Exposé
Arbeitstitel: Moderner Tod
Autor Genre: Roman
Umfang: 245 Normseiten (54.999 Wörter)
Illustration: keine
Zielgruppe: All jene, die sich mit Sterbenden konfrontiert sind und fast verzweifeln
Atmosphäre: ernst; historisch und aktuell, manchmal ironisch
Perspektive: Personale Perspektive, alternierend auktorial
Abstrakt:
Der Roman bietet aktuell gesellschaftlich akzeptierte Strategien aus verschiedenen Blickwinkeln, wie mit Sterbenden umgegangen wird.
Handlung
Renate treibt die Geduld ihres Mannes auf die Höhe: Entweder verschwindet sein Vater Franz ins Heim oder sie verlässt die Familie.
Franz Kastel leidet seit über vier Jahren an Lungenkrebs und lebt in der Familie des jüngsten Kindes
Roland. Franz hatte vertraglich geregelt, dass Roland das Haus erben würde, wenn er den Vater bis zu dessen Tod pflegte, ansonsten musste das Haus verkauft und der Erlös unter den Nachkommen des Franz Kastel aufgeteilt werden. Die Pflege übernimmt die Ehefrau Rolands, Renate. Schon von Beginn der Eheschließung kümmerte sie sich aufopferungsvoll um den Schwiegervater. Franz hatte durch Erstickungsanfälle mehrfach die Weihnachtsfeiern vergangener Jahre gestört, was Renate aufgebracht ihrem Gatten ein Ultimatum stellen lässt: Entweder Franz kommt in ein Heim oder die geht. Letzteres tritt zunächst ein, die Kinder Annika und Lars von Renate und Franz fühlen sich hin –und hergerissen und wollen eine harmonische Familie.
Roland will den Vater nicht aufgeben, aber zudem die Ehe behalten. Ein Besuch im Beuroner Kloster verschafft ihm Klarheit Sein Vater kann nicht loslassen, deswegen stirbt er auch noch nicht. Während Roland im Kloster weilte und Kraft tanken wollte, bewachte ein extra engagierter Krankenpfleger
Franz, rauchte Hasch und sorgte für eine Vitalisierung des beinahe Toten. Rolands Entscheidung wankte, er suchte das Gespräch mit einer Studentin in Freiburg, die er zufällig traf. Sie bestärkt ihn, an eigene Bedürfnisse zu denken. Doch Franz spielt einen Streich: Er organisiert den Krankenpfleger und Medizinstudenten, der ihn an einer neuen Therapie teilnehmen uns gesunden lässt. Franz glaubt an ein Zusammenleben, Roland schockiert ihn mit der Ablehnung, worauf Franz an einem Herzinfarkt stirbt.
Die Geschwister Rolands machten in ihm und Renate die Schuldigen aus am Tod des Vaters. Roland hielt den Vorwurf und die gleichzeitigen Eheprobleme nicht mehr aus und nahm sich unmittelbar nach der Beisetzung von Franz das Leben. Auch für den Tod des Bruders suchten die Geschwister Rolands eine Verantwortliche. Diese –Renate – akzeptierte die Schuld nicht, eine am Tag der Beerdigung Rolands im Fernsehen verfolgte Talkshow, das moderne Tribunal der heutigen Gesellschaft – gab ihr zu verstehen, dass sie moralisch im Recht sei.
Parallel zur aktuellen Handlung wird die Entwicklungsgeschichte Franzens erzählt. Von der Geburt bis zur Wohngemeinschaft mit Roland und dessen Familie. Warum er ein süchtiger Raucher geworden war und wie er sich mit Hilfe anderer aus der Sucht befreite. Welche Maßnahmen getroffen wurden, um ihn so weit zu bringen .Als Christa, Franzens Frau und Rolands Mutter durch die Folgen eines Unfalles verstarb, wurde Franz rückfällig. Den Tod Christas hatten Franz und die Kinder in einer übereinstimmenden Entscheidung, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten ermöglicht. Ab dem Zeitpunkt wandelt sich Franz, er will die Familie zusammenhalten und den Fall der eigenen Hinfälligkeit geregelt haben – außer Roland will niemand ihn bei sich aufnehmen. Den anderen Kindern bleibt der egoistische, rücksichtslose Vater in Erinnerung, auf den sie für den Rest des Lebens gerne verzichteten. Als Zeichen, ein anderer Mensch geworden zu sein, spendet Franz ohne Zögerung ein Teilorgan, um dem schwerkranken Sohn Dieter, der wegen ihm in den Kindertagen schwer krank geworden war, das Leben zu retten.
Im 29. Kapitel (von insgesamt 36) synchronisieren die beiden Handlungen –die aktuelle Handlung, wo die Frage der Pflege des Seniors und die Ehekrise der jungen Kastels im Vordergrund steht – und die die Lebensgeschichte Franz, die schwerpunktmäßig den Süchtigen behandelt.
Botschaft
Für die Frage, wie man mit auftretenden Schwierigkeiten in der Pflege eines Menschen auftreten können, um zugehen ist, gibt es keine Patentrezepte. Sie lassen sich nur gemeinsam lösen und nur, wenn alle beteiligten Personen auf Egoismen verzichten. Das Sterben muss gelernt und als Teil des Lebens akzeptiert werden.
Personen (Hauptfiguren)
Person: | Franz KastelDer junge, im Jahre 1937 geborene Franz, erlebte als Kind die Kriegsjahre, die er als schlimm empfand, aber wenig entbehrte, weil er auf einer Landwirtschaft aufwächst. Nach der Volksschule absolviert er eine Schlosserlehre, heiratet in jungen Jahre Christa Reinbold, lebt in der Nähe zu ihren Eltern und wird Vater von sieben Kindern. Die unbewusst erlebten Entbehrungen kompensiert er mit dem übermäßigen Genuss von Zigaretten, die ihm die seelischen Löcher auffüllten. Die Sucht bringt ihn in eine Klinik, der Arbeitgeber zwingt ihn zur Therapie, die er meistert. Nach dem Verlust der Ehefrau, die er immer liebte, aber selten ihr zeigte, verliert der den Halt und wird rückfällig. Der Erbvertrag mit Roland gibt ihm nur scheinbar Sicherheit, er stirbt nach der Gesundung in der Klinik an einem Infarkt. | |
Entwicklung: | Franz durchläuft eine unreflektierte Kindheit und Jugend, kapiert nicht, warum die Umwelt mit der Nikotinsucht Probleme bekommt, nicht einmal, als der Sohn Dieter schwer leidet, demonstriert er Einsicht und Reue. Erst der beinahe eingetretene Arbeitsplatzverlust, der ihn auf Grund des sozialen Status schmerzen würde, bringt ihn zur Vernunft, er hält die Therapie durch, weil Christa unverbrüchlich zu ihm steht. Deren Tod wirft ihn aus den Bahnen, er reift trotzdem zum Clan-Oberhaupt heran, muss aber einsehen, dass der Scherbenhaufen, den er verursacht hat, zu umfangreich ausfällt und verbittert. Er meint, durch die Verschriftlichung eines Erbvertrages das Leben bis zum Tod geregelt zu haben und muss einsehen, dass ein Papier die Kraft verliert, wenn eine Partei die Bindungswirkung aufgibt oder leugnet. | |
Person: | Roland KastelRoland Kastel, der Forstwirt des Dorfes Hebelbach, geht im Beruf auf und liebt den Vater Franz, mit dem er einen Erbvertrag abgeschlossen hat. Ebenso liebt er Renate, die Ehefrau und die beiden Kinder, Annika und Lars. Für ihn kam es einer Selbstverständlichkeit gleich, dass Renate die Pflege leistet. Diese macht das jahrelang gerne, als die Aufgaben ihr über den Kopf wachsen, stellt sie Roland ein Ultimatum, das er ablehnt. Er verzweifelt an der Situation, als er nach Renates Auszug den Beruf, Haushalt und die Pflege schultern muss. An Weihnachten genießt er einen Trip nach Rust, der ihn mit den Kindern versöhnt. Ein Besuch eines Seminars für Burn-Out-geschädigte in Beruon verschafft im grundsätzliche Klarheit, wie er mit Franz umgehen würde. Er sorgt nach langem Hin und Her für die Verlegung des alten Vaters ins Heim, verliert endgültig den Boden unter den Füßen, als im die Geschwister die Schuld geben am Tod des Vaters – er nimmt sich das Leben. | |
Entwicklung:
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Roland durchläuft eine intensive Reifung: vom rücksichtlosen Ehemann, der die Bedürfnisse der Gattin ignoriert hin zu einem kompetenten Lebensentscheider, der die Verantwortung für die Familie ernst nimmt und abwägt zwischen Interessen. Er zeigt als einziger Anwandlungen, die entfernt mit Liebe verbunden werden können, als er Franz die Pflege anbietet, die Kinder an Weihnachten mit einem Besuch des Europaparks beglückt und als er zur Rettung der Ehe Franz in ein Pflegeheim abgibt. Obwohl er ehrlich das Beste wollte, scheitert er an den eigenen Wertmaßstäben und kann den Anfeindungen der Geschwister nicht widerstehen – er suizidiert sich. | |
Christa Kastel | ||
Person:
Entwicklung: |
Christa verliebt sich in der Jugend in Franz und entscheidet sich für eine frühe Heirat und bekommt mit ihm sieben Kinder. Sie übernimmt die Verantwortung für den Clan, versucht, Franz vom Rauchen abzubringen, schafft es nicht und bleibt trotzdem ihrem Mann treu. Sie hält ihm auch in den schwersten Stunden die Stange und freut sich sehr, als Franz erfolgreich eine Therapie absolviert. Sie muss an den Folgen eines unverschuldeten Unfalls sterben, die nächsten Angehörigen ersparen ein langwieriges Koma. Nach ihrem Tod wird den Kindern, aber auch Franz bewusst, dass Christa die Familie zusammengehalten hatte. Folgerichtig versucht Franz die Aufgabe zu übernehmen, schafft es nicht. Mit Christas Tod beginnt das Sterben der Familie, aber auch das von Franz.
Sie heiratete in ihrer Jugend den feschen und erfolgreichen Franz Kastel. Sie besitzt anfangs der Ehe viel Dynamik und übernahm überwiegend die Verantwortung für die Kinder und suchte die offene Konfrontation mit ihrem Mann. Als sie ihn in einer lebensbedrohlichen Lage auffindet, wird ihr bewusst, dass sie auch für Franz eine Verantwortung trägt und kämpft mit ihm um eine gemeinsame Zukunft, die durch die Halsstarrigkeit von Franz auf tönernen Füßen steht. Sie bemerkt nach der Therapie eine radikale Änderung bei ihrem Mann und weiß, wie wichtig sie für einander sind. Fortan leben und handeln sie miteinander. |
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Person: | Renate KastelRenate pflegt aufopferungsvoll ihren Schwiegervater, kümmert sich um Haushalt und die beiden Kinder, Annika und Lars. Als ihr die Last zu viel wird, verlangt sie von Roland eine Lebensentscheidung: Für das Leben der eigenen Familie und gegen den Schwiegervater. Als die erhoffte Entscheidung ausbleibt, setzt sie ihre Drohung in die Wirklichkeit um und flieht zu ihrer Schwester Marianne. Die bestätigt sie in ihrer Entscheidung, verlangt von ihr die Entscheidungstreue, als Renate an der Entscheidung zweifelt. Sie bemerkt die eigenen Interessen Mariannes und zieht weg, zusammen mit Annika und Lars. Sie widersteht den Verlockungen ihres Mannes, wieder im gemeinsamen Heim einzuziehen und beharrt auf ihrer Position. Auch die Schuldvorwürfe der Schwäger und Schwägerinnen bringen sie nicht zum Nachdenken, im Gegenteil: Sie fühlt sich durch eine aktuell übertragene Talkshow bestätigt. |
Entwicklung: Renate stellt den Prototyp der modernen Ehefrau dar: Sie streift die Rolle der
kostenlosen Pflegerin und Ehefrau zugunsten der emanzipierten Dame ab. Sie stellt kompromisslos die Bedingungen für das Zusammenleben und bemerkt nicht, wie sie ihre Familie zunehmend zerstört. Sie lebt ihr Leben und verfolgt ihre egoistischen Interessen, wozu sie wegen der langjährigen Pflege und Betreuung ihre moralische Berechtigung reklamiert.
Wichtige Verständnishinweise:
1) Warum beginnt die Geschichte an Weihnachten? – Bekanntermaßen erzeugt dieses Fest die intensivsten Gefühle und viele erwarten eine Menge an Wunscherfüllungen. So auch Renate Kastel. Nachgewiesenermaßen trennen sich um diese Zeit viele Paare, daher auch Roland und Renate.
2) Die Talkshow: Der Autor vertritt aus eigenen Beobachtungen gespeist die Meinung, Talkshows übernehmen in der modernen Gesellschaft die Rolle eines Tribunals. Themen werden kritisch beleuchtet, Menschen an den Pranger gestellt. Daher verfolgt Renate am Schluss eine Talkshow, wo sie bestätigt wird.
Zum Autor: Georg Braun (eigentlich Gerhard Engel) Jg.1966, studierte an der PH Freiburg/Breisgau die Fächer Deutsch, Kath. Religion und Gemeinschaftskunde. Seit über 20 Jahren ist Braun als Realschullehrer tätig, wohnt in Singen/Htwl. in der Nähe zur Schweiz. Er veröffentlichte im Sommer 2016 folgende Romane: „Bestien auf zwei Beinen“ im URL-Verlag am Bodensee und „Mobbel – Weg ins Leben“ bei tredition.
Leseprobe
[1]
Es war kalt. Bitterkalt. Minus vierzehn Grad im Dezember, fünf Tage vor Weihnachten – der Feiertag der Geburt Christi. Oder wie es verweltlicht das »Fest der Liebe« genannt wurde. Plätzchen wurden gebacken, die Mutter Renate mit den Kindern, der zwölfjährigen Annika und dem zehnjährigen Lars aus dem Teig formte. Der Adventskranz schmückte das Wohnzimmer, wo am Abend die Familie zusammenkam, betete und Lieder sang. Der Holzofen bollerte, die Wärme sorgte für eine gemütliche Atmosphäre.
Der Alte treibt mich in den Wahnsinn. Der Sargnagel meines kurzen Lebens. Habe die Schnauze gestrichen voll, dachte Renate.
Nach getaner Arbeit waren Renate, Roland und die Kinder müde. Der Familienvater war der Forstwirt der Gemeinde, seine Schufterei im Wald strengte an und erforderte viel Konzentration und Geduld. Geduld mit den Bäumen, die tief verwurzelt und schwer zu fällen waren und mit den Mitarbeitern, die schwerfällig taten, was Roland erwartete. Die Männer im Dorf konnten die Fallwege der Bäume nicht mit dem Auge berechnen, sie arbeiteten grobschlächtig. Wenn es nach den Hilfsförstern ginge, hätten die angesägten Nadelhölzer an dem Ort liegen zu bleiben, wo sie just standen. Das trieb Roland häufig auf die Palme, ein Wort gab das andere, die Forstgehilfen knurrten kurz und gaben letztlich widerwillig nach. Sie waren auf den Stundenlohn angewiesen. Hier, in dem kleinen Ort Hebelbach in Südbaden, war es schwer, einen Beruf zu finden, in dem genug zu verdienen war. Die Menschen schämten sich, arm zu sein, und ein Großteil der Bürger mied das Amt, obwohl sie die staatliche Unterstützung händeringend benötigt hätten.
Die sollen froh über mich sein, wegen mir hat Renate Arbeit, weiß sie, mit ihrer Zeit was anzufangen war Franz der Meinung.
