Exposé
Sally Olbright führt ein gutes Dasein. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann
David auf einem Einödhof in Colorado und freut sich auf das anstehende
Weihnachtsfest, das sie gemeinsam mit ihrer Familie feiern will. Alles wäre
optimal, würde sich nicht in der näheren Umgebung ein Verrückter
herumtreiben, der seine eigene Familie mit einem Schlachtermesser getötet
hat. Sally ist beunruhigt, als sie eine entsprechende Warnung der örtlichen
Polizeidienststelle liest, lässt sich aber durch ihren Mann besänftigen.
Draußen schneit es an diesem Tag sehr heftig, was zur Folge hat, dass der
Hof immer mehr von der Außenwelt abgeschnitten wird. Trotzdem macht
sich Dave am Morgen auf den Weg in den Stall, um die Kühe zu melken.
Sally hingegen erledigt ihren Haushalt und freut sich auf das gemeinsame
Abendessen mit ihrem Mann. Als die Uhr fünf schlägt, passiert etwas
Ungewöhnliches: Der sonst so pünktliche Dave kehrt nicht von seiner
Arbeit zurück. Zunächst kann Sally sich noch beruhigen, als jedoch das
Essen kalt wird und Dave immer noch nicht da ist, packt sie ihre Sachen
und macht sich auf die Suche nach ihrem Mann. Im Stall entdeckt sie
zunächst die Leiche ihres Hundes, der Mann bleibt weiterhin
verschwunden. Jetzt kommt ihr der Gedanke, dass der Verrückte auf ihrem
Hof sein und ihren Mann bedroht haben könnte. Eilig flieht sie zurück zum
Haus, um Hilfe zu rufen, trifft dort jedoch auf den Mörder, der auf der
Flucht vor der Polizei ist. Er hat nur ein Ziel: Auch sie soll umgebracht
werden. Es beginnt eine Hetzjagd durch das ganze Haus, die schließlich im
Keller endet. Dort findet Sally auch die Leiche ihres Mannes. Am Ende
kann sie durch ein Kellerfenster entkommen und der Verrückte wird durch
eine Explosion unter den Mauern des Hauses begraben.
Leseprobe
Als Sally Olbright ihrem Mann an einem klirrend kalten Morgen im Dezember Spiegeleier briet,
wusste sie noch nicht, dass dieser Tag zu einem späteren Zeitpunkt eine kleine, etwas unangenehme
Wendung nehmen würde. Im Radio liefen gerade die „Pitch Blog Biggy Hoods“ gesprochen PBBH,
die Lieblingsband von Sally, als sie noch ein paar Lenze jünger gewesen und mit David das erste
Mal das Tanzbein geschwungen hatte.
Sally erinnerte sich an diese Zeit, während sie mit einer gekonnten Geste das Spiegelei wendete.
Aus dem Tanzbein damals im August ´73 war zunächst ein vergnüglicher Abend, dann ein kurzes
Stelldichein hinter Mitch Bakons Garage und schließlich eine mittlerweile fast zwanzig Jahre
andauernde, gut funktionierende Ehe geworden. Alles zusammen hatte Sally es richtig gemacht: Die
„Schäfchen ins Trockene geholt“, so wie ihr alter Vater Bob Darnell immer zu sagen pflegte und
sich dabei in aller Ruhe eine von den echten Mowtown Zigarren in den zahnlosen Mund geschoben
hatte. Ja, im Nachhinein musste Sally ihm zustimmen – auch sie war zufrieden. Guter Mann, guter
Job, gute Kinder. Sie hatte alles, was eine Frau in den Fünfzigern erreichen konnte und sah dabei
auch immer noch richtig gut aus. Welche Frau in ihrem Alter konnte schon von sich behaupten,
nahezu ohne hässliche Besenreißer und Krähenfüße zu sein, nachdem sie insgesamt drei intelligente
(und leider nicht minder anstrengende) Kinder in die Welt geboren hatte? Sally grinste in sich
hinein. Gut, ihre Brüste hingen etwas weiter nach unten und der Hintern hatte nicht mehr seine
jugendliche Form wie mit achtzehn, aber wen zur Hölle juckte das? Solange Dave ihren Körper in
lauen Nächten immer noch mit seinen schwieligen Arbeiterhänden berührte und sie zu (manchmal
wirklich schwindelerregend intensiven) Orgasmen brachte, hatte sie nach ihrer Ansicht alles richtig
gemacht. Während sie ihren Gedanken nach hing, blickte sie durch das beschlagene Fenster. Der
Hof dort draußen lag seit Wochen unter einer zartschimmernden, weißen Schneedecke. Es war das
erste Weihnachten seit Jahren, das sie in komplett weißer Montur erleben würden. Dave war davon
leider weniger begeistert – er hatte das Gesicht verzogen und auf den Boden gespuckt, als vor ein
paar Wochen die ersten zarten Flocken den Boden berührt hatten. „Wirst sehen Sall, das wird ein
saustrenger Winter! Und was das heißt, kannst du dir an deinen hübschen Fingern abzählen:
Schuften, Schuften und nochmals Schuften!“ Er hatte es geahnt. Auf seine Worte folgten eine
Sturmfront, danach ein Blizzard und schließlich gefühlte fünfzig Tonnen Schnee, die es seitdem
jeden Morgen vom Hof zu räumen gab. Sally tat davon schon der Buckel weh. Und trotz der ganzen
Schipperei waren sie heute, zwei Tage vor dem Weihnachtsfest gänzlich von der Außenwelt
abgeschnitten. Zum Glück hatte Sally vorgesorgt und fünf Dosen „Roller“ Baked Beans (es mussten
unbedingt die „Roller´s“ sein, alle anderen Marken waren alle zu „meehhhllig“, was Dave ganze
drei Mal mit deutlich angewidertem Gesicht festgestellt hatte) und diverse andere haltbare
