibt nichts frei. Er nimmt sie schließlich vor’s Auge, und sagt ganz leise simsalabim. Da sieht er das kleine Blech unterhalb des Knopfes. Eine Schiene könnte das sein. Jetzt wird er ganz aufgeregt. Wieder drückt er den Knopf und schiebt ihn im selben Moment nach vorn, aber auch zurück. Und dieses Hin-und-Her des Knopfes geht tatsächlich, doch wieder passiert nichts.

Er hält inne.

Ich wird dich schon kriegen, grinst er. Dann schiebt er den Knopf seitwärts. Plötzlich springt die Börse auf und lässt das hintere Querfach frei. Geldscheine quellen heraus. Scheine, in verschiedenen Farben.

Den Mund auf, erschrocken. He, alter Finne!

Er hält die Luft an, ist fassungslos. Schnell drückt er die Börse wieder zusammen, hört, wie der Knopf schließt. Ein deutliches, metallenes Geräusch ist das. Das bringt Ruhe in die Situation. Noch immer hält er die Börse in der Hand, blickt hoch, vergewissert sich, Immer noch ist er allein, keiner der Spielplatz-besucher ist zu ihm näher herangerückt. Er vertieft sich wieder in dieses Eroberungsspiel, kennt das Geheimnis der Börse. Und deshalb geht jetzt alles ganz schnell. Er drückt den Knopf, schiebt ihn dabei seitwärts, die Börse öffnet sich und dann, dann greift er in das Fach der Geldscheine. Rasch macht er das und holt sie heraus, alle. Drei fünfer, die sieht er gleich, den blauen Zwanziger dazu. Dann ist da ein Einkaufszettel und als er den auffaltet hat er plötzlich drei von diesen gelb-braunen Fünfzigern in der Hand. Hundertfünfzig Euro sind das! Er krfiegt kaum Luft. Vor Schreck vergisst er fast das Atmen, zählt rasch zusammen. Hundertfünfundachtzig Euro! Und im Münzfach findet er noch etwas vom kleinen Kupfergeld und eine Zwei-Euro Münze. Mann, einen Schatz hat er, einen richtigen Schatz, fast hundertneunzig Euro! Da lohnen die kleinen Abschürfungen schon.

Er schaut schnell die anderen Fächer durch, findet aber nichts. Dann öffnet er die Schließe. Ein Büchereiausweis drängelt gleich heraus, eine Scheckkarte und noch ein Ausweis. Kennt er nicht. Er dreht ihn um und prallt zurück. Eine Frau lächelt ihn an, ein Farbfoto. Er erkennt sie sofort.

„Sie“ ist es. Die von heute Vormittag. Die sich so blöd angestellt hat. Aus den Bäumen heraus, ohne sich umzuschauen, absolut blöd. Er ist sich sofort sicher, sie ist es! Sieht sie vor sich, wie sie am Boden liegt und ihn anschaut mit ihren Wasseraugen. Dann liest er: Karin Kleinherbst, geb. am 16.12. 1978. Da ist auch noch die Adresse auf dem Papier: Oststeinbeker Weg 124. Hier in Hamburg Billstedt. Na klar, er kennt ihn, seine Lieblingsstrecke ist es doch, weil so schön gerade und wenig unterbrochen und der Belag wie neu, glatt und ohne Schäden. Nicht die vielen Nebenstraßen hat es da, die Einmündungen, diese Blockierer, diese Unnützbremser. Nein, eine Rennstrecke ist er, der Oststeinbeker. Den er eben gebourdert ist, ziemlich genau dort, wo es passierte. Der Zusammenprall, das ist bei ihm in der Nähe und eine Parallelstraße vom ‚Jägerstieg’, wo er mit seiner Mutter wohnt, eine ruhige Wohngegend und nicht viel los.

Rasch steht er auf, schaut sich um, niemand beachtet ihn. Er steckt den Geldbeutel ein. Dann klemmt er sich sein skate-board unter den linken Arm und geht rasch los. Schnell und groß ist sein Schritt, nach Hause will er, seinen Schatz sichern.

Er erreicht den Zaun des Spielgeländes, den geteerten Fußweg, sein schwarzes Band, das ihn trägt und treibt und das er liebt. Er steht wieder auf dem Brett, schwingt und bringt sich in Schwung. Schmerzen hat er plötzlich keine mehr, oh nein, nur ab nach Hause! Mit einem Schatz in der Hosentasche, nichts wie weg!

Doch plötzlich, mitten in seinen Bewegungen Schwung zu holen, sieht er sie in Gedanken wieder vor sich, lächelnd, die Frau, wie auf dem Foto.

Was will die nur von mir? denkt er und weiß es doch im selben Moment.

Na klar, ihr Geld will die zurück!