Auch Renate, Roland, Annika und Lars Kastel besaßen eher knapp Geld. Zusätzlich war die Familie einer ganz besonderen Belastung ausgesetzt. Der Stress, der unkontrollierbar den Alltag durcheinanderbrachte, beunruhigte und traurig machte. Er forderte den vollen Einsatz der Familienmitglieder und gewährte selten eine mehr als zwanzigminütige Atempause. Schon seit zwei Jahren hatten die Kastels ein Problem, das die größte Aufmerksamkeit verlangte, und sie fanden keine Lösung dafür. Die Pflege des todkranken Großvaters zermürbte sie alle, und nur zu gerne hätten sie die Verantwortung abgegeben.
Eigentlich gehört der Alte ins Heim. Ich kann nicht mehr, die Kräfte sind aufgezehrt.
Doch sie scheuten bis zu dem Zeitpunkt diesen Schritt und wollten sich die Erschöpfung, die zur seelischen Ohnmacht geworden war, überspielen. Außerdem hatten die Kastels rechtliche Fesseln an den Händen. Franz Kastel, nenundsiebzig, litt seit vier Jahren und zweihundertsiebenundsechzig Tagen an Lungenkrebs. Die Metastasen zerstörten das Lungengewebe und befielen Leber und Nieren. Endstation, unmittelbar vor dem Friedhof. Aber was bedeutete das? Seit zwei Jahren kämpfte er täglich, stündlich, manchmal äußerst dramatisch gegen die Todesschlinge, die ihm die Luft abdrückte. Spätestens alle zwei Wochen verabreichte der Notarzt eine Spritze, damit er für weitere zehn Tage atmete. Die Ärzte wie die Kastels wussten um die Sinnlosigkeit der Maßnahmen. Einen Heimplatz lehnten die Kastels aus zwei Gründen ab: Erstens gab es einen Erbvertrag, der Roland verpflichtete, Franz bis zu seinem Tode zu pflegen. Bei einer vorzeitigen Aufgabe der Pflege müssten sie das Haus verkaufen und den Erlös unter den sieben Geschwistern aufteilen. Und zweitens lag das nächste Pflegeheim 20 Kilometer entfernt. So viel Herzblut floss durch die verstopfte Familienarterie, als dass man dem alten Kastel eine Pflegeheimunterbringung ersparte. Sie hingen irgendwie aneinander, auch wenn die Emotionen inzwischen eher in die negative Richtung ausschlugen. Eine unterkühlte Form der Hassliebe.
Lande ich im Heim, geht das Haus flöten, dann muss es verkauft werden. Renates Blick möchte ich in dem Moment sehen, wo der Notar den Vertrag protokolliert …
In Hebelbach lebten in den meisten Familien gewöhnlich mindestens drei Generationen unter einem Dach, das war selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Wer es ablehnte, die Eltern zu pflegen, wurde mit Verachtung gestraft. Renate zumindest hätte das in Kauf genommen: Am Boden ihrer Kräfte fühlte sie den Mitbewohnern des Dorfes und den sozialen Regeln gegenüber nur noch Abscheu. Die Dorfbewohner zeigten gerne mit dem Finger auf Leute, die es schwer hatten. Mit den Dorfregeln, aber zudem mit dem Leben. Zu dieser Gruppe gehörte Renate. Sie kämpfte ums seelische Überleben. Vorwürfe von Menschen, die in einer anderen Lebenssituation sind, würde sie kalt lassen, sie hasste Leute, die mit erhobenem Zeigefinger das Trottoir entlangschlichen und überforderte Mitbürger verurteilten.
»Die Arschlöcher, putzen bestenfalls den eigenen Popo, und verachten mich, die einen dreckigen Alten ins Bad schleift und abduscht.« Renate hatte genug vom Dorftratsch, satt bis über beide Ohren.
Wenn Franz nicht verschwindet, …. Roland muss aufwachen!
An den vergangenen zwei Heiligabenden hatte der Notarzt ausgerechnet die Bescherung gestört, auf die Annika und Lars hingefiebert hatten.
Das tut mir leid für die Kleinen. Aber was kann ich für meine Erstickungsanfälle? Würde jeder andere um Luft ringen, käme auch der Rettungsdienst. Jeder würde eine Hilfe dankbar annehmen. Von mir erwartet mir was anderes …abkratzen. Da geb ich mein Haus her und als Dank pflastert man mir den Weg in die Grube. Wie nett und herzlich. Leben kann ich hier in der Tat nicht mehr, aber deswegen ins Heim abhauen? Damit Renate die Früchte meiner harten Lebensarbeit allein einsackt?
Niemand behauptete, Franz simulierte. Roland, Renate und die beiden Kinder, sie sehnten ein liebevolles und friedliches Weihnachten herbei. Annika und Lars lebten die längste Zeit ihres noch kurzen Lebens mit dem Opa zusammen und fühlten sich permanent in die zweite Reihe gedrängt. Begrenzt akzeptierten sie diese Rolle. Langsam wurde es Zeit, dass auch ihre Bedürfnisse erfülltwurden.
Opa am Morgen, Opa hier und Opa am Abend. Pass mal auf Opa auf, ich muss einkaufen. »Darf ich eine Freundin einladen?«
»Nein, du weißt doch, dass der Opa Ruhe braucht.«
In dem Klima gedieh eine aggressive Stimmung, denn Annika kam in die Pubertät und spürte eigene, pulsierende Energien aufkeimen. Sie beobachtete an anderen, wie die mit ihren Müttern redeten, wie sie ernst genommen wurden. Das wünschte sich die junge Kastel, wie sie im Dorf genannt wurde, auch. Und sie giftete dann zurück:
»Der Opa hat kein Recht, dich aufzufressen, ich bin auch da.«
Die verzweifelte und kraftlose Renate wollte nach mehreren Jahren endlich wieder einmal Weihnachten feiern. Nichts anderes. Ein berechtigtes Anliegen. Jeder feierte in Deutschland das Fest der Liebe, für sie wurde es zum Horrorfest der Hiebe. Sie quälte sich jahrelang im Hamsterrad, aus dem sie keinen Ausweg fand. Es keimten Gedanken an die eigene Zukunft und die der Kinder auf. Eine Zeit erleben, die von Selbstbestimmung und ohne Zwänge gestaltet wurde. Keine strangulierenden Bindungen an einen siechenden Opa. Die beiden Kinder lebten befreit auf, lernten mit Freude und genossen die Kindheit und Jugend. Sie war so entnervt von der ausweglosen Situation und hatte kein Patentrezept. Opas Zustand verschlechterte sich zusehends.
Bald betrachte ich die Radieschen von unten, dann freut sich Renate. Und Roland? Der steht unter ihrer Fuchtel und sie knechtet ihn. Furchtbar. Er übersieht mit den blinden Augen die Tatsachen, der arme Kerl. Mir tut´s weh, was aus ihm geworden ist. Ein pieseliger Waschlappen, der für jeden Schritt Renates Zustimmung braucht. Würd`s mir besser gehen, ich hätte der Tyrannin längst eine geknallt. Roland muss auf den Tisch hauen, er geht sonst vor die Hunde.
Heimlich holte sie bei ihrem Hausarzt Dr. Fünfstern und einem weiteren Fachmann Informationen ein. Sie interessierte, ob man einen Sterbenskranken durch medikamentöse Hilfen rechtlich einwandfrei erlösen könnte besser, dürfte. Sie dachte dabei mehr an ihre juristische Absicherung, weniger an ein sterbenbeschleunigendes Präparat. Die Mediziner boten übereinstimmend eine schmerzstillende Spritze an, Weitergehendes wäre bedenklich.
Eine Maßnahme, die zum sofortigen Ableben führte, lehnten beide ab. Allenfalls käme eine Sekundärmaßnahme in Betracht, also eine solche, die vordergründig eine zusätzliche Krankheit behandelt mit dem Nebeneffekt, dass der Patient eventuell früher stürbe.
Renate hatte den Ausführungen der Fachleute gelauscht, aber nicht alles richtig verstanden.
»Dann wäre es also möglich, unserem Vater eine letzte Injektion zu verabreichen, damit er schneller sterben könnte?«
Fünfstern stotterte ein wenig, leise, kaum hörbar.
Was soll ich der Frau Kastel denn sagen? Ich verstehe sie, ja, nur zu gut. Der alte Knochen macht ihr das Leben zur Hölle, zur Höchststufe einer überhitzten … Ich baue ihr eine gedankliche Brücke, was sie anfängt, überlasse ich ihr … Ich … lasse die Finger von Sterbehilfe, ansonsten lande ich in Teufels Küche.
»Man kann einem Todkranken, der Selbstmord begehen möchte, mit einer Spritze die Angst nehmen.« Sie hörte nur noch »Spritze« und sehnte die nahe Erlösung ihres Martyriums herbei. Ob ihr Schwiegervater an Selbstmord dachte, musste sie mit Schulterzucken beantworten. Ihre Gedanken waren auf das bevorstehende Fest der Liebe fokussiert. Und dass Franz dann …
»Dieses Weihnachten werden wir ungestört feiern«, versprach Renate den Kindern, »nochmal lassen wir uns durch nichts und niemanden stören.«
»Wie meinst du das?«, schaltete sich Roland ein.
»Dass der Notarzt wegbleiben wird.«
»Woher willst du wissen, dass wir den dieses Jahr nicht brauchen?«
»Weil wir ihn nicht mehr rufen werden oder dein Vater nicht mehr bei uns ist … oder ich.«
»Wie bitte? Du willst meinen Vater nicht mehr …?
»Genau. Dr. Fünfstern wird uns vielleicht …«
»Was wird Dr. Fünfstern?, he?«
»Dein Vater ist schwerkrank, er röchelt vor sich hin und wird bald sterben, das sagt auch der Arzt. Der meint, Franz würde nicht loslassen können und er hätte eine Medizin, die Franz beim Sterben helfen würde. Warum dann nicht …«
»Hör mal gut zu, liebe Renate. Franz ist mein Vater, er gehört für mich zur Familie wie Annika und Lars. Fertig, aus.«
»Die Kids leiden unter ihm. Welchen Eindruck bekommen sie von Weihnachten, wenn er uns permanent mit seinen Erstickungsanfällen die Freude nimmt? Willst du, dass deine Kinder mit Weihnachten den puren Horror verbinden?«
»Wenn du ihn umbringen willst, was lernen die beiden dann? Man kann jeden beseitigen, falls er einem lästig wird? Nein und abermals nein! Mein Vater gehört zu uns, er hat das Recht, dass wir ihm helfen. Du warst auch einverstanden, als er uns vor neun Jahren das Haus überschrieben hatte, oder nicht?«
»Ich will ihn grundsätzlich am Leben halten. Seine Gesundheit weist eine andere Richtung, ins Finale. Nimm das zur Kenntnis. Dein Vater hat ein Problem: Er tut sich schwer mit dem Sterben. Das ist vielleicht eine Liebestat, wenn wir ihn erlösen. Und übrigens: Im Erbvertrag steht nicht, dass er uns jedes Weihnachtsfest zerstören darf und wir uns von ihm zugrunde richten lassen müssen.«
»Da steht aber, dass wir für seine Pflege bis zum Tod aufkommen. Und du kassierst 1800 Euro Pflegegeld doch auch gerne. Wenn er nicht mehr lebt, ist Schluss damit.«
»Roland, kapier endlich: Ich bin mit meiner Kraft am Ende, mit den Nerven sowieso. Mir geht es nicht mehr um die Kohle. Sollte ich draufgehen, hilft dir keine Million!«
»Du hast bisher immer wieder die Kurve gekriegt. Denk an den Erbvertrag. Willst du das Haus verkaufen und den Kindern ihr Heim wegnehmen? Vater wird bald sterben, aber noch lebt er. Und wir sollten alles tun, damit er würdig lebt und genauso stirbt.«
»Wir sollen ihn wegen der Kröten um jeden Preis am Leben lassen, meinst du das? Mir steht Franz hier, am oberen Scheitel. Wenn du wüsstest. Nein, Roland, ich fange lieber woanders neu an, aber diese Qual muss ein Ende haben.«
»Das Geld ist das eine, es geht aber auch ums Prinzip. Man bringt nicht einfach einen Menschen um, weil er stört. Denk an deine Mama. Du hast sie auch bis zu ihrem Tod gepflegt. Und die hat unter Demenz gelitten. Unser Haus war unsicher wegen ihr. Was hättest du gesagt, wäre ich eines Tages dahergekommen mit dem Vorschlag, sie um die Ecke bringen zu wollen? Wärest du damit einverstanden gewesen?«
»Du übersiehst den entscheidenden Unterschied: Meine Mutter konnte reden und hat Weihnachten mit uns gefeiert. Sie störte nicht eine Feier, dein Vater jede.«
»Sie brauchte uns die ganze Zeit. Und ich musste sie oft zum Arzt fahren. Fünfstern kommt dagegen immer hierher. Natürlich können wir das Geld gebrauchen, keine Frage.«
»Und deswegen sollen wir ums Verrecken einen Todgeweihten künstlich am Leben halten?«
»Nein, wir begleiten ihn beim und im Sterben, wie bei deiner Mutter. Wir pfuschen nicht rein und geben ihm keine Spritze!«
»Du kapierst nicht, dass ich mit den Nerven am Ende bin. Roland, ich kann nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Entweder, wir finden eine Lösung, oder …«
»Oder was?«
»Oder du kannst Franz alleine pflegen. Ich bin dann weg.«
Die ständigen Hilfsmaßnahmen, wenn Franz sich beim Essen verschluckt hatte, die Körperpflege, das Einmassieren des schrumpeligen Rückens, all das überforderte sie. Zudem der Haushalt, die Kinder mit den Schulschwierigkeiten und einen Ehemann, der tagsüber kaum greifbar war. Sie war überlastet, ihre Umgebung überhörte und übersah sie. Die Fronten verhärteten sich. Roland und Renate kamen nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Keiner verstand den anderen. Beste Voraussetzungen für ein katastrophales Weihnachtsfest. Immerhin wusste Roland nun, dass Renate seinen Vater nicht mehr weiter pflegen wollte und konnte. Jetzt waren die Karten auf dem Tisch.
Renate ging die Treppe hoch ins Schlafzimmer und suchte ihre Kleidung zusammen. Sie stapelte sie und legte sie zur Seite auf den Boden. Ihr war klar geworden, wie chancenlos und einsam sie im eigenen Haus dastand. Roland hing an seinem Vater. Er konnte sich genauso wenig von Franz trennen wie umgekehrt. Aber die Pflegearbeiten musste sie größtenteils leisten, ihre Erschöpfung wurde nicht zur Kenntnis genommen. Annika und Lars passten ab und an auf Franz auf oder kochten ihm einen Tee. Roland stand nachts auf. Umfangreichere Hilfe sah anders aus.
Sie stieg zum Dachboden hoch und holte zwei Koffer. Zeichen, die Roland die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens vor Augen führen sollten. Annika und Lars schliefen bereits. Ihretwegen zögerte Renate noch, ob sie tatsächlich gehen wollte. Es wäre eine Option für die Familienmutter, die Kinder zurückzulassen. Und das war schon eine ganze Zeit so. Sie rang mit ihrer Mutterrolle und der aus der Erschöpfung gediehenen Sehnsucht, auf eigenen Füßen zu stehen. Weihnachten erkor sie aus, für klare Verhältnisse zu sorgen. Sie sah keine gemeinsame Zukunft mehr. Keine mit Roland und Franz. Ihre Kinder liebte sie innig, doch die Spannungen im Haus waren für alle belastend. Lars und Annika liebten ihren Vater, sie vergötterten ihn nahezu. Renate sah die letzte Chance, dass sich etwas änderte, wenn sie ging. Definitiv, ohne geäußerte Rückkehrabsichten. Dann musste Roland in die Bresche springen und er würde nur dann erkennen, was Renate für die Familie geleistet hatte. Sie genoss die Vorstellung, wie Roland winselnd, bettelnd angekrochen käme, sie ihn zappeln ließe. Der Hass fraß sie auf. Sie brauchte zuviel Lebensenergie auf, in der Aufopferung für Franz, die Familie, den Haushalt.