Lebensmittel besorgt. Sie machte sich etwas Sorgen, weil die Kinder sie beide an Weihnachten
besuchen wollten (die letzten Jahre stellte sie zu ihrem Leidwesen fest, dass sie sich immer mehr
und immer öfters Sorgen um etwas machte und ihren erwachsenen Kindern damit gehörig auf die
Nerven ging). Aber es lag nun mal extrem viel Schnee und der Boden draußen war glatt wie
Schmierseife, daran änderten auch die vorwurfsvollen Mienen ihrer Kinder nichts. Als die „Pitch
Blogg Biggy Hoods“ ihren letzten Bass spielten, vernahm Sally Daves schleppende Schritte auf der
Veranda. Gleich würde er die Tür öffnen, sie in den Nacken küssen, ihre Brust wie durch Zufall
streifen und sich dann mit seiner Morgenzeitung an den Tisch setzen. Das alte Spiel, das immer
gleiche Ritual. Aber sie liebte es. Und sie liebte ihn. In den letzten Jahren waren viele Ehen um sie
herum zerbrochen. Erst letztes Jahr war es die der Clouds gewesen, die ein unliebsames Ende
genommen hatte. Eine jüngere Geliebte gegen eine abgetrennte Hand war ein schlechter Tausch, wie
Jason Cloud am Ende hatte feststellen müssen, nachdem er seiner Frau in einem schwachen
Moment alles gebeichtet hatte. Sally war entsetzt und brüskiert gewesen, als sie von dem Vorfall
gehört hatte. Und doch hatte sie es tief in ihrem Inneren geahnt. Da war nämlich schon immer etwas
in Doris Clouds Blick gewesen, das einem bei jeder Begegnung das Blut in den Adern gefrieren
hatte lassen. Sally hatte sie nie durchschauen können. Hätte sie es gekonnt, wäre Jasons Hand
vielleicht noch da, wo sie ursprünglich gewesen war und nicht wie jetzt in der Sondermüllanstalt
von Boulder, wo sie nun nutzlos vor sich hin gammelte. Aber wozu sich über solche Dinge
Gedanken machen? Sally zuckte gleichgültig mit den Schultern. Es war nun mal, wie es war und die
Irrenanstalt freute sich immer wieder über ein neues Gesicht. Hinter Sally knarrte etwas. Dave betrat
den Raum, näherte sich ihr und küsste sie, wie sie es vorhergesehen hatte. Als er sich an den Tisch
setzte, beeilte sie sich, ihm seine Spiegeleier cross und saftig, so wie er es immer mochte, auf den
Teller gleiten zu lassen. Dann reichte sie ihm die „Boulder News“ und ließ sich neben ihm nieder.
Der Stuhl stöhnte unter ihren 75 Kilos, akzeptierte dann aber die altgewohnte Belastung. Dave
blätterte durch die Zeitung während seine dunklen Augen konzentriert über die Anzeigen glitten.
Seine Frau beobachtete ihn. Sogar mit Mitte sechzig ist er immer noch attraktiv, stellte sie zufrieden
mit sich und der Welt fest. Dave entsprach schließlich genau dem Männerbild, das sie schon immer
anziehend gefunden hatte: 1,85 m groß, von grober Statur und dennoch schlank. Mit mittlerweile
tief eingegerbten Falten in der Mimik. Sally wusste, wenn dieser Mann nach etwas griff, dann griff
er richtig – das hatte sie in den vergangenen Jahrzehnten gelernt. Sie lächelte. Es war ein kleines,
unmerkliches Lächeln. Ihr Mann bemerkte es nicht. Fast beiläufig schaufelte er die Spiegeleier in
sich hinein. Dann sah er kurz auf, schenkte ihr einen kurzen skeptischen Blick und las wieder
weiter. Er wusste ganz genau, dass sie ihn beobachtete und was sie sich dabei dachte. Und sie
wusste, dass er es wusste. Das war das Schöne an einer langjährigen Beziehung. Jedem war klar,
wie der andere tickte. Als Sally das dachte, wurde Sie plötzlich von einem warmen Glücksgefühl
ergriffen und legte ihre Hand auf seine. Er lies es sich gefallen, reagierte jedoch nicht weiter. Auf
Seite drei der Zeitung stockte er plötzlich. Scharf sog er die Luft durch seine nun mittlerweile schon
etwas lückenhaften Zahnreihen. „Nun sieh dir das mal an, Sall, die haben das Schwein also immer
noch nicht gefasst.“ Sally sah ihn fragend an. „Wen meinst du?“ Dave runzelte die Stirn und sah
sich den Artikel genauer an. „Na, den Irren mit der verschrumpelten Hand, der seit Tagen die
Gegend unsicher macht! Da, sieh´s dir doch selber an!“ Er klatschte ihr das Blatt mit einer schnellen
Bewegung vor die Nase. Sally drehte die Zeitung zu sich, setzte Daves Lesebrille auf (sie hatte sich
noch keine eigene zugelegt denn eine eigene Brille für die alten Augen zu kaufen, hieß schließlich
auch, dass man alt war und alt wollte sie auf keinen Fall sein) und beugte sich nach vorne, um zu
lesen, was da stand:
Die Polizei fahndet mit Hochdruck nach Peter Dawson. Der 43-jährige Mann hatte vor zwei Tagen
nach einer Auseinandersetzung seine Frau und vier gemeinsame Kinder mit einem Schlachtmesser
hingerichtet und ist nun flüchtig. Dawson ist laut Aussage des Polizeipsychologen extrem gefährlich
und gewalttätig. Die Bevölkerung wird gebeten, den Mann nicht anzusprechen, sondern
sachdienliche Hinweise sofort an die nächste Polizeidienststelle zu melden. Dawson ist 1,80 m.
groß, hat blondes lockiges Haar, blaue Augen und eine stämmige Statur. Besonderes Kennzeichen
ist der fehlende Zeigefinger an der rechten Hand. Der Täter dürfte sich derzeit im Raum Lakewood
aufhalten.