Da bin ich aber froh, dass du meine Börse gefunden hast! denkt die bestimmt. Hab’ sie schon gesucht. Und schönen Dank auch trotz allem.

Eckig sind seine Bewegungen, haben plötzlich diese Eleganz nicht, den gewohnten Schwung, eher wie bei einem Anfänger sieht das aus, was er da macht und das ist er ja auch. Ein Anfänger mit Geld und einem Gesicht, das ihn nicht loslässt, ihn anlächelt und nur fragt. Eine kleine Antwort sucht es, ohne einen Vorwurf ist es, nur diese Frage nach ihrem Besitz hat sie, die Frau, weiter nichts und das, wo er doch so ein schönes Geld jetzt hat. Warum muss sie ihn hier stören? Er ist selten so reich gewesen. Fast hundertneunzig Euro. Mutter muss sehr sparsam sein, entsprechend gering ist sein Taschengeld. Aber er weiß auch, dass dieses Geld, dieser Schatz, gefundenes Geld ist, nicht seins, es gehört einem anderen, einer anderen, Karin Kleinherbst. Denn das ist das Gemeine, das Hinterhältige und Unfaire, er weiß, wem dieses Geld gehört. Er kann sich nicht rausreden, sich nicht hinter Unwissenheit verbergen. So ein Gesicht, das lässt ihn nicht allein, das bleibt schön in seiner Spur. Und schlimmer noch, er kennt nicht nur den Namen dieser Frau, er weiß sogar, wo sie wohnt, im Oststeinbeker Weg. Seiner Lieblings- und Rennstrecke, direkt dort, wo sie sich getroffen haben, wo ihr kühner Luftsprung war und seiner auch.

Wenn das Geld nun so einer ganz reichen Lady gehört hätte, denkt er, einer, wie sie das Fernsehen ihm manchmal ins Haus weht, na dann! Dann würde sein Herz ruhiger schlagen, da ist er sich sicher, aber so? Denn reich ausgesehen hat die Frau überhaupt nicht, eher so wie Mutter. Viel Grau in ihrer Kleidung. Außerdem hätte sie sich ihren Einkauf bringen lassen können, wenn das für sie so einfach und schnell bezahlbar gewesen wäre und nicht selbst schleppen müssen,

Nein, er will, er muss nach Hause, sofort. Sich klar werden. Bestimmt findet sich ein Weg heraus, das weiß er.

In diesem Moment erreicht er die große Straße und ihren Gehweg und schwingt und treibt so schnell er kann. Im Vorbeiziehen sieht er eine Haus-Nummer. Es ist die 114. Da ist die 124 nicht mehr weit. Fünf Häuser nur, weil es doch die geraden Zahlen sind und weil er sich beeilt, ist er schon am nächsten vorbei und dem darauffol-genden auch, während er noch darüber nachdenkt, wie das weitergehen kann.

Das hier müsste es sein, denkt er noch, wird etwas langsamer und schaut zu dem Haus hinüber. Er erkennt sogar die Hausnummer. Die 124 ist es wirklich.

Hier also wohnt sie, Karin Kleinherbst. Ein einfaches, kleines Haus, wie die vielen anderen im Viertel, nur ein wenig grauer.

Doch da ist er auch schon vorbei, gottlob.

Jetzt wird der Weg leichter, denkt er.

Und er fährt und rollt und lässt sich von seiner neuen Angst anschieben. Immer wieder stolpert er dabei über Fragen, die so plötzlich in ihm sind und ihn verunsichern und ist doch verwundert, weil sich die Antworten darauf auch gleich einfinden, so wunderbar eilen sie ihm zur Hilfe, als gäbe es jemand in ihm, der ihn verteidigt und alle Fragen, alle Vorwürfe abschmettert, nur um ihn zu retten: Das mit dem Geld ist schon in Ordnung! Das biegt sich schon noch hin!

Er erreicht das Haus, wo er wohnt und steigt vom board, nimmt es, lehnt es gegen die Hauswand und geht durch die Eingangstür.

Hallo Mam, ruft er, bin wieder da, und eilt in sein Zimmer. Dort bleibt er stehen, mittendrin, prüft, wo denn ein geeignetes Versteck sei. Unter der Matratze? Er nimmt die Börse, legt sie darunter und schaut prüfend auf das Bett. Hm, Irgendwie erscheint ihm das Ganze jetzt höher, wie aufgeblasen. Eine Beule hat es plötzlich, ganz sicher, das Kissen wölbt sich so merkwürdig.

Ob Mutter das auch so sieht?

Quatsch, so geht das nicht. Das dauert keine zwei Tage, dann ist sein Geheimnis gelüftet. Und wie könnte er daraufhin Mutter entgegentreten und bestehen? Überhaupt nicht.