Nur, wenn die Kids es wollten, würde sie über eine zeitlich befristete und klar geregelte Rückkehr nachdenken. Ohne Zwang würde Roland nichts ändern. Wenn sie bliebe …, ein Gedanke, den sie rasch runterschluckte …
Welche Herausforderung wartete auf sie nach dem Tod von Franz? Ein Leben mit Roland? Die Ungewissheit grub tiefe Furchen in die Seele. Sie erlebte nur eine lange Zeit mit Franz und einem Ehemann, der sie mit der Last in Gestalt eines alten Sterbenden alleine ließ. Sie packte der Mut. Die Phantasien, die Hassvorstellungen, Enttäuschungen, führten zu nichts. Sie musste ins Handeln kommen.
Sie dachte endlich mal an sich. Und ihre Gedanken fühlten sich warm und wohlig an. Sie ging mit einem entschlossenen Lächeln ins Bett.
[2]
Das Geburtsjahr von Franz Kastel war das Jahr 1937. Hitlers Kriegsvorbereitungen liefen verborgen und dennoch auf Hochtouren. Im Grunde erging es den Kastels recht ordentlich. Sie lebten weniger im finanziellen Wohlstand als in einem Leben mit ausreichender Nahrung. Sie hatten das Nötigste und das genügte.
Franz Kastel wurde in Hebelbach geboren. Das Jahr seiner Geburt blieb von Kriegswirren noch verschont, im beschaulichen Dorf bekamen die Bürger sehr wenig von der großen Politik in Berlin mit. Der kleine Franz war das sechste von sieben Kindern seiner Eltern, Rudolf und Maria Kastel, die eine Landwirtschaft betrieben. Kinderreiche Familien gab es damals viele, denn Kinderreichtum verstanden die katholisch glaubenden Menschen in Hebelbach als Geschenk Gottes. Empfängnisverhütung lehnte man bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts rigoros ab. Die Bauern bekamen aber auch aus einem weiteren Grund viele Nachkommen: Sie brauchten sie schon von Kindesbeinen an als Hilfskräfte in der Landwirtschaft. Die Schulkinder wurden von der Schule tagelang ferngehalten, weil sie als Erntehelfer zupackten. Bildungsbedürfnisse erstickten im Keim. Überhaupt wollten Rudolf und Maria von einer guten Schulbildung wenig wissen. Der Besuch der weiterführenden Schulen kostete Geld, das zuerst verdient werden musste. Sie trauten allen Kindern einen Beruf zu, aber ein langes Studium sahen sie als vertane Zeit. Geld verdienen, früh auf eigenen Füßen stehen, eine Familie gründen. Das waren die damals angesagten Werte. In die Kinderschule, wie der Kindergarten damals genannt wurde, ging Franz mit wechselnder Begeisterung. Die Schwestern des Franziskanerordens führten ein strenges, von körperlicher Züchtigung nicht zurückschreckendes Regiment. Schläge verteilten die Ordensfrauen, falls man beispielsweise den Toilettenbesuch ablehnte, obwohl er angeordnet wurde. »Ich muss nicht aufs Klo«, winselte der kleine Franz, worauf er eine Ohrfeige erhielt. Das verletzte das zarte Kinderseelchen und er hatte täglich Angst vor der Toilette. Beziehungsweise, sie zu meiden. Maria, seine Mutter, unterstützte ihm gegenüber die Maßnahmen der Kindergärtnerinnen, trotzdem sie innerlich dem Kleinen Recht geben musste. Sie wollte sich nicht mit den angesehenen Autoritäten anlegen. In der Dorfgemeinschaft galten die Nonnen als unangefochten und heilig. Die Leute würden mit dem Finger auf Franz und die Kastels zeigen, sollte man Ärger mit dem Kindergarten anzetteln. Franz hatte immerhin den zwei Jahre älteren Bruder Robert, der den Arm um ihn legte, wenn er von Schwester Irmintrud eine Ohrfeige kassierte. Ohne den brüderlichen Beistand hätte der kleine Franz die Kindergartenzeit kaum schadlos überstanden.
Als Sechsjähriger wechselte er mit den Gleichaltrigen aus dem Kindergarten in die Hebelbacher Volksschule. Karl-Josef Kürner, ein Kriegsversehrter aus dem Ersten Weltkrieg, leitete die Dorfschule und war der Klassenlehrer von Franz. Rechnen, Schreiben, Lesen und Erdkunde unterrichtete er in dieser Klasse. Er ersetze in anstrengenden Situationen didaktisches Geschick durch Prügel mit dem Stock oder durch Kopfnüsse. Der Pauker durfte es sich mit den Bauersleuten nicht ganz verscherzen, denn die Bewohner sorgten für sein Wohlergehen: mietfreie Unterkunft in der Lehrerwohnung und kostenloses Mittagessen in der Gastwirtschaft. Die Hebelbacher wünschten zwar eine gut erzogene Jugend, aber keine windelweich geprügelte. Das hatten manche Mütter dem Kürner unter der die Nase gerieben, wenn man sich mittags auf den Feldern begegnete. Die Frauen bei der Arbeit, Kürner beim Spaziergang.
Die Schule lernte Franz irgendwann als notwendiges Übel zu akzeptieren. Er schuf sich eine besondere Stellung in der Klasse, indem er für das morgendliche Anfeuern des Ofens im Winter sorgte. Morgens eine warme Schulstube, das schätzte Kürner und drückte dem kleinen Franz schon mal ein Bonbon in die Hände, was den Jungen erfreute und seine Augen funkeln ließ.
Der Krieg verschonte das Dorf in der Nähe der Schweizer Grenze weitgehend. Die Bevölkerung konnte sich selbst versorgen und musste keine Not leiden. Die Kinder hatten den Eltern sowieso zur Hand zu gehen, im Krieg manche noch mehr als früher, falls nämlich der Vater eingezogen worden war. Zum Glück blieb Rudolf als gelernter Schmied zu Hause. Die Nazis reservierten ihn für die Heimatfront, wenn Waffen nachproduziert werden mussten.
Nach dem Krieg wurden alle verfügbaren Hände in der Dorffabrik benötigt. Dort wurden Metalle für alle möglichen Zwecke verarbeitet. 1950 fieberte Franz dem Ende der Schulzeit entgegen. Die Kinder verließen damals regulär die Volksschule am Ende der siebten Klasse und begannen eine Lehre oder arbeiteten als Hilfsarbeiter. Franz fing eine Schlosserlehre an, abends unterstützte er die Eltern in der Landwirtschaft.
Franz wie die Alterskameraden wurden hart rangenommen. Arbeit war eine körperlich anstrengende Veranstaltung, die Ausdauer abverlangte, wenig Pausen angeboten hatte und von Jugendarbeitschutzgesetzen und anderen großzügigen Errungenschaften nicht nennenswert wusste. Manche Lehrlinge entrichteten pflichtschuldig Lehrgeld, weitere wie Franz bekamen Geld für die Ausbildung, etwa eine Mark am Tag.
Wenn die äußerst knapp bemessene Zeit es ermöglichte, kickte Franz in der Jugendmannschaft des SV Hebelbach. Ebenso ministrierte er seit der Erstkommunion in der katholischen Kirche. Trotz der Einschränkungen, die die Zeit mit sich brachte, fühlte sich Franz wohl, es mangelte ihm an nichts. Mir sechzehn legte er erfolgreich die Gesellenprüfung ab und arbeitete danach als Facharbeiter weiter beim selben Betrieb.
Franz verhielt sich in der Jugend wie die meisten jungen Männer der damaligen Zeit. Ausbrüche, die den Kleidungsstil oder das soziale Benehmen betrafen, missbilligte die Bevölkerung. Drogenexzesse, Jugendkriminalität – sowas gab es in der Umgebung Hebelbachs einfach nicht! Man engagierte sich für die Dorfgemeinschaft und schlug niemals über die Stränge – höchstens mal mit ein, zwei Bierchen zu viel bei einem der Dorffeste.
Anlässlich des Frühjahrskonzertes im Jahre 1955 des örtlichen Musikvereins saß der junge Franz unter den Zuhörern. Ihm fiel ein blondes Mädchen auf, das sich durch ihr feingliedriges Gesicht von den anderen Musikern wohltuend abhob. Sie spielte Klarinette, er hörte begeistert zu. Die Begeisterung konzentrierte sich auf die Blondine, weniger auf die Musik, von der Franz kaum etwas verstand. Er fasste den Entschluss, das Fräulein bei nächster Gelegenheit näher kennenlernen zu wollen. Sie war jünger als er, daher wusste er außer ihrem Namen und der Straße, in der ihr Elternhaus stand, nichts von ihr. Doch nur eine Woche später lernten die beiden sich näher kennen: In der Walpurgisnacht tanzte die Jugend begeistert in den Mai, Christa Reinbold, so der Name der jungen Frau, und Franz tanzten nach einer Viertelstunde unzertrennlich. Seine gewinnende, zuvorkommende Art imponierte Christa, die rasch erkannte, dass ihr Tanzpartner Feuer gefangen hatte. Der Mai des Jahres 1955 war schon fünf Stunden alt, als Franz die junge Frau nach Hause begleitete. Auf dem Weg erzählte sie Franz von ihren Vorlieben und Abneigungen, ihrem Besuch der Volksschule, ihrer Begeisterung für die Klarinette und ihrer Freude, wenn sie ihrer Mutter im Haushalt zur Hand gehen durfte. Sie war sich sicher: Dabei lernte sie eine Menge für ihr zukünftiges Leben.
Es dauerte nur wenige Wochen, bis die beiden ein festes Paar geworden waren. In den fünfziger Jahren wurden die Mädchen in der Schule und im Elternhaus auf ihre Mutter- und Hausfrauenrolle vorbereitet. Eine längere Ausbildung für sie galt als unnötig und überzogen. Die Rollen in der Ehe waren klar verteilt: Der Mann verdiente durch die Arbeit das Geld, die Frau kümmerte sich um den Haushalt und den Nachwuchs. Bis in die Mitte der Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmte der Mann alleine, ob die Ehefrau berufstätig sein durfte. Er konnte auch Kaufverträge der Ehepartnerin rückgängig machen, was heute undenkbar wäre. Auf dem Dorf wurde die Rollenverteilung lange Zeit aktiv gelebt und selten hinterfragt. Christa und Franz war klar, dass sie heiraten wollten. Die älteren drei Geschwister Christas hatten das Elternhaus schon verlassen und wohnten in der Umgebung Hebelbachs. Christa brachte es nicht über ihr Herz, ihre Eltern mit der Landwirtschaft im Stich lassen. Sie konnte Franz überzeugen, mit ihr bei ihren Eltern zu wohnen und diese tatkräftig in der ländlichen Arbeit zu unterstützen. Franz zögerte zuerst, hatte er doch seinen Eltern die weitere Unterstützung auf deren Bauernhof zugesagt. Zudem arbeitete er als Schlosser in der Fabrik und peilte in naher Zukunft die Meisterprüfung an. Seiner Frau zuliebe gab er ihrem Wunsche nach und ließ sich auf das Abenteuer »Ehe bei den Schwiegereltern« ein. Der Betrieb von Christas Eltern fußte auf mehreren Einnahmequellen: Milchvieh, Obstanbau, Wein und Tabak. Letzterer zog den neuen Schwiegersohn und Mitarbeiter der Familie Reinbold besonders in den Bann. Er erkannte, dass mit dem Kraut ein lockerer Lebensstil einherging. Den brauchten die Menschen, die immer noch unter den Nachwirkungen des Krieges litten und froh waren über jeden kleinen Luxus. So fing auch Franz an, zu rauchen. Die Zigaretten drehte er selbst, in den Anfangsjahren wurde reiner Tabak geraucht. Erst später mischte die Industrie Suchtgifte bei, damit die größer werdende Raucherschar lange bei der Stange blieb. Das Bewusstsein der damaligen Menschen akzeptierte das gesundheitsschädigende Vorgehen. Eigentlich kümmerte es niemanden, was man inhalierte. Schließlich, so die Meinung, entschied jeder selbst, ob man rauchte oder es bleiben ließ. Franz tat die zart aufkeimende Aufklärung der Gefahren des Nikotinkonsums als »dummes Geschwätz« ab und paffte weiter täglich zwanzig Zigaretten. Kollegen und Freunde machten es genauso, man freute sich, gemeinsam »eine zu rauchen«. Christa ärgerte der Gestank in der Wohnung und die durch den Dunst braun gewordenen Gardinen. Aber da er als Arbeitskraft dringend gebraucht wurde, akzeptierte sie das Laster ihres Gatten. Er hatte seine Freude beim Qualmen.
Die Eheschließung war ein halbes Jahr her. Franz kam von der Arbeit nach Hause, Christa war weg. Weder die Schwiegereltern noch die Nachbarn wussten, wo Christa abgeblieben war. Eine Stunde hatte Franz voller Ungeduld und Sorge gewartet, ehe Christa auf dem Fahrrad in den Hof einbog. Mit einem Lächeln auf den Lippen drückte sie die Klinke der Eingangstür hinunter und fiel unvermittelt ihrem überraschten Mann um den Hals:
»Wir werden bald einer mehr sein, Schatz, wir bekommen ein Kind. Ich war beim Frauenarzt.«
»Waas? Habe ich richtig gehört: Du bist schwanger?«
»Jaaaa«, strahlte sie Franz an, hüpfte in die Höhe und küsste ihn auf die rechte Wange. Im ersten Moment wusste er nicht, wie ihm geschah, und suchte einen Stuhl, auf den er sich setzen konnte.
Als praktisch veranlagter und religiöser Mensch dachte er nicht an die Frage, ob er das Kind wollte oder nicht – das stand für ihn fest. Er überlegte, wo er den Nachwuchs im Bauernhaus unterbringen sollte.
»Die ersten Monate bleibt es sowieso bei uns im Schlafzimmer, dann schauen wir, wo wir Platz schaffen.« Christa sah die Zukunft mit Kind gelassen, während Franz in Gedanken schon mit den Planungen beschäftigt war: »Ich werde ausmessen, ob wir auf dem Dachboden noch zwei Zimmer herrichten können«, murmelte er, und sprach gleich seinen Schwiegervater Hans an, der sich natürlich unheimlich mit dem jungen Paar freute.