Sally schluckte und rückte sich ihre Brille zurecht. Lakewood war nicht sehr weit von Bolder
entfernt. Sie hatte im Radio von dem furchtbaren Vorfall mit der Familie gehört, gerade als sie
zusammen mit Lisa Bone (genannt Big Mouth – wegen ihrer extrem großen Klappe, die so ziemlich
alles weiterschnatterte, was ihr zu Ohren kam) vor dem Obststand in Sam O´Neals
Lebensmittelladen gestanden hatte. „Nimm die Grünen Sally!“, hatte Sam hinter den Tresen
hervorgerufen. „Die sind saftiger!“ Klar, dachte Sally – die kosten ja auch drei Cent mehr Sammy
Bo! Trotzdem hatte sie zugegriffen. Man konnte ja schließlich nie wissen, welche Sorte einem ein
paar mehr Lebensjahre versprachen. Die Medien hatten derweil auf allen Kanälen von dem
schrecklichen Massaker berichtet. Ein harmloser Familienvater war einfach ausgetickt und hatte
seine Familie zu Blutwurst verarbeitet. Das Blut musste bis an die Decke gespritzt sein, dies hatte
Sally durch den Grünschnabel und Dorfsheriff Steve erfahren – einer der ersten am Tatort. Acht
Polizeiwägen, drei Rettungswägen und vier Leichenwägen hatten die grausame Fahrt auf den Hof
der Familie angetreten und konnten letztlich nur die abgeschlachteten Leichen der Familie bergen.
Das hatte nun eine ganze Polizeistaffel auf den Plan gerufen, die seit Tagen unablässsig nach dem
Mörder suchte. Alleine dadurch fühlte Sally sich schon etwas beruhigt. Aber trotzdem: Ein
freilaufender Verrückter war nicht unbedingt etwas, an das man kurz vor dem Einschlafen auf einem
einsamen Hof gerne dachte. Dave sah sie mit kritischem Blick an und schien sofort ihre Gedanken
zu erraten. „Ach Sall, mach dir doch keine Sorgen, hier draußen sind wir sicher. Der ganze Schnee
um uns rum – alleine deswegen würden wir es doch sofort mitkriegen, wenn da draußen jemand
herumschleichen würde“. Er lächelte sanft und drückte mit seinen schwieligen Händen ihre Finger.
Das war schön. Und es war beruhigend. Sie sahen sich an und einen kurzen Moment waren sie
wieder das Team, das sie schon in jungen Jahren gewesen waren. Dieser Blick, der sagte: „Wir sind
auf einer Linie, Baby. Wir können alles gemeinsam schaffen – solange wir beide es nur wollen“. So
hatte er sie damals schon angesehen, als sie das allererste Mal ausgegangen waren. Ja, sie erinnerte
sich noch ganz genau daran. Sie waren in Jerrys Diner gesessen, auf dem Tisch vor sich zwei
Schokomilchshakes verziert mit einer riesigen Sahnehaube, tief in anregende Gespräche versunken.
Bei den Pancakes waren sie dann auch körperlich etwas lockerer geworden und wagten einen
zaghaften, wenn auch etwas sehr feuchten, ersten Kuss. Ihr hatte er nicht sonderlich gut gefallen,
doch er war sofort hin und weg gewesen. Und ab da war auch dieser Ausdruck auf seinem Gesicht
aufgetaucht, der besagte: Mit dir will ich den Rest meines Lebens verbringen. Komme, was da
wolle. Die Eindeutigkeit in seinen Augen hatte ihr zunächst Angst gemacht, mit der Zeit jedoch
wirkte sie wie ein flauschiger warmer Mantel, der sich schützend um sie legte. Sie hatten nicht sehr
lange gebraucht, um miteinander zu schlafen und nach diesem ersten Mal intensivster Zweisamkeit
konnte weder sie noch er sich ein Leben ohne den anderen vorstellen. Als sie jetzt – 30 Jahre später
vor ihm stand, kam sie sich wieder vor wie der unreife Teenager von damals und errötete um ihre
Dummheit. Welches törichte kleine Mädchen machte sich schließlich Sorgen, wenn ein starker
Mann es beschützte? Sie waren auf ihrem Hof und sie waren in Sicherheit. Daran gab es nichts zu
rütteln. Dave hatte immer alle Schwierigkeiten von ihnen ferngehalten und das würde er auch
weiterhin tun. So einfach gestaltete sich das. Einen kurzen Moment blickten sie sich innig an, dann
erhob sich Dave und zog sich schwerfällig seine Arbeitsstiefel über. Wie jeden Morgen würde er
jetzt in den Stall gehen und stundenlang nicht mehr auftauchen. Sally küsste ihn und wollte gerade
den leeren Teller auf die Spüle räumen, als das Telefon klingelte. Als sie abhob, war ihr Mann schon
zur Tür hinaus und stapfte durch den Schnee in Richtung Scheune. Sally ahnte, dass sie ihn bis
heute Nachmittag kaum mehr zu Gesicht bekommen würde. Wenn er einmal im Stall war, blieb er
auch dort. An diesem muffligen Ort fühlte er sich wohl. Sie seufzte. Manchmal war er wie ein
kleines Kind im Sandkasten, das mit seinem Bagger spielt. Aber das war gut so. Es war wirklich ein
gutes Leben, das sie führten. Auch jetzt noch, nachdem die Kinder schon aus dem Haus waren. Sally
nahm den Hörer ab. „Olbright?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung reagierte sofort. „Hallo
Mum! Ich bin´s. Lisa!“ Sallys Herz machte einen Hüpfer. Ihre einzige, kleine, herzzerreißend süße
Tochter, die sie so sehr liebte, war am Telefon. Die Söhne mochte sie natürlich auch, nur Lisa war
etwas Besonderes. Als letzte geboren, war sie die weibliche Unterstützung gewesen, die sie sich in
einem ansonsten ziemlich schroffen Männerhaushalt von Anfang an erwünscht hatte. Lisa war
damals ungeplant gewesen aber dennoch sehr willkommen. Ihre Tochter war im Laufe der Jahre
schnell – viel zu schnell – erwachsen geworden und nun bereits seit zwei Jahren mit einem
erfolgreichen Börsenmakler verheiratet. Sally und Dave hatten immer noch ihre Probleme mit ihm –
Börsenmakler waren schließlich Krähen, die einen das Auge aushackten, wenn man nicht aufpasste
– aber da Lisa ihn liebte, wurde dieser Mann als notwendiges Übel akzeptiert. Die beiden lebten seit
zwei Jahren in San Francisco, 1200 Meilen von Sally und Dave entfernt, was Sally in
melancholischen Momenten immer wieder traurig stimmte. Aber wie alles hatte auch dies seine Vorund
Nachteile, so waren sie wenigstens von Lisas Börsenkrähe in erträglichem Abstand. Sally fiel auf, dass
ihre Tochter die letzte Zeit immer recht vergnügt am Telefon geklungen hatte. Seitdem die beiden
ein Baby planten, sogar noch ein wenig mehr. Das war früher ein wenig anders gewesen.