Also nein, der Platz ist schlecht. Er schaut sich weiter um. Dann sieht er es: die Tischschublade. Niemand würde hier suchen, denn die Schublade ist so einfach zu öffnen. Jedermann kann seinen Blick dort hineinwerfen. Was aber niemand auf diesen ersten Blick weiß oder ahnt, ist, dass sie überlang ist, so tief, dass sie selbst, bis zum Anschlag ausgezogen, einen noch immer nicht einsehbarem Raum hat, da ganz hinten, einen echten Schutzraum. Und wer schaut und kramt schon ohne Anlass so weit dort hinten herum?

Er legt die Börse zufrieden in den hintersten Teil der Schublade und schließt sie.

Dann verlässt er sein Zimmer. In der Küche steht noch das Mittagessen auf dem Tisch.

Mutter sieht ihn prüfend an.

Du kommst spät, sagt sie, hab nicht länger gewartet, hab schon gegessen. Dann lacht sie plötzlich.

Ganz schön verbeult siehst du aus!

Au Mann! Hat sie doch was gesehen! Na klar, alle Schrammen kann man nicht verbergen. Und jetzt?
Er grinst nur, sagt nichts und Mutter forscht nicht weiter. Doch schaut sie prüfend, denkt aber weiter, so als würde etwas nicht stimmen an diesem Bild.

Muss ja ein schlimmer Sturz gewesen sein, und kein Wort verliert er darüber! Ist schon merkwürdig, er erzählt doch sonst immer von seinen Abenteuern. Oder abends auch, wenn er den gelebten Tag mir auf den Tisch legt. Tja, was war das wohl heute?

Doch sie fragt nicht, schaut nur und schweigt.

Später liest er noch etwas, seine Comics sind das, Banzai, junge Menschen, wie Krieger so ferner Reiche sind sie, so ferner Welten und Forderungen. Haben auch wie er die Schnelligkeit, Sieger sind sie, bestehen wie er die Gefahren der Großstadt oder großer Techniken. Er denkt auch wieder an Hermes und dieser Insel mit den verzauberten Schweinen, liegt im Bett und spürt die Börse, die jetzt unter seinem Kopfkissen liegt, ganz nah bei ihm. Hat sie einfaach aus der Schublade holen müssen, diese wunderbare Beute!!

Doch er merkt es bald, sie freut ihn nicht mehr richtig, ist schwer geworden, ein echtes Gewicht, knappe zweihundert Euros schwer. Alles Schöne, alles Aufregende ist weg. So viel Geld! Was er damit alles machen könnte. Und haben auch. Doch jetzt, alle Wünsche sind so weit weg, und plötzlich, wie leer gezaubert ist er, der Franz. Diese Frau Kleinerts schaut einfach zu oft bei ihm nach. Simsalabim, er erinnert sich, damit hat er die Börse geöffnet und jetzt ist er selbst so verletzlich und offen. Für was nur? Und dann ist es heraus, wenn alles Herumwälzen, alles Sich-gut-Reden nicht mehr hilft und hohl wird und ihn verlacht:

Franz, du machst dir doch was vor!

Ein Wahnsinnssatz! Der in ihm tobt und tüchtig Wind macht. Die Haare könnt’ er sich raufen! Denn daraus bricht sich ein noch wahnsinnigerer Gedanke:
Ich werde sie zurückbringen, die Börse, sie gehört doch ihr!

Endlich hat er es gedacht und gesagt und fast geweint. Das schöne Geld. Aber er kann so nicht leben. Merkwürdig, das hätte er nie gedacht. Und er weiß, morgen schon, morgen wird er die Sache geradebiegen, was eben noch krumm ist. Er muss es tun. Eine Last ist sie ihm jetzt, die Börse und alle Freude damit ist wie weggezaubert.

Er liegt in seinem Bett, und ist plötzlich erleichtert, starrt die weiße Tapete in seinem Zimmer an. Raufaser, er kennt die Struktur. Hat das schon oft gemacht, vor allem dann, wenn Entscheidungen anstehen. Rauhfaser, die sagt ihm die Wahrheit, die ist unpartei-isch und die kann eines vor allem: Zuhören, das kann sie. Wenn er so wie heute im Bett liegt und dann mit ihr quatscht, sich das Herz frei redet, Mann, da zuckt sie schon so manches Mal, das jedenfalls meint er zu sehen oder sogar zu hören. Kriegt ja auch einiges von ihm erzählt. Dieses überraschte Knittern oder übertriebene Rascheln und manchmal so gar ein Wort, ein echtes Wort. Glaubst du nicht? Frag ihn doch selbst, den Franz. Etwas, das er gesagt hat. Komisch, aber wahr, er meint es dann gehört zu haben und heute da war es ihr Name Karin Kleinherbst. Ganz freundlich und überhaupt nicht zornig hat es geklungen. Das war für Franz Zeichen genug, es richtig zu machen.