»Ha, ja, wir werden ohne Probleme auf dem Dachgeschoss eine kleine Wohnung ausbauen, da fangen wir bald an.« Mit dieser Antwort lebte Franz ab sofort leichter und elanvoller. Als das dritte Kind geboren wurde, entschieden die jungen Eltern, neben dem Bauernhaus auf dem Grund der Reinbolds ein großes, mehrstöckiges Haus zu bauen. An seiner Mitarbeit in der reinboldschen Landwirtschaft änderte sich nichts, selbst als noch vier weitere Kinder dazukamen. Christa ging in der Mutterrolle auf, während Franz für die Erziehung wenig Zeit aufbrachte. Schließlich arbeitete er gleich in mehreren Betrieben: In der Metallfabrik und den beiden argarökonomischen Betrieben der Eltern und Schwiegereltern. Bei Gelegenheit nahm er die älteren Kinder – Reinhold, Günter und Dieter – mit auf die Äcker. Die Buben saßen dann auf dem Traktor, während er noch manuell Unkraut jätete. Und dabei pustete er fast ununterbrochen eine meterlange Rauchwolke aus dem Mund. »Ohne meine Zigi geht nichts«, lächelte er die Jungen an, wenn sie sich über den lästigen Rauch beklagten und husten mussten. Der Genuss des Tabaks entspannte den überlasteten Vater. Er stemmte die Aufgaben, weil er sich das kleine Laster gönnte, auf das er sich freute wie ein Kind auf Geschenke. Selbstverständlich erwartete er, dass die Familie den Qualm tolerierte. Christa murrte erst Jahre später energisch. Inzwischen waren alle sieben Kinder auf der Welt, und die Mutter verlangte nachdrücklich ein rauchfreies Zimmer. Da die Schlafräume mehrfach belegt und das Wohnzimmer als Aufenthaltsraum und Zentrum der Familie genutzt wurde, rauchte Franz des Öfteren in der Küche, insofern alle bei Tisch saßen und das Essen genießen wollten. Im Fall, dass die Eheleute mal stritten, ging es meistens um den Zigarettenqualm, den Christa nach jahrelangem Passivkonsum nicht mehr akzeptieren wollte. Doch Franz blieb stur: »Wenn ich hart arbeiten muss, gönne ich mir die Zigaretten. Da kannst du machen, was du willst.« Sie knickte einstweilen ein, denn sie brauchte ihren Mann und die sieben Kinder den Papa. Christa öffnete nach den Rauchorgien ihres Mannes die Fenster und lüftete minutenlang. Das verschaffte für eine kurze Dauer frische Atemluft und schonte einigermaßen die Lungen der Kinder.
Schlimm wurde es, falls Besuch mit brennender Zigarette in der Hand vorbeischneite und die Zimmer im Erdgeschoss vollqualmte. Dann konnte Christa unwirsch werden und die Gäste energisch auffordern, die Qualmstängel auszumachen. Die Familienmutter reagierte instinktiv und beschützte ihren Nachwuchs. Notfalls vor dem Vater.
Franz bekam Vorwürfe zu hören, von wegen rauchen würde schädigen. »Was die Natur zur Verfügung stellt, kann dem Menschen nur Nutzen bringen.« Er kannte selbst viele Umweltgifte und wusste, wie sehr er daneben lag. Ihm ging es um etwas ganz anderes. Der Tabak mitsamt dem Dunst füllte die innere Leere, der Körper verlangte nach einer sättigenden Substanz und war froh um jeden natürlichen Stoff. Der Genuss einer selbstgedrehten Zigarette veredelte das seelische Gleichgewicht zu einem Dauerwohlfühlzustand, den er immer genießen wollte.
Die besorgte Christa verhielt sich rücksichtsvoll und dennoch weitblickend. Auch ohne weiterführende Schulbildung leuchteten ihr die unheilvollen Folgen des Rauchens ein. Was an einfachen Gardinen so dunkle Spuren hinterließ, richtete im Körper Schäden an, so ihre Vermutung. Sie befürchtete den Tag, der das Familienleben dramatisch verändern würde. Ihre Ahnung verriet, dass dieser Moment nicht ewig auf sich warten lassen würde. Sie wirkte angespannt, immer in Erwartung einer bösen Überraschung. Blieb die Frage, wie lange sie warteten würde.
[3]
Renate hatte es eilig. Sie wollte gegangen sein, wenn Annika und Lars aufstanden. Ihr Gesicht verriet Spuren eines schlechten Gewissens. Das bekam sie nicht wegen ihres Todeswunsches für Franz. Sie spürte, dass sie ihre Kinder für etwas leiden ließ, wofür die beiden am wenigsten etwas konnten.
Ich weiß, dass ich möglicherweise Mist baue, ja. Aber verdammt nochmal, einmal im beschissenen Leben möchte ich wichtig sein, einfach nur genießen, nicht das, was Roland und der alte Knacker mir abverlangen. Ich habe lange eine Rolle gespielt. Sie passt mir jetzt nicht mehr. Bei genauem Hinsehen lehnte ich sie schon seit geraumer Weile ab. Nachgeben, dachte ich, wäre eine verständliche Sache, die mal er, mal ich praktizierte. Roland meinte, ich als Weib hätte toujours das zu machen, was der Alte oder er wünschten. So nicht, meine Herren.
Roland lag noch im Bett und schnarchte. Üblicherweise stand er um 5.30 Uhr auf, das bedeutete für sie, spätestens um fünf Uhr das Haus zu verlassen.
Die Horrorvorstellung, wenn sie hierbliebe, den lästig gewordenen Schwiegervater weitere ungewisse Tage pflegen zu müssen, trieb sie in ihr Auto. Sie wollte weg, nicht weit, aber weg. Sie hatte keine Zukunftspläne. Vom Ort der jahrelangen Aufopferung für einen todgeweihten und anstrengend gewordenen Franz einige Kilometer entfernt zu sein – das reichte ihr zunächst. Noch so nahe, dass sie Annika und Lars an Weihnachten zu sich holen konnte, falls sie die Krise nicht mehr bewältigten und getröstet werden mussten. So weit wirkte dann ihr mütterlicher Instinkt dann doch noch. Ihre Wehrlosigkeit verstanden ihre Mitmenschen als fiese Retourkutsche, vielleicht als Rache für entgangene Lebensfreude. Dass man nach jahrelanger, pausenloser und aufopferungsvoller Pflege eines schwerkranken und schwierigen Menschen am Limit der Kräfte angekommen sein könnte, dämmerte weder Roland noch seinen Angehörigen. Es hatte bislang bestens geklappt. Und für die Geschwister kam die Hausübergabe wie ein Affront vor. Roland musste sich seine Bevorzugung durch harte Arbeit verdienen. Daher kam den Brüdern und Schwestern der Gedanke, die überforderte Familie Rolands zu unterstützen, überhaupt nicht in den Sinn. Im Gegenteil: Mit Argusaugen verfolgten sie in ihrer Verbitterung, wie der väterliche Kronensohn mit Franz umging. Von jenem hatten sie Abstand genommen und besuchten ihn kein einziges Mal. So enttäuscht waren sie.
Renate startete den Motor ihres Fiat Punto und schlich leise vom Hof. Tränen schossen ihr ins Gesicht, sie kam sich als Rabenmutter vor. Sie liebte ihre beiden »Goldschätze«, musste aber ab dem Zeitpunkt ihrer Entscheidung in erster Linie an sich denken. Ihr Selbstbewusstsein sank in all den Ehejahren auf Erbsengröße. Roland und die Kinder nahmen ihre Wünsche entweder nicht wahr oder ignorierten sie. Sie erlebten Renate als energiegeladene und vor allen Dingen liebevolle Ehefrau und Mutter, der die Wünsche und Sehnsüchte der Familie äußerst wichtig waren. Bis sie selbst im Familienchaos untergegangen war. Die emotionalen Hilfeschreie verpufften in der Pflege von Franz und den Diensten an der Familie. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch, den Roland ignorierte. Stattdessen forderte er Renate auf, »ihre Schauspielereien« sein zu lassen. Es gäbe schließlich wichtigere Dinge, als ihre Hirngespinste auszuleben. Solche Äußerungen verletzten sie tief. Sie wehrte sich nicht, bis sie am vorigen Tag die Kraft aufbrachte, auf den Tisch zu hauen und mit ihrem Wegzug zu drohen. Was sie in diesem Moment in die Tat umgesetzt hatte. Und trotzdem waberten im Hinterkopf Gewissensbisse, die sie, um sich selbst die vielleicht letzte Lebenschance zu ermöglichen, verdrängte.
Marianne Haberer, die jüngere Schwester von Renate, wusste um ihre Situation. Sie kannte die Pläne Renates und war ihrer älteren Schwester in der Trennungserfahrung voraus: Vor drei Jahren ließ sie sich von ihrem Mann Holger scheiden. Als Renate ihr Leid klagte, riet Marianne zur baldigen Trennung, bevor sie dazu die Kraft nicht mehr aufbrachte.
»Seit ich Holger los bin, habe ich Luft zum Atmen und Kraft für neue Erfahrungen«, gab sie Renate zur Antwort, als diese an dem Trennungsratschlag zweifelte. Denn Marianne hatte keine Kinder, Annika und Lars brauchten Renate dringender denn je. Das zwölfjährige Mädchen kam in die Pubertät und suchte oft den mütterlichen Halt, während Lars die Hilfsdienste Renates in Sachen Hausaufgaben und Schule gerne beanspruchte.
»Was haben die beiden von mir, wenn ich kraftlos bin, und ihnen die Hilfe verweigere?«, sprach sie zu sich. Dies mantraartige Bekenntnis sollte die argumentative Grundlage sein für den Fall, dass irgendjemand eine Rechtfertigung für den mutigen Entschluss erfragte. Und jener Gedanke befähigte sie zu dem schmerzhaften Affront ihren Kindern gegenüber, die an diesem zwanzigsten Dezember aufwachten und erstmals ihre Mutter vermissen mussten. In Hebelbach wurde man wie eine mittelalterliche Hexe behandelt, wenn man die Familie im Stich ließ. Um die Härte ihres Entschlusses abzumildern, schrieb die verzweifelte Mutti ihren Kindern einen Brief:
»Liebe Annika, lieber Lars,
wenn ihr diesen Brief lest, bin ich nicht mehr zu Hause bei euch. Ich weiß, dass ihr sehr darunter leidet. Das tut mir sehr Leid. Ihr habt bestimmt bemerkt, wie verzweifelt ich unter Opas Pflege gelitten habe. Wie mich alles angekotzt und nur noch geekelt hat. Ich will und kann das nicht mehr und da Papa mich nicht unterstützt, bleibt mir nur übrig wegzugehen. Ich muss erst zu mir finden. Wenn ihr wollt, können wir gemeinsam Weihnachten feiern, aber nicht zu Hause, sondern an einem anderen Ort. Schreibt mir eine Nachricht, ich melde mich dann. Ich habe euch immer lieb. Auch wenn ihr meinen Weggang nicht verstehen werdet.
In Liebe
Mama.«
Den Brief las zuerst Annika. Er lag auf dem Küchentisch. Dort fand ihn die Zwölfjährige, als sie kurz nach dem Aufstehen etwas zu trinken suchte. Sie brach in Tränen aus und informierte ihren Bruder. Roland bemerkte das Fehlen Renates, nachdem er aufgewacht war:
»Verdammt, jetzt ist Renate doch tatsächlich abgehauen und lässt mich und die beiden und Vater im Stich.« Er versuchte, Renate auf deren Handy zu erreichen, sie blockte ab. Und fuhr an den Straßenrand, weil sie merkte, wie sie mit ihren Nerven am Ende war. Sie ließ ihre Tränen zu und stieg nicht aus dem Auto aus. Ein alleingelassenes Fahrzeug würde am ehesten die Aufmerksamkeit erregen. Man kannte sie auch im zehn Kilometer entfernten Sieblach, wo sie momentan stand. Renate atmete tief durch und öffnete das Fenster, damit frische Luft reinkommen konnte. Sie beruhigte sich allmählich und fühlte sich an den Moment erinnert, in dem sie entschied, ihr Leben ohne Roland und Franz weiter zu führen. Der Gedanke, den unerträglich gewordenen Schwiegervater und den unsolidarischen Ehemann los zu sein, erwärmte ihr Empfinden. Die Entscheidung war vor einem Tag richtig gewesen. Sie hatte Energie getankt und voller Kraft die Koffer gepackt. warum jetzt alles verflogen? Weil sie die Gegenwehr Rolands und der Kinder fürchtete? Die plante sie ein. Weil sie durch den Wegzug gegen die Dorfmoral verstieß? Die war ihr egal. Es war das Geständnis, schwach zu sein. Sie, die immer ihre Aufgaben akkurat und zufriedenstellend erledigte versagte plötzlich. Sie war am Ende der Kräfte. Dieses Eingeständnis war ehrlich und richtig. Und deswegen fasste sie erneut den Mut, zu ihrer Schwester zu fahren und sich von nichts und niemand beirren zu lassen. Denn, »ja« zu seinen Stärken und Schwächen zu sagen, bedeutet eine liebevolle Selbstannahme. Und die kann unter keinen Umständen falsch und verwerflich sein. Nachdem die Tränen weggewischt, die Nase geputzt war, ließ sie den Motor an und fuhr weiter nach Happbach, wo Marianne wohnte. Fünfzehn Kilometer von Hebelbach entfernt. Bei ihrer Schwester traf sie auf eine anfangs verständnisvolle Beschützerin. Sie baute sie zunächst auf und gab ihr Rückhalt. Vor Roland. Der hatte Respekt vor Marianne, die ihn schon das eine oder andere Mal in den Senkel gestellt und ihm gedroht hatte, ihn der Pflegekasse zu melden, weil er Geld einstrich und den Vater übel behandelte. Statt ins Krankenhaus zu verlegen, rief er den Rettungsdienst. Aus Angst vor den pharisäischen Geschwistern, denen er Erbsenzählerei unterstellte, was der Begriff »Pflege bis zum Tod« anbelangte. Mit Marianne war nicht gut Kirschen essen, das wusste Roland. Trotzdem fuhr er hin. Wegen Renate, der einstigen Liebe seines Lebens.
[6]
Roland wirkte verstört, als er von Mariannes Wohnung zum Auto lief. Beinahe hätte ihn ein anderes Fahrzeug umgefahren. Er schaute weder nach rechts noch nach links, als er die Straße überquerte. Zum ersten Mal in ihrer Ehe widersetzte sich Renate seinen Wünschen. Ab sofort fiel ihm die gesamte Verantwortung für Familie, Franz, Haus und Hof zu. Renate hatte hingeschmissen. Sie konnte nicht mehr gegen ihre Überzeugung handeln. Sie schaffte die Aufgaben nicht mehr. Einer Maschine gestand man zu, ab einem bestimmten Nutzungsgrad oder Alter schlapp machen zu dürfen. Roland erwartete unausgesprochen von Renate, immer und überall zu funktionieren. Dass Sie streikte, sah seine Rollenverteilung nicht vor.
Er hatte keinen Plan B. Zu Hause saßen überforderte Kinder, die einem sterbenden Opa hilflos gegenüberstehen.
Was soll ich jetzt machen? Die Deppen im Wald können alleine keinen Tannenbaum fällen, nicht mal eine Säge richtig halten. Ich muss in den Wald. Ich weiß, dass …. die Kinder mit dem Opa überfordert sind. Die blicken am ehesten, wie sie anpacken sollen, wenn Vater mal keine Luft mehr bekommt. Kinder reagieren instinktiv richtig. Sie ahnen, was dem Knacker fehlt, weil sie in einer ähnlichen hilflosen Lage sind. Man muss ihnen vertrauen, sie verfügen über viel Grips und Erfahrung. Die handeln schon korrekt.
Im Wald warteten beschränkt begabte Forstgehilfen auf seine Anweisungen. Und er fuhr mit Tränen in den Augen in Richtung Hebelbach. Nicht nach Hause. Den Kindern hatte er gesagt, wenn sie nicht mehr weiter wüssten, sollten sie sich melden. Das taten sie bereits, aber bei Renate. Die SMS leitete die umsorgte Mama an den verantwortlichen Vater nicht weiter. Daher unterstellte er, zu Hause wäre alles in bester Ordnung. Renate zwickten Gewissensbisse. Sie zweifelte an der Richtigkeit ihrer Flucht. »Meinst du, ich solle doch …«, fragte sie ihre Schwester. »Nichts da, du bleibst hier. Wir hatten …«
»Ich weiß, ja, wir hatten verabredet, dass ich Weihnachten bei dir bleibe. Die Kinder brauchen Hilfe.«
»Dafür haben sie Roland. Der muss ihnen helfen.«
»Das wird er nicht. Erstens weiß er nicht, wie dringend er benötigt wird und zweitens fuhrwerkt er im Wald rum. Er muss das Geld verdienen.«
»Renate, ihr werdet nicht verhungern, wenn Roland mal ein paar Tage daheim bleiben wird.«
»Du verstehst mich nicht. Wovon lebe ich? Ich bin total von Roland abhängig. Wenn er kein Geld hat, muss ich Stütze beantragen. Meinst du, das will ich?«
»Du kapierst nicht, dass es alleine um dich geht. Wenn du jetzt kneifst und wieder in die alte Hölle zurückkehrst, brauchst du bei mir nicht mehr aufkreuzen. Dann hast du mich verloren, und zwar für immer.«
»Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken.«
»Nein, nur du verlässt die eigene Entscheidung.«
Renate wurde allmählich ihre Zwickmühle bewusst, die an allen Ecken und Kanten gierig wehtat. Sie empfand, dass sie allseits im Stich gelassen wurde.