Lisa und die Krähe hatten sehr oft gestritten. Nicht selten war es dabei vorgekommen, dass Lisa sich
zu ihnen geflüchtet und tage- bzw. wochenlang ihre Wunden geleckt hatte. Mittlerweile aber hatten
die beiden sich aber zusammengerauft, so dass die Familienplanung in Sallys Augen nur eine Sache
der Zeit war. „Hallo mein Schätzchen!“, flötete Sally in den Hörer und zupfte sich einen störrischen
weißen Fussel von ihrer Kochschürze. „Wie geht es dir denn?“. „Gut, Mum, alles Bestens!“,
plapperte ihre Tochter fast schon ein wenig zu euphorisch in den Hörer. Übermorgen komme ich
endlich heim. Ich freue mich schon total, dich und Dad endlich wieder zu sehen!“. Sally
schmunzelte. Das floss runter wie Öl. Sie gab sich zwar Mühe, ihre Kinder nicht über zu bemuttern
aber manchmal passierte es eben doch. Und Weihnachten, wo alle wieder wie früher vereint und
zusammen am Tisch saßen, war eben so ein Tag, an dem ihre Muttertriebe gewöhnlich Überhand
nahmen. Diese Kinder waren neben ihrem Mann nun einmal ihr Lebenselixier und alles, was sie
sich jemals von dieser Welt gewünscht hatte. „Das ist schön, mein Schatz“, bemerkte Sally. „Geht
mir genauso. Wann genau kommst du denn in Denver an?“ Papier raschelte am anderen Ende der
Leitung. Wahrscheinlich zog Lisa gerade ihr Flugticket hervor. „Also, um zehn bin ich am
Flughafen und dann noch etwa eine Stunde mit dem Auto. Wahrscheinlich kannst du gegen elf mit
mir rechnen. Genauso wie letztes Mal.“ Ja, Sally erinnerte sich noch gut daran. Vor vier Monaten
hatte ihre Tochter sie das letzte Mal besucht. An ihrem letzten gemeinsamen Abend vor der Abreise
waren sie beide Stunden in der Küche vor einem guten Glas Merlot gesessen und hatten sich über
vergangene Zeiten unterhalten. Nachdem Lisas Wangen von dem Wein eine kräftige Farbe
angenommen und ihre Augen sichtbar glasiger geworden waren, hatten sie auch Dinge besprochen,
die in ihrer normalen Mutter-Tochter-Beziehung bislang nicht so häufig thematisiert worden waren.
Nämlich, dass es eben nicht immer so leicht war, eine gute Beziehung zu führen. Dass dieser junge
Mann auch seine Schwächen hatte. Zum Beispiel, dass er oft an der Börse spekulierte und sie oft um
ihre gemeinsame Existenz fürchtete, weil er so leichtsinnig mit ihrem gemeinsamen Geld umging.