Rauhfaser, das denkt so schnell keiner, dass so eine Bahn davon wie der Segen einer ganzen Kirche sein kann, aber heute muss sie besonders auf den Jungen eingewirkt haben. Er kann sich das gar nicht erklären, ab er ist wieder froh, weil er doch eben noch… Aber er lässt die Fortführung des Gedankens nicht mehr zu, ist zu kompliziert und auch mit einer Menge Fragen versehen, an die er sich im Moment nicht so richtig dran trat. Doch morgen, da muss es sein, da wird tabula rasa gemacht. Fertig. biegt er sich wieder gerade, das weiß er. Dann kann er wieder am Haus, an der 124, so ruhig vorbeitreiben wie früher auch, wie ein Großsegler, nein, besser noch, wie ein Sieger!
Eine Pamir bin ich dann, eine Gorch Fock. Vom Hafen komm ich, quatsch, vom großen Meer, Wellen, zehn Meter hoch, hörst du, zehn Meter und ich bin jetzt da, ganz einfach, Franz Hohmer und hab diese Scheiß Gefahren alle hinter mich gebracht. Die Schätze? Ich brauche sie nicht.

Er lächelt, eine Pamir ist er jetzt selbst. Franz Hohmer, der Bezwinger der Meere und ihrer Schätze.

Auch wenn er jetzt so gelöst ist und froh, er kann nicht einschlafen. Ganz plötzlich sind sie wieder da, die Gedanken, als hätten sie ihm eine Extra-Portion vorbeigebracht. Als hätte er geahnt, warum er diese Fragen eben noch verneint und auf morgen geschoben hat. Aber sie sind hartnäckig. Sie zwicken und fordern ihn und hören nicht auf, bis er sich einer ersten stellt, scharf wie eine frisch geschnittene Zwiebel.:

Wie nur bringst du die Börse zurück? Einfach so hingehen, klingeln, sich anstarren lassen und dann ganz lässig quatschen: Ach ja, Frau Kleinherbst, ich hab’ da ’was. Gehört wohl Ihnen.

Nix hab ich. Das würgt jetzt schon. Nein, so geht es nicht. Und Blumen? Frauen lieben Blumen. Mutter liebt Blumen, aber Frau Kleinherbst? Die ist nicht meine Mutter. Nachher meint sie noch, ich will sie heiraten. Nee, mein Lieber, so geht das auch nicht.

Er stolpert dann über andere Vorstellungen, verwickelt sich in weitere Fragen, aber er bleibt ohne Antworten, zumindest ohne solche, die ihm gefallen und den Schlaf schenken. Irgendwann ist die Nacht gnädig und holt ihn zu sich. Ruhig schlafen geht nicht, aber schlafen zumindest, das schon.

Der Vormittag ist schlimm. Immer wieder denkt er an die bevorstehende Begegnung. Wie kann er das nur machen. Was soll er denn nur sagen. Soll er überhaupt etwas sagen. Trotz kommt einen Moment in ihm hoch.

Froh sein darf sie eigentlich, dass ich

ja, dass er selbst… doch er ist jetzt froh, dass er das alles weghaben will, das Geld und dieses Gespräch und überhaupt. Und dann kommt ihm die rettende Idee: Der Briefkasten.

Na Klar! Ich schmeiß ihr alles in den Kasten!

Und schon wieder rattert eine dieser Nörgel-Gedanken heran und stellt ihm ein Bein und lässt ihn auf seinem Lösungsweg humpeln. Was ist nun, wenn sie gar keinen hat? Ist immerhin ein altes Haus. Hatten die schon Briefkästen?

Ganz klein noch ist die Frage in ihm, aber sie ist da und lebt und beschäftigt ihn. Sie frisst und beißt und wird groß und schwer und unübersehbar. Ja, was dann? Wenn da kein richtiger Briefkasten ist?

Er verträumt den Unterricht, gibt falsche Antworten oder gar keine. Max ist schon ganz nervös, beugt sich zu ihm in der Mathe-Stunde:

Mensch Franz, was’n los?

Doch Franz schaut ihn nur an, fast so, als gäbe es diesen Max gar nicht, schaut einfach durch ihn hindurch, vielleicht auch, weil er hinter dem Freund die rettende Antwort erwartet, denn er braucht die doch schon so bald. Aber da ist nur der Tag. Blau leuchtet sein Himmel ins Klassenzimmer. Ein dunkles Grau hätte besser gepasst, für Franz ganz sicher.

Endlich ist Unterrichtsschluss. Er kann es kaum erwarten, rennt aus dem Klassenraum, die Tasche unterm Arm und bahnt sich einen Weg durch die Schülermassen. Schnell ist er am Fahrradunterstand, löst das Schloss seines Rades, schwingt sich darauf und tritt kräftig in die Pedale. Endlich.