Dass ausgerechnet Marianne ihr die Pistole auf die Brust drückte, verletzte sie tief. Sie hatte ihrer Schwester, als sie sich von Holger getrennt hatte, emotionalen Halt gegeben. Und das kam nun als Dank … Sie brauchte nicht mehr erscheinen, wenn sie die Kinder unterstützte.
Das hat man davon, wenn man der Schwester geholfen hat. Ich bräuchte ihre Unterstützung, stattdessen nutzt sie meine Situation aus und erpresst mich. In Zukunft pfeife ich auf die. Sie kann mir gestohlen bleiben.
Sie fiel allmählich in das alte Muster der Verzweiflung zurück und verlor das Vertrauen in die Familie, vor allem in Marianne. Irgendwie hatte Renate den Verdacht, Marianne wollte sich bei Roland für Renate rächen. Dass die beiden nicht das beste Verhältnis pflegten, wusste man weit und breit. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Renate empfand das Verhalten Mariannes charakterlos. Eine familiäre Ausnahmesituation auszunutzen, um das Mütchen zu kühlen. Nein, das war keine feine Art. Sie bereute allmählich, bei ihrer Schwester Zuflucht gesucht zu haben. Sie hatte sich in ihr getäuscht. Das schmerzte. Die Erkenntnis machte sie wütend. Einfach den Zorn rausbrüllen? Mit der Faust auf den Tisch hauen und eine neue Bleibe suchen? Sie schluckte ihr halbes Leben alles Beängstigende, Niederdrückende runter in ihr Unterbewusstsein. Damit wähnte sie die Wut weggeblasen. Verdaut war sie nicht.
Die Enttäuschung befahl den Abzug. Aber wohin sollte sie jetzt fliehen? Jede andere verwandte Person würde nicht das geringste Verständnis für ihren Weggang aufbringen. Man vertrat die Auffassung, eine Ehefrau und Mutter gehörte in die häusliche Umgebung und hatte für die Familie da zu sein. Eigene Befindlichkeiten hatten zurückzustecken. Solche Menschen hatten keinen Franz gepflegt, der im Grunde seit langer Zeit mit dem Tod kämpfte, sie hatten keine Kinder, die in der Schule unterstützt werden mussten und keinen Roland, der außer dem Beruf nichts anderes machte. Sie waren unfähig, sich in Renates Situation hineinzuversetzen, kamen aber mit wuchtiger Moralkeule und schlugen auf die geplagte Frau ein. Daran verzweifelte Renate zusätzlich. Am liebsten würde sie im Erdboden versunken sein, nie geboren. Niemand hielt zu ihr, die Kinder vielleicht. Sie liebten beide Elternteile, wenngleich sie von Roland wenig mitbekamen. Die seltenen Augenblicke, die er mit Annika und Lars verbrachte, genossen sie intensiv. Er gab sich sehr liebevoll und beschenkte die Kinder mit Kleinigkeiten.
Renate trieb es an die frische Luft. Bei Marianne herrschte dicke Luft. Streit suchte sie keinen und wollte ihn nicht austragen. Sie befürchtete, ihre Schwester würde sie missverstehen. Renate saß zwischen mehreren Stühlen, keiner davon bot ihr ausreichenden Halt. In der Natur sehnte sie schönere Gedanken herbei, ihre Zerrissenheit zu verlieren und einen klaren Blick für die Zukunft zu gewinnen. Schließlich hatte sie erst vor zwei Tagen die endgültige Entscheidung getroffen, Roland zu verlassen. Eigentlich eher Franz und dessen Pflege. Sie staunte, dass sie nach so kurzer Dauer an ihrem definitiven Entschluss zweifelte. Sie musste eingestehen, an ihrem bisherigen Leben mehr zu hängen, als sie jemals gedacht hatte. Die Macht der Gewohnheit schlug eiskalt zu und zeigte Renate ihre hässliche Fratze. Ehrlich gesagt, betrachtete Renate ihr voriges Leben nur in der Person von Franz als unerträglich. Sie und Roland verband mehr als ein alter Franz und zwei Kinder. Das hatte sie erkannt und akzeptierte es notgedrungen. Es fiel ihr schwer, an der Wahrheit mogelte sie sich nicht vorbei.
Die Kinder saßen bereits in der Schule und hatten keine Gelegenheit, ihren Vater zu informieren. Die Schulleitung persönlich rief bei Kastels an, nachdem Mitschüler gepetzt hatten, Annika und Lars wären nicht krank, sondern würden den Opa bewachen. Aus Angst vor schulischen Strafen, nahmen die Kastel-Kinder den nächsten Bus und erschienen im Unterricht. Niemnand wusste davon, selbst Franz bekam den Weggang nicht mit. Während Renate im Happbacher Wald spazieren ging, erreichte sie ein Anruf der Schulsekretärin. Sie und Roland müssten am selben Nachmittag in der Schule erscheinen, ansonsten würden weitgehende Folgen für die Kinder und die Eheleute eintreten. Fernhalten von der Schule sei kein Kavaliersdelikt. Die Gemeinden reagierten mit Geldbußen im Bereich ab 200,-€ auf solche Missstände.
»Übrigens, ihre Kinder sind jetzt im Unterricht«, sagte die Sekretärin.
»Bitte, rufen Sie noch meinen Mann an, mir glaubt er sonst nicht«, bat Renate. Das Chaos war perfekt, dem Förster, Familienvater und Pfleger von Franz ging ganz heftig die Düse. Siedend heiß wurde ihm bewusst, zuhause passte keine Seele auf den geliebten Franz auf. Und ihm stand schlimmerer Ärger bevor, wenn er an den Verhältnissen nichts änderte. Die Weihnachtsfreude rückte in weite Ferne und verwandelte den selbstbewussten Roland in ein kleines, zitterndes Männchen. Das »Fürchte dich nicht« der Weihnachtsbotschaft fühlte sich in dem Augenblick wie blanker Zynismus an. Und er wusste: Nur ein Wunder würde ihm helfen.
Es kochte in ihm. Seine Mitarbeiter, die er hasste wie die Pest, erhielten nur noch gebrüllte Anweisungen. Er stand unter Strom, zitterte am ganzen Körper. Schweiß perlte über die Stirn, kalte, eklige Flüssigkeit. Alles, was er tat, konnte nur falsch sein. Gegen 13 Uhr sagte er trocken: »Leute, das war es heute für mich. Habe einen Termin und muss weg.« Wohin er fuhr, wartete auch nur der blanke Vorwurf, als Vater versagt zu haben. Würde er die Besprechung in der Schule schwänzen, müsste er mit unangenehmer Weihnachtspost rechnen. Aber immerhin hätten die Kinder ihre verdiente Ruhe. Deswegen steuerte er den Parkplatz der Schule an. Dort wartete Renate. Als Roland mit dem Geländewagen neben ihrem Fiat Punto hielt, zuckte sie kurz zusammen. Sie rechnete mit den schwersten Vorwürfen. Aus seiner Sicht berechtigte, da Renate Knall auf Fall das sinkende Schiff verlassen hatte. Einen sowieso überforderten Roland mit noch größeren Schwierigkeiten alleine gelassen zu haben. Dass er ihr diese »Sünde« vorwarf, war ihr sonnenklar. Es kam aber anders:
»Hallo, Renate, lass uns reingehen.« Sachlicher konnte man einen Menschen kaum begrüßen. Sie war beinahe enttäuscht, keine schwere Anschuldigung zu hören.
Ludwig Wagner, der Schulleiter der Realschule Happbach, begrüßte Renate und Roland mit ernster Miene:
»Guten Tag, Ehepaar Kastel. Ein ernster Grund führt uns zusammen.«
»Eine Ausnahmesituation. Ja, muss man kurz vor Weihnachten so einen Terz veranstalten, weil unsere Kids nicht in der Schule sind. Die schauen vor den Ferien doch nur Videos.«
»Moment mal, Herr Kastel. In Deutschland haben Kinder eine Schulpflicht, von der es nur begrenzte Ausnahmen gibt.«
»Wir brauchen Annika und Lars händeringend zu Hause. Hier gammeln sie nur rum.«
»Sie meinen, Ihre Kinder müssen dem todkranken Opa beim Sterben zuschauen.«
»Renate, jetzt sag doch auch mal was«, forderte Roland seine Frau auf, ihn zu unterstützen. Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge und räusperte sich mehrfach, bis sie leise meinte:
»Mein Mann hat Recht. Annika und Lars müssen zu Hause helfen.«
»Es stimmt also, Sie betreuen einen sterbenden Opa?«, hakte Wagner nach. Betretenes Schweigen, das Zustimmung signalisierte.
»Sie wissen, dass eine derartige Situation für zwei noch so junge Kinder die pure Überforderung bedeutet«, legte Wagner nach.
»Nein, sie können uns jederzeit anrufen. Wir verlangen nur, wozu sie fähig sind.« Rolands Einwand nahm nicht mal Renate mehr ernst. Er begriff, dass die Familie kaum zu retten, die Wahrheit duldete keinerlei Schweigen.
»Ihre beiden Kinder erscheinen morgen pünktlich zur Schule. Wenn nicht, schalte ich die Behörden ein.« Damit ließ Wagner keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Vorhabens.
»Ich hoffe auf Ihre Einsicht und wünsche frohe Weihnachten«, bat er das Ehepaar Kastel zu gehen. Bis zum Fest lag viel Zeit dazwischen. Die Eheleute Kastel verließen gemeinsam die Schule, Renate verabschiedete sich mit: »Mach`s gut« und stieg in ihren Fiat. Mit offenem Mund stand Roland auf dem Parkplatz und stierte Renate nach. Er meinte insgeheim, er könnte Renate zur Rückkehr überreden. Dabei übersah er, dass seine Frau ein anderes Zuhause suchte. Er raffte immer noch nicht, dass sie ein neues Leben gewählt und sich von ihm getrennt hatte. Er lebte geistig in jenen Strukturen, die zur chaotischen Situation führten, von der Renate gerade den Abschied genommen hatte.
Die beiden Kinder fuhren mit dem Bus zurück. Franz erreichte das Haus und staunte, wer bei Franz am Bett saß: Pfarrer Hofmann.
»Hallo, Herr Pfarrer, schön, dass Sie meinen Vater besuchen«, begrüßte er den Geistlichen höflich.
»Ihr Vater schrieb mir eine SMS, er würde gerne beichten«, rechtfertigte Hofmann sein Kommen.
»Mein Vater schreibt SMS?«, wunderte sich Roland.
»Ja, ich habe ihm erklärt, wie man mit einem Smartphone eine SMS schreibt. Obwohl es ihm sehr schlecht geht, schaffte er ein paar Buchstaben. Ich wusste, was Sache war und fuhr los.« Roland schüttelte mit einem Grinsen im Gesicht den Kopf. Er war heilfroh, denn, wenn seinem Vater etwas zugestoßen wäre, hätte er sich das niemals verzeihen können. Der Pfarrer nahm eine besondere Rolle ein. Er überbrückte die Zeit, in der kein Familienmitglied auf Franz aufpasste. Und das vor Weihnachten? Pfarrer Hofmann hatte bestimmt andere Dinge zu erledigen, als der Babysitter von Franz zu sein. Roland packte der Mut der Verzweiflung und stotterte folgende Frage:
»Hochwürden«, wurde er altbacken höflich, »würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie morgen nochmal zur gleichen Zeit den Vater besuchen könnten?« Pfarrer Hofmann wirkte irritiert. »Herr Kastel, Ihr Vater hat schon gebeichtet«, gab er zur Antwort. Worauf Roland spitzfindig wurde: »Sie sind Seelsorger, und als solcher sollten Sie unheilbaren Menschen helfen, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, schaute Hofmann betreten aus der Wäsche, »natürlich kümmere ich mich um verzweifelte Seelen, aber was hat das mit Ihnen zu tun?«
»Herr Pfarrer, nie war ich so verzweifelt wie jetzt. Gestern trennte sich meine Frau von mir, ich wollte die Kinder daheim behalten, worauf mir die Schule mit Geldbußen drohte. Und eigentlich müsste ich arbeiten, mein Vater braucht mich aber hier. Sagen Sie, was ich tun soll.« Der Geistliche errötete. Hier war Holland in Not oder Hebelbach. Da meinte er, die Kastels wären eine intakte Familie mit anständigen Kindern und gelebten christlichen Werten und dann diese große seelische Armut. »Herr Kastel, eine Stunde werde ich morgen erübrigen und auf Ihren Vater aufpassen. Vor dem Fest geht mehr leider nicht.« Roland strahlte. In der Zeit, die der Pfarrer Opa besuchte, organisierte er die Arbeit im Wald – letztmalig im Jahr- und die Kinder konnten unbeschwert in die Schule.
[30]
Roland war dem Wahnsinn nahe. Wie schaffte es Franz, der todkrank im Bett gelegen hatte, unbemerkt das Haus zu verlassen? Er hinterließ weder einen Brief noch ein symbolisches Zeichen, aus dem man schließen konnte, wo er hingegangen war.
Bevor die Behörden ihre Finger betätigen sollten, zog Roland den Kontakt zu den anderen Kastels vor. In erster Linie meinte er die Geschwister. Ihm am nächsten, wenn man überhaupt von Nähe sprechen durfte, stand Dieter. Ein sachlicher Typ, der pragmatisch dachte und handelte, von seinem Hang zu exotischen Ausflügen abgesehen.
»Hi, Bruderherz, Roland hier, hast du eine Ahnung, wo Franz abgeblieben sein könnte?«, platzte er mit der Tür ins Haus.
»Äh, was, äh, Franz? Der sollte bei dir sein?«, stotterte Dieter.
»Hier existiert eine Differenz zwischen Realität und Soll-Zustand, falls du es so besser nachvollziehst.«
»Und wie kam es zu der besagten Differenz, um in deiner Terminologie zu bleiben?«
»Wüsste ich es, hätte ich dich gerne mit meiner Frage verschont. Angenehmen Tag noch«, legte den Hörer auf und schnaubte vor Wut auf den weltfremden Dieter. Er hatte erstmal genug brüderliche Nähe verspürt, ihn interessierte der Zustand Annikas mehr.
»Ja, Roland Kastel, ich wollte wissen, wie es meiner Tochter Annika geht?«, fragte er telefonisch die Stationsschwester Frau Rudolph.
»Ihre Blutwerte lassen eine OP nicht zu. Die müssen erst besser werden.«
»Wie Blutwerte lassen nicht zu?«
»Da fragen Sie bitte den zuständigen Arzt, Dr. Markus Oberle. Ich darf Ihnen keine Auskünfte zu medizinischen Befunden erteilen.« Ehrlich gesagt, die Problematik zwängte sich geschickt in die ausweglose Suche nach Franz. Er hatte einen Grund gefunden, die Suche nach dem Verschollenen zu unterbrechen. Mit einem besorgten Blick, wie es Annika wirklich ging, fuhr er ins Krankenhaus zu Dr. Oberle.