Die Streits deswegen waren nicht zu verachten, aber letztlich ließ er sich von Lisa auch nicht
umstimmen, anders zu handeln. Im Gegenteil. Immer wieder betonte er seine jahrelange Erfahrung
und das Risiko, das ein kluger Mann im Leben auch einfach mal eingehen müsse. Nach diesen
Diskussionen war Lisa oft verzweifelt und an diesem Vorweihnachtsabend, als sie mit ihrer Mutter
zusammen saß, flossen sogar noch ein paar Tränen. Sally war entsetzt gewesen, ihre Tochter so zu
sehen und hatte sich offenkundig gegen deren Beziehung ausgesprochen. Doch dann hatte Lisa auch
unglaublich positive Dinge berichtet: Die Momente, in denen sie sich niemals vorstellen konnte,
ohne ihn zu sein und die Liebe einfach übermächtig war. Dass sie die Zeit mit ihm genoss und sie
auch im Alltag gut miteinander klarkamen. Und, dass sie sich ein Kind mit ihm wünschte. Am
liebsten ein Mädchen. Und das wollte sie dann genauso aufziehen wie Sally sie selbst aufgezogen
hatte. Sally war natürlich stolz, solche Aussagen von ihrer Kleinen zu hören. Weiß Gott, es war das
schönste Kompliment, das man ihr als Mutter machen konnte. Trotzdem sorgte sie sich auch jetzt
noch häufig um die Ehe ihrer Tochter und machte sch Gedanken über die Frage, ob dieser Mann
wirklich der Richtige für ihr Mädchen war. „Du, wann kommen eigentlich Tim und Samuel?“, riss
Lisa sie aus ihren grüblerischen Gedanken. Sally zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Keine
Ahnung, Liz. Du kennst sie doch.“ Sie wusste wirklich nicht, wann sie mit ihren Söhnen rechnen
konnte. Diese pflegten sich gewöhnlich nicht großartig anzumelden. Sie kamen einfach. „Und wo
ist Dad?“, drängte Lisa. „Doch nicht schon wieder im Stall?“ Sally seufzte. „Liz, du kennst doch
deinen Vater. Wo sollte er um neun Uhr morgens auch anders sein als dort?“. Schließlich musste
Lisa doch wissen, worüber ihre Mutter sprach. Wenn sie als kleines Mädchen ihren Vater in
früheren, lang vergessenen Sommern hatte sehen wollen, musste sie mit ihren kleinen Füßen immer
die 35 Schritte bis zum verrosteten Scheunentor tippeln und sich auf einen Heuballen direkt neben
ihren Vater setzen. Anfangs hatte dieser sie nicht großartig beachtet, aber im Laufe der Jahre war
seine Tochter dann fast vollständig in die Geheimnisse formvollendeter Viehzucht eingeführt
worden. Sally selbst hatte – im Gegensatz zu ihrer Lisa- mit der Viehzucht nie großartig etwas
anfangen können, trotzdem war es ihr zur täglichen Aufgabe geworden, um sechs Uhr morgens das
vor Hunger plärrende Vieh zu füttern. Ganz gleich, ob der Wind ums Haus pfiff oder der Regen vom
Himmel peitschte. Mein Gott, wie oft hatte sie sich schon gewünscht, einen Tag mal alle viere grade
sein lassen zu können, aber bei Dave gab es dieser Hinsicht keine Gnade. „Mich kriegste nur mit
Stall, mein Sally-Schätzchen…“, raunte er ihr häufig zu nachtschlafener Zeit zu, bevor er sich ein
weiteres – viel zu frühes – Mal ächzend aus dem Eichenholzbett schälte. Wenn sie sich in diesen
Momenten dann ziemlich gereizt zu ihm umdrehte und in seine guten dunkelbraunen Augen blickte,
waren all die schlimmen Gefühle in ihr verschwunden. Sie konnte diesem Mann einfach nicht böse
sein. Hatte es noch nie gekonnt. „Ok! Dann sag Dad wenigstens einen schönen Gruß und, dass ich
es nicht erwarten kann, ihn zu drücken, wenn ich da bin!“, meinte Lisa. „Werde ich ihm ausrichten,
mein Schatz“, versprach Sally. Dann fügte sie noch hinzu: „Hab eine gute Reise und komm im
Ganzen bei uns an!“ „Ja, ja Mum“, murmelte Lisa „Oh und ganz besonders freue ich mich
natürlich, wenn ich meinem lieben Bruder Samuel wieder einmal deine erstklassige Schokotorte vor
der Nase wegschnappen werde.“ Ein warmes Lächeln glitt über Sallys Gesicht. Die
Schokoladentorte. Sie backte sie jedes Jahr an Weihnachten. Sie musste unbedingt noch nachsehen,
ob sie noch genügend Mehl im Haus hatte. Eigentlich wäre jetzt der Moment gewesen, um den
Hörer aufzulegen, aber Liz zögerte. Fast schien es, als würde sie noch etwas hinzufügen wollen.
„Gibt es noch etwas, mein Schatz?“, hakte Sally nach. Ihre Tochter antwortete nicht und ein paar
Sekunden vernahm Sally nichts außer ihren eigenen regelmäßigen Atem. Lisa räusperte sich, bevor
sie fortfuhr. „Nein, Mum. Alles klar. Das erzähl ich dir dann doch lieber morgen.“ „Ist es etwas
Schönes?“ wollte Sally jetzt nun doch wissen. Sie hatte schließlich keine Lust, sich die ganze Nacht
lang unnötig Sorgen zu machen. „Ja. Es ist etwas Schönes“, bestätigte Lisa. „Sogar etwas sehr
Schönes! Aber mehr verrate ich jetzt nicht.“ „Na gut,“ gab Sally sich geschlagen. „Dann sehen wir
uns also morgen gegen elf. Pass auf dich auf, mein Kleines! Ich freu mich!“ Sie schmatzten beide
noch einen Kuss ins Telefon (so wie sie es am Ende eines Telefonates immer taten) und legten dann
auf. Sally stand noch einen Moment neben dem Telefon und starrte auf das gerahmte Bild ihrer
Tochter an der Wand. Das Mädchen war so ganz anders als sie selbst. Immer schon gewesen.
Schlank, mit schwarzem langem Haar, feingliedrigen Händen und zarter Statur fand Sally, dass ihre
Tochter so ziemlich das Schönste war, was Dave und sie zustande gebracht hatten. Auf dem Foto
saß das Mädchen gerade auf dem Schoß ihres Vaters (damals hatte Dave tatsächlich noch etwas von
Elvis gehabt, dieses schwarze Haar mit der Tolle, der jungenhafte Ausdruck im Gesicht, der kecke
Blick) und streichelte Sam, das flauschige weiße Kaninchen, das sie in den Siebzigern besessen
hatten. Ihr Haar war zu zwei Zöpfen gebunden (darauf hatte sie früher viel Wert gelegt. Das war
schließlich „erwachsen“ und eine 12-jährige wollte grundsätzlich erwachsen sein) und fiel locker
auf knochigen Schultern. Damals war sie noch recht knabenhaft gewesen. Im Herbst danach aber
war sie bereits auf die Mittelschule gegangen und Sally hatte ihr bei Rory´s erstmalig BH´s mit
Körbchengröße 75 B besorgen müssen. Zu dieser Zeit war auch Lisas erste selbstgeschriebene
Geschichte entstanden. Dass aus diesem Erstlingswerk noch viel mehr werden sollten und damit der
Grundstock für die danach folgende Journalistenkarriere gelegt worden war, konnten damals weder
Sally noch Dave ahnen. Jetzt aber waren sie beide sehr stolz auf ihre schreibwütige Tochter und
versäumten auch keine Gelegenheit, deren Artikel zu verschlingen. Sally erinnerte sich sogar noch
an den Tag, an dem „dieses Schreiberding“ (so wie Dave Lisas Arbeit gewöhnlich nannte)
angefangen hatte: Es war einer dieser müden Sonntag gewesen, an dem aus Lisas sonst so stillem
Zimmer plötzlich ein recht lautes, klapperndes Geräusch gekommen war. Das Ergebnis war eine
seitenlange Aneinanderreihung von Wörtern – eine kurze, aber spannende Geschichte, die ihre
Kleine einfach so heruntergetippt hatte. „Die Schatzsuche“, ja genau, das war der Titel gewesen.
Lisa hatte die Story auf der Schreibmaschine von Daves Vater (eigenhändig vom Speicher in ihr
Kinderzimmer geschleppt) höchst konzentriert im Zweifingersystem getippt. Überhaupt hatte ihre
Tochter viel Zeit auf mit sich selbst auf ihrem Zimmer verbracht. Sie war nicht wie andere Kinder
gewesen. Nicht mal ansatzweise wie ihre Brüder, die ständig wie zwei kleine Wirbelwinde in
ganzen Haus herumtobten. Schreiben hatte dem Mädchen offensichtlich etwas gegeben, das sie
beim normalen Spiel nicht empfunden hatte. An dieser Leidenschaft hatte sich bis heute nichts
geändert und nun arbeitete Lisa bereits seit zwei Jahren für eine kleine Zeitung in San Francisco.
Soweit Sally die Situation einschätzen konnte, gab sich ihre Tochter damit zufrieden. Sie hatte
schließlich nie etwas anderes gewollt. Während Sally in den Erinnerungen des Sommers im Jahr
1980 bei Elvis und Lisas Zöpfen schwelgte, plapperte in der Küche das Radio unbeachtet weiter.
Paul Lennox, seines Zeichens nun bereits acht Jahre bei Radio Energy und einer der begehrtesten
Junggesellen der Firma gab mit seiner Reibeisen-Stimme ein weiteres Mal bekannt, dass sich der
Fünffachmörder immer noch auf freiem Fuß befand und die Bevölkerung zur Vorsicht gemahnt
wurde. Diese Information sollte Sally später interessieren. Jetzt jedoch nicht.
Gegen zwölf Uhr stand Dave Olbright´s Ehefrau singend unter der Dusche und massierte mit
kreisenden Bewegungen Zitronenöl auf ihrem Luxuskörper. „Hat bei mir regelrechte Wunder
gewirkt, das kannste mir glauben!“, versprach Sallys Freundin Becky schon seit drei Monaten in
verschwörerischem Tonfall, immer, wenn sie sich bei ihr darüber erkundigt hatte. Dann bestand das
niedliche, mittlerweile auch schon 50-jährige Mäusegesicht ihrer Freundin nur noch aus großen,
begeisterten Augen, die von der Wirksamkeit des Mittels überzeugt waren. Auf den ersten Blick
hatte Sally uninteressiert getan, was sie aber nicht daran gehindert hatte, eines schönen Tages in den
Sams Laden zu schleichen und sich das angebliche Wundermittel selbst zu besorgen. Auch die beste
Freundin musste schließlich nicht alles wissen. Einzig und allein Sam hatte ihr hinter der Theke
verschwörerisch zu geblinzelt, als Sallys Hände verstohlen zu der kleinen blauen Verpackung (im
dritten Regal rechts hinten, gleich neben den Cellulitegels) gegriffen hatten. Nicht mehr und auch
nicht weniger. Männer waren eben oft viel unkomplizierter als Frauen. Nach dem Duschen und dem
Eincremen machte Sally sich gegen zwei Uhr Nachmittags daran, Daves kaputte Jeans zu flicken.
Während sie nun die Nadel durch den groben Stoff gleiten ließ, dachte sie wieder an ihre Tochter.
Was sie ihr wohl vorhin hatte sagen wollen? War sie etwa schwanger? Sally tippte fast auf diese
Möglichkeit. Wäre es eine bevorstehende Trennung gewesen, hätte Lisa bestimmt anders geklungen.
Sallys Herz weitete sich. Ein neuer kleiner Mensch im Haus. Kleine Beinchen, die durch die Diele
tappelten. Glucksendes Lachen, wenn man das Kind kitzelte. Ach, das würde so schön sein. Wieder
jemand, den sie bemuttern konnte. Die zarten Händchen, das erste Wort. Der Moment, wenn das
Kind seine ersten Schritte tun würde. Wie sehr hatte sie sich damals gefreut, als Lisa das allererste
Mal gelaufen war! Sie war mit ihr in der Küche gewesen, die Kleine hinter ihr im Laufstall sitzend.