»Herr Kastel, nehme ich an?«
»Ja.«
»Kommen Sie bitte mit in mein Zimmer.« In der diskreten Abgeschiedenheit diskutierte es sich angenehmer.
»Die Anzahl der roten Blutkörperchen ist zu niedrig. Wir operieren den Blinddarm raus, wenn wir sicher sein könnten, dass die OP komplikationsfrei verlaufen wird.«
»Woher kommt die Anämie?«, glänzte Roland mit medizinischem Wissen.
»Ihre Frau erzählte von der ersten Regelblutung Ihrer Tochter. Mit zwölf Jahren absolut normal. Der Hormonhaushalt geriet durcheinander, die Blutung verlief zu stark, daher die wenigen roten Blutkörperchen. Auch eine primitive Blinddarmresektion greift die Reserven an.«
»Verstehe. Und wann wird der entzündete Blinddarm rausgenommen?«
»Sollte die Anämie verschwunden sein, greifen wir umgehend zum Skalpell, versprochen.«
Na, das kann heiter werden, dachte Roland und besuchte seine Tochter, die ein Buch las, als er zur Tür reinschaute.
»Hallo, Schatz, du wirst bestimmt bald operiert. Und wenige Tage später darfst du nach Hause«, munterte er sie auf.
»Mir ist langweilig, Papa. Was gibt es Neues?«
»Nichts, was dich augenblicklich kümmern müsste. Soll ich deine Schulaufgaben ordern?«, lenkte er geschickt vom Thema ab.
»Lass mich mit dem Schulkram in Ruhe. Der kann warten.«
»Das sehe ich anders. Du versäumst zu viel Stoff und musst alles nachholen. Hier ist dir langweilig. Lern ein bisschen, bitte«, versuchte er, Annika zu überzeugen.
»Nicht mal in der Klinik habe ich Ruhe vor dem Schulscheiß«, fluchte sie. »Was brauche ich den Schwachsinn?«, hakte sie nach.
»Du willst einen anständigen Beruf erlernen. Dafür benötigst du gute Noten und viel Wissen.«
»Für einen Bürojob reicht ne durchschnittliche mittlere Reife, die schaffe ich noch, wenn ich fünf Wochen fehle.« Dieses Statement entnervte Roland, er ließ sich nichts anmerken und mimte den Coolen. »Gut, wenn du willst, verschone ich dich. Mecker aber bloß nicht rum, falls du danach stundenlang büffelst.«
Annika wurde verunsichert. Roland gab nach? Das überraschte sie, oder hatte er einen Grund, den er verbarg?
»Ich muss wieder gehen. Solltest du dir es anders überlegt haben und doch die Schulaufgaben wünschen, lass es mich wissen«, sagte er süffisant und gab ihr einen Kuss auf die linke Wange. Er wusste um das schlechte Gewissen Annikas und rechnete fest mit einem Anruf in spätestens einer Stunde. Noch ließ sie ihn schmoren …
Zu Hause setzte er nach einer Tasse Kaffee die Anrufsession fort. Nach Dieter kam Tabea an die Reihe. Mit ihr verband ihn lediglich der gemeinsame Stall, sprich dieselben Eltern. Emotionslos wählte er die Nummer und sprach: »Hier Roland, dein Bruder. Vater ist auf unerklärliche Weise verschwunden. Ist er bei dir?« Minutenlanges Rauschen quälte den Anrufer, der schon auflegen wollte, als eine Stimme ertönte: »Du hast dir das Haus unter den Nagel gerissen. Deine Aufgabe war, Vater bis zum Tod zu pflegen. Dann musst du auch alleine klarkommen, wenn er verschwunden ist«, brüllte sie ins Telefon und beendete das Gespräch.
Roland pustete erstmal durch und legte sich aufs Sofa. Mit einer derart unverschämten Reaktion rechnete er nicht. Dass sie ihre Hilfsbereitschaft hinter einem unsichtbaren Charme versteckte, wusste er. Er schätzte sie als berechnende Person ein, aber nicht als kaltblütig. Kaum lag Roland, klingelte das Telefon:
»Papa, du kannst mir doch die Schulaufgaben bringen. Vielleicht ist es besser, ich erledige sie hier«, säuselte Annika. Roland grinste und sagte: »Schatz, es wird dauern, heute Abend bringe ich dir den ersten Teil vorbei.«
Danach rief er Günter an. Ein Krankenkassenmensch, der zwar mit Zahlen jonglierte, ab und zu jedoch auch Herz zeigte. Ob für das Anliegen Rolands, das müsste sich herausstellen. Günter hatte die väterliche Erbentscheidung hingenommen. Mit Franz verband ihn ein schwieriges Verhältnis.
»Der Alte raucht sich und uns um Kopf und Kragen« äußerte er eines Tages im Teenageralter, worauf er von Franz eine gescheuert bekam.
»Franz ist abgehauen.« Günter lachte laut los, als er die Vorstellung bekam, wie der Schwerkranke die Sachen packte und die Mücke machte. »Bruderherz, ganz ehrlich: Mich kümmert der alte Sack nicht mehr. Er liegt in deiner Verantwortung. Mir ist er zwar nicht egal, aber er wird Gründe gehabt haben für die Flucht. Und jetzt bitte, ich habe zu tun.« Herzliche Anteilnahme fühlte sich irgendwie anders an.
Roland hatte die Schnauze voll. So was von voll, wie er noch nie enttäuscht gewesen war. Die Geschwister ließen ihn in maximaler Kälte die Entfremdung spüren, die wie eine Mauer zwischen ihnen stand. Die Mauer bestand aus Titan, Beton käme wie Butter vor. Es leuchtete ihm ein, wie sinnlos die Fortsetzung der Anrufe bei den anderen Brüdern und der Schwester wäre. Noch eine Watsche brauchte er keine, nein, längst drängte es ihm ins Bewusstsein, dass er der Outlaw in der Sippe Kastel war. Der Nestbeschmutzer mit den gierigen Fingerchen, der auf unberechtigtem Weg das Haus unter den Nagel gerissen hatte.
Er verdrängte jeden weiteren Gedanken an die hasserfüllten Familienmitglieder. Sinnlos, unnötig und absolute Zeitverschwendung. Da kümmerte er sich lieber um den schulischen Werdegang Annikas, die gelangweilt im Krankenhausbett lag und in die an der Fensterwand hängende Glotze stierte.
Er kramte aus Annikas Sachen die Telefonliste ihrer Klasse vor. Überflog die Namen und suchte bekannte Leute aus dem Dorf. Bevorzugt solche, die Annika mochten. Innerhalb einer halben Stunde brachte Laura Woite, ein Kind mit osteuropäischem Migrationshintergrund, einen sortierten Stapel Unterlagen vorbei und sagte: »Gute Besserung für Annika.« Roland gab dem Mädchen eine Tafel Schokolade und bedankte sich. Er packte die papiernen Stapel und fuhr damit ins Krankenhaus. Bevor er aus der Tür rauskam, klingelte das Telefon: »Hier Reinhold, stimmt es, dass Vater verschwunden ist?«. Oha, dachte Roland, der Familienfunk funktionierte. »Ja, er ist weg. Tut mir leid, ich muss weg. Verspreche dir, dass ich mich um die Suche kümmern werde.«
In der Klinik döste Annika gerade, Roland schleppte unter dem Arm den Papierstapel mit und knallte ihn auf den Beitisch neben dem Bett.
»Laura Woite wünscht dir gute Besserung.«
»Oh Danke. Hat sie die Sachen vorbeigebracht?«
»Ja. Du siehst, eine ganze Menge an Papier. Ab sofort musst du nicht mehr die Glotze anstellen, sollte es dir langweilig sein.«
»Sehr witzig. Wenn ich Zeit habe, lache ich.«
Durch den Stapel fühlte sich Annika unter Druck gesetzt. Sie lag in der Klinik, um gesund zu werden. Hausaufgaben verursachten Bauchschmerzen, also das Gegenteil von Gesundheit. Die Argumentation überzeugte den sturen Papa nicht. Er legte ihr ans Herz, bald mit den Aufgaben zu beginnen. Ehe er sich versah, stand plötzlich wie reingebeamt Renate im Zimmer:
»Aha, der Herr Papa spürt ein schlechtes Gewissen und besucht das Töchterchen.«
»Was soll die doofe Anmache? Kümmere ich mich um die Kids, spottest du, kann ich mich nicht sorgen, höre ich Vorwürfe. Schreib mir, für den Fall, dass du dir im Klaren bist, was du von mir haben möchtest.« Er drückte ihr mit einem zornigen Blick die Worte ins Gesicht, nahm die Jacke und wollte das Zimmer verlassen. Renate stoppte ihn: »Roland, warte bitte unten am Eingang. Ich möchte etwas besprechen.« Er wüsste nicht was, zeigte aber Entgegenkommen und wartete auf sie.
»Stimmt es, was mir zugetragen wurde?«, lockte sie Roland.
»Mach es noch spannender. Was wurde dir geflüstert?«
»Dass Franz verschwunden ist …« Roland zuckte erschrocken. Das Gesicht wurde erst bleich, dann puterrot. Er verkniff die Wut zwischen den Zähnen, kniff die Augen zusammen und antwortete: »Wenn du es schon weißt, warum fragst du mich?«
»Bitte? Du bist so kalt. Dich fuchst, dass ich von der Nachbarin die Info gesteckt bekommen habe?«
»Mich macht traurig, dass Vater verschwunden ist und ich nicht weiß, wo ich suchen soll.«
»Sag mal, bist du so bescheuert? Es konnte uns nichts Besseres passieren und du jammerst die ganze Zeit.«
»Was redest du für einen Unsinn?«
»Roland, das ist unsere Chance, als Familie zusammenzuwachsen. Die Kids und ich kehren zurück, wir starten erneut. Mach dir um Alten keine Gedanken. Der hat die Nase voll gehabt und seinen Auszug heimlich organisiert.«
Schweigen. Kaltes Schweigen, das den Atem stocken ließ. Roland wirkte durcheinander. Er stand vor der Entscheidung zu explodieren oder Renate Recht zu geben. Das Dilemma blockierte ihn. Er setzte wiederholt zur Antwort an, klappte die Kiefer auf und zu und schaffte es nicht, irgendein Wort an die Luft zu pressen. Natürlich eröffnete die Abwesenheit des alten Vaters eine neue Chance für einen echten Neuanfang. Er hatte die Verantwortung für Franz übernommen, aber auch für die Familie. Wem wurde er gerecht? Er blickte traurig in Renates Augen, hielt noch einmal inne und flüsterte: »Wenn du meinst, könnt ihr einziehen, sobald die Kleine aus der Klinik draußen ist.« Drehte grußlos ab und verschwand.
Im Auto wurde ihm schwindelig. Das Gedankenkarussell raste in Lichtgeschwindigkeit. Er wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er klemmte zwischen Franz und dessen bescheuertem Erbvertrag und Renate mit ihrem egoistischen Wahn. Einen auf Familie machen und übersehen, dass für Roland der Vater eben zur Familie gehörte. Man radierte einen alten Mann nicht mal so von der Bildfläche wie einen Schmutzflecken. Die Hartherzigkeit, die Gnadenlosigkeit Renates machte ihm zu schaffen und nagte am löchrigen Seelenkostüm. Er war mit den Nerven fertig und haderte mit Gott und der Welt. An Autofahren war nicht zu denken. Und dann erinnerte das Smartphone an die berufliche Pflicht: »Lass mich in Ruhe, du Penner«, blaffte er einen Gehilfen an, der eine fachliche Frage geklärt haben wollte. Er öffnete einen Spalt weit das Autofenster, blickte kurz raus. Ihn freute der Nieselregen, der kam ihm gelegen. Er blieb ungesehen und niemand nahm die Tränen wahr, die sich Bahn brachen und Gesicht und Kleidung benetzten. Er weinte, wie er es als Kind getan hatte, wenn Franz ihm eine klebte oder er in der Schule eine schlechte Note kassiert hatte.
Er fand nach einer halben Stunde die Fassung wieder, er wollte gerade den Motor starten, als er auf dem Smartphone »Renate ruft an« las.
»Was ist los?«, blökte er.
»Morgen wird Annika endlich operiert. Die Blutwerte sind okay.«
»Danke für die Info. Grüße an Annika.« Die kurze, schmallippige Antwort unterstrich die angegriffene Gefühlslage Rolands. Er wollte keine langatmigen Dialoge, die so lange geführt werden mussten, bis Renate ihren Willen bekam.
Er unternahm einen zweiten Versuch, den Motor zu starten und endlich zur Polizei zu fahren. Diesmal glückte er, Roland ließ die Reifen quietschen und brauste vom Parkplatz des Krankenhauses. »Nichts wie weg«, brummte er, denn die Klinik nahm er als Unglücksort wahr. Unglück hatte er genug erlebt.
[31]
Roland
Was soll ich bloß tun? Was ich unternehme, es wird zur Katastrophe. Ich habe mich verpflichtet, für Franz aufzukommen, ihn bis zum Tod zu pflegen. Aber die Kids und Renate haben Hunger. Wer arbeitet und schafft die Kohle heran? Alles hat prima funktioniert. Erst haut Renate ab und setzt mir die Pistole auf die Brust, jetzt noch der Alte. Ich werde wahnsinnig. Selbstverständlich besteht die Option, dass Annika, Lars und wir beide endlich eine harmonische Familie werden. Franz hat es und leicht gemacht. Doch da ist noch was anderes. Ich kann nicht glücklich werden, so lange Franz verschwunden ist und ich nicht weiß, wo er gerade lebt. Er ist ein schwieriger Mensch, zweifellos. Trotzdem verdanke ich ihm eine ganze Menge. Als ich jung war, machte er mir Mut und ermöglichte mir das Abitur. Er traute mir das Studium zu und unterstützte mich. Auf diese Weise zeigte er mir seine Liebe. Er stammte aus menschlich katastrophalen Verhältnissen, lernte nie, die Gefühle in Worte zu fassen. Er rauchte wie ein Schlot, wir fühlten eine ernsthafte Bedrohung. Schlimm, wie er die Krankheit Dieters abgetan hatte, aber die sind quitt. Wir haben nie verstanden, warum Franz die Zigaretten liebte. Sie ersetzten ihm die Nähe, die seine Eltern ihm verwehrten. Er hatte Halt und Seelenhunger, den das Nikotin stillte. Er brauchte die Stängel, ohne sie hätte er nie überlebt. Chapeau, wie er die Therapie durchgezogen hatte. Im Nachhinein betrachtet, der perfekte Liebesbeweis an uns, Mutter und die sieben Kinder. Ja, ich weiß, Kummerlander drohte mit Kündigung. Trotz dessen, eine riesen Leistung. Wer verliert schon gerne die Antriebsfeder seines Daseins? Er hätte sagen können: »Rutscht mir den Buckel runter, ich pfeife auf den Job und bin lieber arbeitslos.« Nein, er übernahm Verantwortung für uns und hatte und nie hängen lassen. Das vergessen diejenigen, die den Stab über ihn brechen und gram sind. Und genau dieselbe Verantwortung kommt mir zu. Ich bin für ihn da. Aber auch für Renate, Annika und Lars. Mich zerreißt der Hass, den Renate schürt. Natürlich hatte Franz sie übel behandelt, in wenigen Wochen kann er Geschichte sein. Warum kann sie nicht warten?
[32]
Renate
Was Besseres konnte nicht passieren. Ich habe innerlich gejubelt, als mir die blöde Walter von dem vermissten Franz erzählt hatte. Wir könnten als eine Familie zusammenwachsen. Ohne den Störenfried, der mir permanent zwischen die Beine greifen wollte, der geile Bock. Und Roland? Spielt den besorgten Sohn, kapiert die Chance des Lebens nicht. Dem Franz wird kein Haar gekrümmt sein, der ist zäh wie Ochsenleder. Alle freuen sich, nur Roland zieht eine Schnute und drückt die Tränchen weg. Wir behalten das Haus. Zieht der alte Kerl aus eigenen Stücken weg, ist das seine freie Entscheidung. Wir übernehmen dafür keine Schuld.
Ein franzleeres Haus – wie Weihnachten und Ostern an einem Tag, ein Geschenk des Himmels. Was hängt Roland am engstirnigen und sturen Bock, der ihn mit dem Erbvertrag eigentlich reingelegt hatte. Ich verstehe es nicht, sind wir ihm nicht wichtig? Bedeutet ihm Franz mehr als wir? Wenigstens den Kids könnte er ein liebevoller Vater sein wollen. Anscheinend will er lieber ein guter Sohn sein und den alten Greis eigenhändig in die Grube legen. Wir werden auf alle Fälle zurückziehen, Franz wird das Haus nicht mehr betreten, darum werde ich mich kümmern. Sind wir eingezogen, spürt Roland auch, wie wichtig wir ihm sind. Er kann unmöglich lange alleine leben, er hält es kaum aus, mal zwei Tage ohne die Kids zu sein. Wir lassen ihn spüren, wie wichtig er auch uns ist. Dann vergisst er Franz und denkt nicht jede Sekunde an ihn.
Die Kinder lechzen nach ihren eigenen vier Wänden, meine Wohnung wird auf Dauer zu eng. Wir benötigen einen strukturierten Alltag, ich kann mir in aller Ruhe ein Business aufbauen, vielleicht im Wellnessbereich.
Und Franz? Der wird bald die Radieschen von unten betrachten. Wir werden den Tod rechtzeitig erfahren. Es wäre zwar interessant zu wissen, wo der Knochen abgeblieben ist, doch dann wächst die Gefahr seiner Rückkehr. Und die wäre das Letzte, Allerletzte, was wir in dieser Stunde gebrauchen könnten. Annika soll wieder gesund werden, anschließend startet ein neues, schöneres Leben in Freiheit.
[33]
Roland verzweifelte. An Renate, die ihn in eine ausweglose Lage manövrierte und ihn emotional erpresste. An Franz, der jahrelang im Sterben lag, aber noch lebte und an der Unfähigkeit, eine Entscheidung zu treffen. Er liebte Renate und meinte, sie ihn ebenso. Er tat alles für Annika und Lars, sie vergötterten ihren Vater, sie sehnten ein harmonisches Familienleben unter einem Dach herbei wie der Wüstentourist etwas zu trinken und eine Hütte, wo er schlief.
Dabei traf ihn die ganze Verantwortung: Er gab sich geschlagen, als Franz die Kinder an einen Tisch und zur Klärung der Frage, wie es mit ihm weiterging, gebeten hatte. Roland lehnte als einziger die Betreuung des gemeinsamen Vaters nicht von vorneherein und apodiktisch ab, dafür entlohnte ihn Franz mit dem Haus. Was Roland jetzt kränkte, stand schwarz auf weiß im Vertrag: Er musste die Geschwister ausbezahlen, sollte die Pflege vor dem Tod von Franz beendet sein – und genau das verlangte Renate, um ihre Bereitschaft zur gemeinsamen Zukunft zu erklären. Dass Franz verschwunden ist, verschärfte Rolands Lage, dachte er. Die anderen sahen Roland als Lieblingskind von Franz, er wurde in ihren Augen ständig bevorzugt. Anspruch auf ein Erbe besaß jeder der Nachkommen Franzens. Daher brüskierte der alte Mann die anderen Kinder, indem er ihnen signalisierte, dass sie enterbt wurden. Der Haken lag im Détail und bedeutete das Gegenteil einer Enterbung: Franz verzichtete auf die Pflegeleistungen, zu denen alle Nachkommen eines Pflegebedürftigen verpflichtet wären und sicherte ihnen das Erbe für den Fall zu, dass Roland vorzeitig schlapp machte. Eine weise Entscheidung, auf die der angeblich begünstigte Roland sauer reagierte – nach zehn Jahren. Hätte er die Aufnahme des Vater abgelehnt, müsste Franz schon seit mindestens zwei Jahren im Heim leben. Alle Nachkommen hätten die Pflicht, für die Kosten aufzukommen, was sie bei der aktuellen Situation nicht taten. Roland weinte – er betrachtete den Erbvertrag als himmelschreiende Ungerechtigkeit und fühlte sich reingelegt. Doch damit durfte er bei den Geschwistern nicht ankommen. Denn er konnte lesen und wusste, worauf er sich eingelassen hatte. Gier macht blind, oder war es die Liebe, die bekanntlich die gleichen Folgen
Die Hebelbacher Polizei nahm die Vermisstenanzeige korrekt auf. Doch jeder im Dorf wusste von der Erkrankung des alten Kastels und damit der Unmöglichkeit, selbstständig das Haus zu verlassen.
Franz dachte realistisch genug und schätzte die Situation korrekt ein: Selbst für den Fall, dass er in ein Heim wechselte, seine Lebenserwartung verlief in engen Bahnen. Das war ihm durchaus bewusst. Ein angedachter Wechsel des Lebensmittelpunktes sollte die Lebensqualität verbessern oder gleichhalten. Eine Verschlechterung in Anbetracht des seelischen Bildes des Hauses Kastel konnte er ausschließen. Wenn also Roland ihn um eine Verlegung in ein Heim anbettelte, sähe er sich in der Lage, ehrlich und aus freien Stücken zuzustimmen. Das wäre er Roland schuldig, dachte er. Denn schließlich erkannte er in einer tiefergehenden Selbtsreflektion die eigenen Schwächen, unter denen die Mitmenschen litten. Die aktuellen Lebensbedingungen fraßen die Lebenskräfte des Seniors. Nur Roland stand zu ihm, Renate nahm Reißaus und forderte vehement den Wegzug. Widerlich, sich als Streitgegenstand betrachten zu müssen, das hatte er niemals verdient. Sein egoistischer, gesundheitsschädlicher Rauchwahn trieb die Familie in den Wahnsinn. Er rechtfertigte aber umgekehrt unter keinen Umständen, sich wie ein Stück Dreck wegkicken zu lassen. Das verbot die Selbstachtung und deshalb entwickelte er mit einer angenehmen Langsamkeit eine innere Vorfreude, die er bedeckt hielt. Die jungen Kastels sollten ein schlechtes Gewissen spüren, wenn sie ihn aus dem eigenen Heim warfen. Noch gehörte ihm das Haus, das erst bei Erfüllung der Vertragsbedingungen auf Roland übergehen würde.
In Roland nahm das Gedankenkarussell Fahrt auf. Er hatte als relativ junger Mensch eine Entscheidung im Interesse des Vaters treffen wollen und verzockte sich offenbar. Denn die Kautele im Vertrag schnürte ihm die Luft zum Atmen ab, verstärkt durch die unbeugsamen Bedingungen Renates. An die beiden Kinder verschwendete niemand einen winzigkleinen Gedanken. Hier hangelten zwei Menschen aneinander hoch, die den jeweils anderen für die Entbehrungen innerhalb der Ehe verantwortlich machten und zur Rechenschaft zogen. Die Interessen von Annika und Lars zerschmolzen im glühend heißen Kampf von Roland mit Renate. Womit er kalkulierte, war die vermutlich stark blühende Unwissenheit der sechs Geschwister, sollte er sich für einen Umzug Franzens entscheiden. Denn allesamt pflegten sie einen frequenzarmen Kontakt zu dem alten Papa. Sie wirkten nicht unbedingt glücklich über die Erbvertragsentscheidung des greisen Herrn. Doch alle fühlten ein wenig Schadenfreude, dass Roland den tonnenschweren Kelch an der Backe hatte und offensichtlich von der Masse zusammengequetscht worden ist. Die starke Persönlichkeit, die einen Weltkrieg und einen lebenslangen Kampf gegen die eigene Sucht ausgefochten hatte, duldete niemals einen anderen, gleichstarken Menschen neben sich. Eine Lebensgemeinschaft, in der Franz integriert wurde, akzeptierte seine Hegemonie. Rücksichtnahme war bis zur Therapie bei Dr. Marx-Koffler für ihn kein Thema. Umgekehrt forderte er offen oder stillschweigend von den anderen, dass sie ihn mit der Zigarette im Mund akzeptierten wie die Liebfrauenkirche in München. Er beanspruchte einen Status der Unangefochtenheit. Als Oberhaupt des Clans, der die Ansprüche der Familie erfüllte, durfte er im Gegenzug die Akzeptanz der Leidenschaften verlangen. Rauchen und Franz, eine eingeschworene Einheit, die niemand viele Jahrzehnte auseinanderbrachte. Im reifen Alter verstand er, den Jüngsten in den berufsentscheidenden Lebensphasen zu unterstützen. Das machte Roland äußerst glücklich. Aber dass dieses Gefühl ewig lange andauern würde, wusste kein Schwein vor zehn Jahren. Aktuell spürte Roland, wie ausgezehrt das Glück ihm mangelte. Denn die alternative Glücksquelle, die eigene Familie, drohte an Eigenvergiftung einzutrocknen. Woraus speiste er dann die Lebensenergie? Die schlichte Frage überstrahlte lichterloh den Gedankenfokus, er zweifelte an den persönlichen Gedanken. Er wünschte ein guter Sohn, Vater und Ehemann zu sein. Mindestens eine Rolle musste er zugunsten des Glückes der anderen aufgeben. War das die Situation, die er herbeisehnte wie der Bettler das Geld der Fußgänger, die an ihm vorbeiliefen? Er tippelte auf den Zehenspitzen, die Unruhe biss sich Millimeter für Millimeter in die rissige Hautoberfläche und verursachte erst leichte, dann starke bis hin zu unerträglichen Schmerzen, denen er ausweichen würde, wenn ihm jemand zeigte wie. Ein betäubendes Mittel würde er kiloweise in sich hineinschütten, gäbe es die Pillen auf dem Markt. Fast schon belustigend empfand er die Vorstellung, wie er in eine Apotheke ginge und fragte: »Haben Sie ein Anti-Dilemmakum?« Und er lachte laut, als er vor dem geistigen Auge die entgleisten Gesichtszüge der Angestellten betrachtete, die ihn anstarrte und mit dem Anliegen so rein nichts anfangen konnte. Doch schnell holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Die Zeit rann davon, die Familie nörgelte wegen der Entscheidungsträgheit Rolands. Ein zusätzlicher Stressfaktor, der aus einer ungerechtfertigten Unterstellung resultierte. Oder würde jemand mit ihm tauschen? Und die nervige Ungewissheit, wo Franz war. Er hatte alles unternommen, damit Franz rasch gefunden werden konnte. Erfolglos. Die Ungewissheit nagte an ihm, er wurde fast wahnsinnig. Es musste etwas geschehen, egal was.
Ein Tapetenwechsel verschaffte eine Perspektivänderung. Daher traf er den Entschluss, den Abend in einer Stadt verbringen zu wollen. Kneipenbummel, Ablenkung von dem besch … Alltag, Renate, den Kindern und Franz. Sie ließ er zumindest physisch dort, wo sie gerade waren. Lörrach kannte er zu gut, dort bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, bekannte Leute zu treffen. Er wollte unbedingt alleine sein, am Beginn des Abenteuers. Ob er jemanden Sympathisches kennenlernte, ahnte er nicht, sollte auch keine entscheidende Rolle spielen. Freiburg lag in erreichbarer Nähe, weit weg, um in dem Dunst des nicht gekannt Werdens unterzutauchen. Studenten erzeugten nachts ein heiteres Leben und verbreiteten meistens eine kritische Lebensfreude, von der er Esprit und Energie tanken wollte. Solche Leute betrachteten die Welt mit anderen Augen, als Typen wie er, die vom Alltag aufgefressen und ausgelaugt den Abend herbeisehnten, an dem sie die Sehnsüchte und Träume vor der Glotze wegzappten, um dem Seelenschmerz, der sie permanent an die Kraft der jugendlichen Frische erinnerte, nicht zu erliegen. Er fühlte das Begehren, die Augen im Spiegel wieder mal leuchten zu sehen. Dann hätte er verstanden, dass Leben mehr bot als Maloche, Glotze, Streit mit Renate und einem sterbenden Menschen. Leben zauberte Abwechslung und Vielfalt hoch, keine an der Eintönigkeit siechende Seele, die am Bett des Vaters die Kraft aus der Seele und dem Körper presste, damit ein fast Toter leichter ins Jenseits abdriftete. Niemand sonst als junge Menschen, die die Kneipen bevölkerten und die Atmosphäre der Innenstadt pulsierten, besaß die Gabe des Zeitstillstands. Der Genuss des Lebens im Hier und Jetzt. Sie hielten mit ihrer jugendlichen Frische die Uhren still und unterjochten sich nie dem Diktat eines Seelenfressers. Diese Fähigkeit sehnte er herbei. Wie ein Asthmamittel wollte er sie inhalieren und nie mehr loslassen. Das war der Wunsch, den er an den Abend in Freiburg stellte. Und die Spannung, ob er glücklich oder enttäuscht die Heimreise antrat, stieg. Beinahe hätte er mit dem Glück gewettet, doch um welchen Preis?
Als er den Fuß in die Kaiser-Joseph-Straße gesetzt hatte, hielt er inne: Wie lange war der letzte Besuch in der badischen Studentenstadt her? Mindestens zehn Jahre, seit der Zeit, als Franz mit ihm und der Familie eine Wohngemeinschaft bildete. Er vermisste die Gelegenheit, in einer lebendigen Stadt einen Abend verleben zu dürfen. Doch an dem Tag, als ihn die Lebenssituation in eine Entscheidung zwängte, sah er in der Stadt auf eine mystische Weise die Antwort auf die bedeutsamste Frage des Lebens. Rational begründen konnte er den Besuch in Freiburg nicht. Er meinte, außerhalb der vom Todesgeruch befallenen eigenen vier Wände fände er die richtige Antwort. Dort, wo die Bewohner mit dem Leben menschengerecht umgingen. Es hegten und pflegten wie eine schwache Pflanze, die im Sturm der Gefahr, umgeknickt zu werden, ausgesetzt war. Er dachte, dort die Kunst zu leben, abschauen zu dürfen. Eine hell erleuchtete, mit Musik ausgefüllte und vibrierende Kneipe, »Herman`s Bar« zog die Augen an, wie ein Magnet steuerte auf die Kneipentüre zu, drückte die Klinke nach unten und wurde mit einem »Hallo, komm rein«, willkommen geheißen. »Mann oh Mann, wann habe ich das jemals erleben dürfen, dass man gleich angenommen wird, wie man ist?«, gab Roland seinen entzückten Gefühlsregungen freien Lauf. Der dort legale Zigarettenrauch zog wie Spinnenfäden um den Gesichtskreis. Er fühlte sich an Kindheitszeiten erinnert, an Franz, der das Rauchen ritualisierte und zelebrierte wie andere ihren Lottogewinn. »Du warst noch nie hier, stimmt´s?« Fragte eine Dame, die sich als Daniela vorstellte. »Ja, ich bin zum ersten Mal in dieser Kneipe. Schlimm?«, antwortete er. »Nee, wir freuen uns über viele Premierenbesucher, wir lernen ausgesprochen gerne, neue Leute kennen.« Dieses Bekenntnis löste Rolands Zunge, er hatte den Eindruck, endlich das Gefühl zu verspüren, nach dem er ewig gefahndet hatte. Bedingungslose Akzeptanz. Er musste hier keinen Seelenstrip vollführen, nirgendwo einen Fragebogen ausfüllen, man trat in eine Kommunikation, weil er neu war, der Kneipe und den Menschen signalisierte, dass er an ihnen interessiert wäre.