Sally hatte sich beim Abspülen zufällig zu ihrer Tochter umgedreht. Als sie sah, was sie sah, war ihr
beinahe vor Schreck der Teller aus der Hand gefallen. Die Kleine stand im Laufstall und grinste sie
mit einer Selbstsicherheit an, die sonst nur Große an den Tag legten. „Da schau mal, Mama, was ich
schon kann!“, schienen ihre strahlend blauen Augen mit den dunklen Sprenkeln zu blitzen. „Hier
bin ich und das ist erst der Anfang!“. Wenn sie an diesen Augenblick dachte, breitete sich ein
warmes Gefühl in Sallys Magengegend aus. Zufrieden lehnte sie sich zurück. Etwas piekste an
ihrem Finger und holte sie aus ihren Träumen. Verdammt, schon wieder diese Nadel! Wie oft schon
hatte sie sich schon beim Nähen gestochen und damit unschöne Blutspuren auf Hosen, Blusen oder
Socken verursacht. Schnell steckte sie ihren blutenden Zeigefinger in den Mund und verharrte einen
Moment. Als ihr Finger nicht mehr süßlich schmeckte, nähte sie unbeirrt weiter. Um drei schlug die
Standuhr in der Diele, was Sally zum Anlass nahm, Daves Hose beiseite zu legen und sich kurz die
Glieder zu strecken. Draußen tanzten wieder dicke Schneeflocken vom Himmel. Yeah Baby, das
bedeutet noch mehr Schneeschippen, folgerte Sally mit einer gewissen Wehmut, schob den
Gedanken aber gleich wieder beiseite. Eingeschneit waren sie ja sowieso schon, also machte das
bisschen zusätzlicher Schnee auch keinen Unterschied mehr. Außerdem war das Räumen schon
immer hauptsächlich Daves Aufgabe gewesen. Sally setzte sich wieder auf die Couch und nähte
weiter. Eine Stunde später ging sie in die Küche und stellte eine Handvoll Kartoffeln auf den Herd,
während sie den Tisch deckte. Sie musste sich beeilen, um fünf Uhr musste schließlich alles fertig
sein. Dave hatte immer enormen Kohldampf, wenn er vom Stall ins Haus kam. In den ganzen
zwanzig Jahren, in denen sie zusammen waren, war er wirklich nur ein einziges Mal zu spät
gekommen. Und da sein Gesicht zwei Minuten vorher Bekanntschaft mit einem Pferdehuf gemacht,
was ihn aber nicht daran gehindert hatte, trotzdem zum Abendessen zu erscheinen anstatt sich sofort
ins Krankenhaus fahren zu lassen.
Als die Uhr fünf schlug, hatte sie es wie immer geschafft, sein Lieblingsessen vorzubereiten. Sally
musste zugeben, dass es wirklich appetitlich aussah: Bratkartoffeln, Blaukraut und Leberkäse, dazu
ein knackiger Salat – mit Himbeerdressing angemacht, so wie Dave ihn eben mochte. Sally
überlegte, während sie zusätzlich noch ein paar Käseschnitten auf einen extra Teller richtete, ob ihr
Mann möglicherweise heute noch Lust hatte, ein paar „Sachen“ zu machen – ihrer beider
Geheimcode für schöne Stunden zu zweit. Sein Lieblingsgericht mit einem guten Bier animierte
Dave an guten Tagen immer zu ein wenig Körperkontakt mit seiner alternden – aber immer noch
sehr attraktiven – Ehefrau. Dazu brauchte es eben nur das Funkeln in seinen Augen. Dieses Funkeln,
das berauschende Nächte und diverse Orgasmen versprach. Oh ja, darauf hatte sie Lust. Sie hatten
schließlich schon länger nicht mehr miteinander geschlafen. Und jetzt, wo sie so gut roch, würde es
sicher noch besser werden. Zufrieden mit sich und der Aussicht auf einen netten Abend strich sich
Sally ihre Schürze glatt, ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und wartete. Jetzt musste er jeden
Moment kommen. Sie hörte schon die stapfenden Schritte und das Knarren der Küchentür, als er
eintrat. Leider nur in ihrer Phantasie, denn in der Realität kam die nächsten zehn Minuten niemand.
Die Minuten verstrichen. Plötzlich fiel Sally ein, dass noch kein Bier auf Daves Platz stand, eilig
hetzte sie in den in den Keller, um eines zu holen und platzierte es ihm dann eisgekühlt auf den
leeren Platz. Gut, dass er heute ein paar Minuten später kam. Jetzt war es perfekt. Jetzt konnte er
kommen und mit ihr essen. Sie wartete. Probierte ein kleines Stück vom Leberkäse mit den bloßen
Händen – „Böses Mädchen! Mit den Fingern isst man nicht!“, ermahnte ihre Mutter. „Ja, Mama“,
erwiderte Sally genervt, obwohl ihre Mutter schon seit 15 Jahren friedlich unter der Erde weilte und
ihr in diesem Moment eigentlich gar nichts sagen konnte. Dann ließ sie den Finger mit dem
Leberkäse schnell in ihrem Mund verschwinden. Böses Mädchen. Ich hab´s ja gesagt. Die Standuhr
im Wohnzimmer schlug schwer, nachdem eine Viertelstunde vergangen war. Sally dachte sich nichts
dabei. Als die Uhr jedoch das Gleiche fünfzehn Minuten später noch einmal tat, hatte es einen
komischen Beigeschmack. Sally beschlich das erste Mal das ungute Gefühl, dass etwas hier nicht
stimmte, ja, nicht stimmen konnte. Dave war schließlich nie zu spät, das gab es einfach nicht. Mit
einem seltsam beengten Gefühl in der Brust stand Sally vom Tisch auf, ging zum Küchenfenster
und blickte in den dunklen Hof. Dort, keine fünf Meter von ihr entfernt, konnte man gerade noch
die Umrisse des Stalls erkennen. Plötzlich war sie beunruhigt. Was, wenn ihm da drüben etwas
passiert war? Wenn er sich verletzt hatte und nun schon seit einer halben Stunde (oder weiß Gott,
vielleicht schon viel länger!) auf ihre Hilfe hoffte? Ohne erkennbaren Grund schoss ihr der
Fünffachmörder in den Kopf. Was, wenn er der Grund war, dass ihr Mann nicht aus dem Stall kam?
Vielleicht war er da drüben und bedrohte ihn oder hielt ihm gerade ein Messer an die Kehle? Oder
noch schlimmer – er hatte ihm bereits etwas angetan! Sally schüttelte verleugnend den Kopf. Nein.