»Ich studiere Medizin, zehntes Semester«, begann Daniela das Gespräch.
»Aha, super. Ich habe früher mal Forstwirtschaft in Rottenburg studiert. Leite einen kommunalen Forstbetrieb«. Ihn drängte die Eifersucht, er signalisierte, ein Akademiker zu sein.
»Du führst eine kleine Firma?«, hakte sie nach.
»Nichts Besonderes«, stellte er seine Leistung unter den Scheffel.
»Ich stelle mir vor, du hast den ganzen Tag mit verschiedensten Menschen zu tun.«
»Als angehende Medizinerin trägst auch du eine Menge Verantwortung. Schwerkranken Typen mitteilen, dass ihr Leben auf der letzten Rille rollt, hammerharter Job«, meinte Roland. Er bestellte einen Cuba libre, Daniela trank einen Multivitaminshake. Gesundheitsbewusstsein stand ihr als Medizinstudentin super an, daher ein alkoholfreies Getränk. Das Vollsaufen überließ sie mit Vergnügen anderen. Sie sah morgens die Alkoholleichen, die nachts auf die Intensivstation komatös eingeliefert wurden.
»Vermeidest du alkoholische Getränke?«, wollte Roland wissen.
»Während des Semesters ja, in den Ferien gönne ich mir einen guten Wein oder Sektorange.« Roland gefiel das Gespräch mit der Studentin. Er vergaß die Sorgen und Nöte, die ihn im Alltag ein unbeschwertes Leben zerstörten. Die beiden tauschten viele Gedanken aus, die Uhr zeigte auf viertel vor Mitternacht. Weder Daniele noch Roland wirkten müde oder matt, alle beide genossen, einem anderen ihr Herz zu öffnen. Daniela erzählte von den Problemen mit dem Studienstress, den arroganten Professoren, die überhöhten Prüfungsanforderungen, der mangelnden Zeit, das Gelernte zu verarbeiten und anzuwenden.
»Und du? Hast du auch Schwierigkeiten, die das Leben versauen?«
»Mehr als genügend, weniger quantitativ als qualitativ«, murmelte Roland peinlich berührt.
»Jetzt hast du mich neugierig gemacht«, signalisierte Daniela, dass Roland das Herz ausschütten dürfte.
»Ich möchte dich nicht mit meiner spröden Lebensgeschichte langweilen.«
»Das überlass mal mir. Komm, erzähl über dich.«
»Ich bin der jüngste Sohn von insgesamt sieben Kindern. Mein Vater suchte vor etwa zehn Jahren jemanden, der ihn pflegte. Die anderen winkten ab, ich war noch nicht verheiratet und habe dem alten Herrn versprochen, ihn zu pflegen, wenn meine Frau einverstanden wäre.«
»Du hast ein großes Opfer auf dich genommen. Wieso bekommst du dann Probleme?«, staunte Daniela.
»Vater schloss mit mir einen Erbvertrag, ich würde das Haus nur erhalten, wenn ich ihn bis zum letzten Atemzug pflegte .Sollte ich ihn in ein Heim abschieben, müsste ich das Haus verkaufen und den Erlös unter allen Nachkommen aufteilen.«
»Verstehe, du hast genug vom Pflegen und willst den Alten in ein Heim verlegen. Wie steht deine Frau dazu?« Die Frage traf Roland sehr, er ließ sich nichts anmerken und trank einen Schluck des mittlerweile neuen Getränks: ein alkoholfreies Pils.
»Das ist das zweite Thema. Sie war die Pflegerin meines Vaters. Er hat Lungenkrebs im Endstadium und machte ihr das Leben zur Hölle, bis sie vor einigen Wochen ihre Sachen packte und ging.«
»Ach, du grüne Neune. Verstehe. Du hast deinen alten Herrn an der Backe, die Frau haute ab und du siehst keinen Ausweg mehr.«
»Exakt, Renate, meine Frau nahm die Kids mit und erpresst mich mit ihnen.«
»Toll, so reagieren halt tief gekränkte Weiber. Was willst du?«
»Eigentlich, dass es weiterläuft, wie vor Weihnachten.«
»Lass mich raten: Deine Ehefrau besteht darauf, dass du eine Lösung präsentierst.«
»Die Kandidatin hat hundert Punkte«, demonstrierte Roland seinen unverbrüchlichen Humor. »Sie verlangt, dass Franz, also mein Vater, aus dem Haus verschwunden sein wird, bevor sie zurückkommt, mit den Kindern.«
»Wenn du Franz abschiebst, musst du das Haus verhökern, dann habt ihr alle kein Zuhause mehr.« Daniela hatte ihm gut zugehört und das Dilemma begriffen.
»Roland, egal, wie du dich entscheidest, du kannst es keinem recht machen. Du musst auf einen der geliebten Leute im Leben verzichten. Oder du trennst dich von allen und baust eine neue Existenz weit weg auf.«
Er nickte, das Gehirn in ihm gab ihr seine Zustimmung, aber das Herz pochte auf eine harmonische Lebenssituation.
»Da ist noch was«, setzte er fort. »Franz ist seit Tagen verschwunden, spurlos. Keiner weiß, wohin.«
»He? Wie das? Der wird doch kaum laufen können, wenn er so gut wie im Sterben liegt.«
»Prinzipiell schon, nur er ist nicht da, weg. Die Polizei ist ratlos, alle Heime wurden abgesucht, kein Toter im Straßengraben, niemand im Krankenhaus, der Franz Kastel heißt.«
»Komisch, abe keiner verschwindet einfach so. Er wird sich nicht in Luft aufgelöst haben.«
»Ich vermute stark, dass ihn der Dauerkrieg mit Renate zermürbt hat und er uns ein schlechtes Gewissen machen wollte, indem er spurlos verschwunden ist. Er ist schlau und muss was organisiert haben.«
»Da kann was Wahres dran sein. Ich denke, eines Tages wird er anrufen und dann die Show beenden.«
»Hoffentlich behältst du Recht.«
Es war mittlerweile zwei Uhr nachts. Daniela und Roland tauschten die Handynummern aus, ebenso die Adressen. Obwohl er mit denselben Problemen wieder nach Hause fuhr, fühlte er ein neues Lebensgefühl in sich aufkeimen. Eines, das die Wertschätzung der eigenen Person aufblühen ließ. Er war immer noch aufgekratzt, als er gegen 3 Uhr vierzig das Licht im Haus anknipste und den schnarchenden Franz hörte. Er nahm fest vor, das Herz entscheiden zu lassen. Wie es mit Franz, aber auch mit ihm weitergehen sollte. Daniela hatte ihm klargemacht, dass es in erster Linie auf das eigene Wohlbefinden ankäme. Ein ganz neuer, frischer, lebendiger Gedanke, den er aus der ebensolchen Stadt Freiburg mitgenommen hatte. Dafür hatte sich die weite Fahrt gelohnt.
[35]
Er fasste den einsamen, dennoch endgültigen Entschluss, am folgenden Tag eine neue Unterkunft für Franz zu besorgen. Roland wäre nicht er, hätte er keine geniale Idee, die ihm eine überlegte Vorgehensweise ans Herz legte. Der Gedanke an den Erbvertrag veranlasste ihn, bei Dr. Fünfstern einen Termin abzumachen. Konnte er medizinische Gründe für eine Heimunterbringung seines Vaters vorweisen, besäße er beste Argumente, wie er den Übergang des Eigentums am Haus begründete. Denn keiner der Geschwister könnte ihm allen Ernstes eine Verletzung des Erbvertrages vorwerfen, würde er sie von der Fürsorglichkeit überzeugen. Das hieß, er setzte alles daran, den Umzug ins Heim als eine im Interesse von Franz liegende Maßnahme darzustellen. Ob Fünfstern davon überzeugt war? Vom abgängigen Franz wusste der Arzt, gab jedoch den Unwissenden.
Bevor Roland, der Taktikfuchs, den Doktor aufsuchte, teilte er den beiden Kindern per Whatsapp mit, dass er den Großvater in ein Heim bringen würde, sollte er die Güte haben, wieder aufzutauchen. Was den beiden den Hinweis ihrer baldigen Rückkehr signalisierte. Lediglich Renate bremste die Euphorie, erntete den jugendlichen Zorn von Annika und Lars, weil sie es wagte, immer noch an der Ehrlichkeit Rolands zu zweifeln. Es musste schnell gehen. Franz musste überrumpelt werden, er durfte keinen Kontakt zu den anderen Kindern haben. Nach der Gesundung Annikas sollten die Koffer gepackt und umgezogen werden.
Dr. Fünfstern rechnete mit dem Wunsch Rolands. »Ihr Vater gehörte eigentlich schon vor zwei Jahren in eine professionelle Pflegeumgebung, wieso ausgerechnet jetzt?«, gab er der Verwunderung Ausdruck.
»Weil es mit ihm so nicht weitergeht. Die Betreuung kann meine Ehefrau nicht mehr leisten, wir haben das Gefühl, er kann nicht sterben, weil er noch an uns hängt.«
»Ist es nicht umgekehrt? Sie können nicht loslassen?«, legte Fünfstern den Finger in die offene Wunde.
»Ja, vielleicht, auf alle Fälle funktioniert das mit ihm und uns nicht mehr. Im Endergebnis kommt es aufs selbe raus. Die Wohngemeinschaft erstickte. Könnten Sie mir die medizinische Notwendigkeit bescheinigen?«, kam Roland zum eigentlichen Anliegen.
»Für was ist die gut?«, wurde der Arzt misstrauisch.
»Dass ich mich gegenüber möglichen oder tatsächlichen Gläubigern absichern kann.«
»Mit den Gläubigern meinen Sie die Pflegekasse, aber sicher auch Ihre Geschwister, nicht wahr?«, zeigte Dr. Fünfstern den Durchblick. Als Franz noch zu reden in der Lage war, erzählte er offen, wie die Erblage aussah. Das hatte der Hausarzt sich gemerkt.
»Hören Sie, Herr Kastel, mich gehen eigentlich die Erbprobleme Ihrer Familie einen Dreck an. Menschlich betrachtet rate ich Ihnen, den Geschwistern reinen Wein einzuschenken. Ihrem Vater kann die Verlegung in ein Pflegeheim nur guttun, deshalb stelle ich das Attest aus. Alles Gute!«
Nach dem Gespräch mit Dr. Fünfstern wirkte Roland durcheinander und stammelte wirres Zeug. Die Worte Fünfsterns schleuderten ihn aus dem inneren Gleichgewicht. Er nahm nur noch diffuse Gedanken wahr. Dankbarkeit für die ausgestellte Bescheinigung, Enttäuschung über das fehlende Verständnis, dass man nach zehn Jahren einfach keine Kraft mehr aufbringen kann. Wut, weil Fünfstern wagte, interne Erbregelungen anzusprechen. Trauer weil er den alten Mann mittlerweile vermisste und wegen seiner unwürdigen Behandlung Franz gegenüber. Doch an der definitiven Entscheidung änderte das Gespräch nichts.
Die Freude über den Wiedereinzug Renates, Annikas und Lars` überstrahlte anfänglich die gefühlte Schuld, die er durch den unbemerkten Verlust von Franz aufgeladen hatte. Er fühlte endlich wieder Freude und Zuversicht, niemand meckerte. Die Kinder besuchten regelmäßig die Realschule, Roland den Wald. Lediglich Renate plante ein Kosmetikstudio aufzumachen und holte bei einem Unternehmensberater der IHK Rat ein. Sie lernte einmal vor der Hochzeit Bürokauffrau, nach der Geburt Annikas versorgte sie Familie und Haushalt. Offiziell galt sie als ungelernt. Eine Beratung bei der Agentur für Arbeit sollte ihr Wege aufzeigen. Weil Roland Geld verdiente, hatte sie es nicht eilig. Das Gehalt genügte für die ganze Familie. Sie genoss die freie Zeit und nutzte sie für die Pflege ihrer Hobbys, die sie jahrelang vernachlässigte. An Franz dachte niemand mehr, bis nach achtwöchiger Abwesenheit aus heiterem Himmel das Telefon klingelte:
»Hier ist Michael Merk. Sie können Ihren Vater abholen, er ist wieder gesund.«
»Äh, wie, was ist los?«, wirkte Roland perplex. Merk reichte den Apparat Franz.
»Roland, hier spricht ein kerngesunder Franz. Kannst du mich abholen, ich brauche niemanden mehr, keine Pflege. Merk hat eine Therapie entwickelt im Rahmen der Doktorarbeit, wie man Lungenkrebskranke mit Cannabis heilen kann. Er holte mich ab und jetzt bin ich gesund. Ich wollte euch überraschen.«
Schweigen in der Leitung. Roland rang nach Luft. Mit allem hatte er gerechnet, aber damit nicht. Niemals. Der Alte wieder gesund. Eigentlich ein wahrer Grund zur Freude, ein Wunder. Er durchlitt ein Höllenbad. Dem eigenen Papa das Zusammenleben verweigern dürfte für Franz das Schlimmste sein. Er fühlte, wie ein Messer die eigene Seele durchschnitten haben musste, der Sohn wünschte sich nichts sehnlicher als einen gesunden Vater. Der Vater von Annika und Lars, besonders der Ehemann von Renate erhielt den Auftrag, Franz aus dem Leben zu verbannen. Roland hatte die Weichen in eine diese Richtung gestellt, der Familie zuliebe.
»Vater, ich habe ein Heim für dich organisiert. Bei uns wirst du nie mehr einziehen, abholen kann ich dich. Wir planen das Familienleben ohne dich, das musst du verstehen.«
Schweißtropfen, kalter Schweiß an den Händen. Roland wusste, diese Worte sprach der gewandelte Roland, der Sohn in ihm liebte Franz – noch immer.
Das traf Franz mitten ins Herz, er atmete kurz, rang nach Luft.
Er hatte alles unternommen, damit Renate die Pflege von der Backe hatte und jetzt das. Es ging offenbar um ihn als Person, die Renate hasste wie die Pest. Selbstredend erinnerten ihn die Missgriffe an Renates Hose, ja, aber deswegen den alten Mann wegkratzen wie einen lästigen Kaugummi von der Scheibe.
Er war die Zielscheibe der Ansprüche und Aggressionen seiner liebsten Menschen geworden. Weil er Sohn, Ehemann und Vater in einer Person war und unvereinbare Ansprüche auf ihn prallten. Er versuchte das Unmögliche, die Versöhnung der Gegensätze, es misslang. Grausam.
»Bist du noch da? Hörst du mich?«
Roland hörte einen lauten Knall, Franz erlitt einen tödlichen Herzinfarkt und sank zu Boden. Die Leitung brach ab. Fünf Minuten später bestätigte die Klinik Roland den Tod seines Vaters. Roland starrte auf den Boden und konnte kein Wort reden. Er spürte die Trauer und das Versagen. Er wurde in einer Mühle verschiedener und gegensätzlicher Ansprüche zermalmt. Die Bedürfnisse, die er erfüllt haben wollte, interessierten niemanden. Die Schuld nagte, bis sie unerträglich geworden war. Er hatte sich nach wie vor ein Zusammenleben mit allen, auch mit Franz, gewünscht. Musste aber die Meinung der drei anderen Kastel vertreten. Die kalte Unbarmherzigkeit hatte gesiegt. Jetzt greift Renate niemand mehr zwischen die Beine, sie musste den alten Kerl nicht mehr berühren. Ab sofort brach für sie das Paradies an. Und Roland? Er wurde wahnsinnig und schmiedete einen Plan, den er bedingungslos umsetzen wollte und an dem ihn niemand hindern durfte. Anschließend ertränkte er die Wut und die Trauer im Wirtshaus mit Wodka. Die Wirtsleute brachten ihn volltrunken nach Hause, wo ihn Renate in Empfang nahm.