Das konnte nicht sein. Was für dumme Gedanken. Es war völlig unmöglich, dass so etwas geschah.
Nicht auf diesem Hof. Nicht in diesem Leben. Und schon gar nicht, wenn Phil dort draußen lauerte.
Der Beagel bewachte schon seit dreizehn Jahren erfolgreich den Besitz der Olbrights und schlief
gewöhnlich in seinem Holzhaus direkt neben dem Stall. Niemand kam an ihm vorbei, ohne wie
verrückt angekläfft zu werden. Und schon gar nicht jemand, den er nicht kannte. Sally atmete tief
durch und blickte auf das mittlerweile kalte Essen. Es half nichts. Egal, wie sie es nun drehte und
wendete; was sie für Erklärungen für die Verspätung ihres Mannes fand oder nicht. Sie musste auf
jeden Fall hinaus in die Dunkelheit und nachsehen, ob mit Dave alles in Ordnung war.
Minuten später kramte sie hektisch die gelbe Taschenlampe vom Dielenschrank herunter und warf
sich ihre dicke Arbeiterjacke über. Im Spiegel erschien sie plötzlich blass und unentschlossen, fast
wie ein kleines Mädchen, das sich vor dem großen bösen Wolf fürchtete. Sie schalt sich eines
Besseren – verdammt, sie hatte schließlich drei gesunden Kindern in einem wahrhaft monströsen
Akt das Leben geschenkt – alles andere dagegen war schließlich ein gottverdammter Klacks!
Hühnerkacke, Ruby, nicht interessanter als ein Fliegenschiss, wie ihr Dad früher immer abwertend
bemerkt hatte, wenn sich ihre Mutter mal wieder unnötig den Kopf über Nichtigkeiten zerbrochen
hatte. Das war schon richtig. Aber es änderte grundsätzlich nichts daran, dass das Essen in der
Küche, in der sie gerade stand und seit zehn Minuten wie ein hypnotisiertes Karnikel aus dem
Fenster starrte, eiskalt war. Dafür war es nicht vorgesehen und das hatte definitiv etwas
Bedrohliches. Etwas, das zeigte, dass die Dinge nicht normal liefen. Hör auf, so einen Quatsch zu
denken, schalt sie sich und öffnete mit einem störrischen Ruck die Haustür. Plötzlich unterbrach ein
hohes Kreischen in die Stille, so dass sie erschrocken verharrte. Sie kannte das Geräusch. Das waren
die Türscharniere, die schon seit längerem rosteten. Aber noch nie war es ihr so laut vorgekommen
wie in diesem Moment. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet, ja fast auf frischer Tat ertappt. Wie auf
dem Präsentierteller. Im hell erleuchteten Schein der Eingangslampe war sie auch die perfekte
Zielscheibe für jeden Irren, der dort draußen auf sie wartete. Die Taschenlampe in der zitternden
Hand und kreidebleich vor Schreck. Und ihre Angst war nicht unberechtigt. Wer wusste denn, was
heute Abend auf dem Hof vor sich ging? Wer (oder vielleicht eher was?) Dave daran gehindert
hatte, ins Haus zu kommen? Sally spitzte die Ohren, vernahm aber eine ganze Weile nichts weiter
als das Rauschen ihres eigenen Blutes.
Um sie herum wirbelten kleine Schneeflocken und ließen sich in Tausenden auf dem kühlen Boden
nieder. Sally ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Hör auf mit diesen Hirngespinnsten. Da ist niemand!
Sie konnte hier doch nicht einfach wie ein Ölgötze stehen bleiben! Sie musste Dave suchen! Nur so
würde sie herausfinden, was los war. Sally nahm ihren ganzen Mut zusammen und stapfte
entschlossen in Richtung Stall, so wie so es bereits tausende Male zuvor getan hatte. Sie betrat die
Treppe, die hinab in den Hof führte, verlagerte ihr Gewicht und …..rutschte weg. Oohhh… ohhh
shhiitt…, konnte sie noch denken, dann wirbelte sie auch schon durch die Luft und landete nach
einer grotesken Drehung auf ihrem Steißbein. Benommen blieb sie sitzen, während der Puls an ihrer
Halsschlagader wie wild pochte. Ein scharfer Schmerz blitzte durch das rechte Handgelenk, mit
dem sie den Sturz ein wenig abgefangen hatte. Sally sog die Luft scharf ein, hielt das schmerzhafte
Pochen aus, bis er abebbte und blickte dann hinüber zur Scheune. Nichts. Nach wie vor Dunkelheit.
Unter ihrem Hintern machte sich nun eine kalte, unangenehme Nässe breit und kein Dave kam
herausgelaufen, um ihr aufzuhelfen. Das würde sie nun alleine tun müssen. Vorsichtig bewegte sie
ihre Glieder. Zuerst die Füße, dann die Arme. Sie atmete auf. Kein Schmerz. Zumindest gebrochen
hatte sie sich also nichts. Nur das Handgelenk schien etwas verstaucht. Es tat ihr weh, wenn sie es
bewegte. Vorsichtig rappelte sie sich mit Hilfe ihrer gesunden linken Hand wieder hoch und
humpelte zögerlich in Richtung Scheune. Von Phil keine Spur. Sein Zuhause – die blau gestrichene
Hundehütte mit dem Knochen auf dem Eingang – schien verwaist. Einzig und alleine der noch halb
mit Frostys gefüllte Futternapf erinnerte an die Existenz des alten Beagels. Jetzt bekam Sally
wirklich ein saublödes Gefühl. Dabei wünschte sie sich so sehr, dass sie gleich die Tür zum Stall
öffnen und ihren Mann und den Hund dort herumtollen sehen würde. Dave würde die Hand heben,
wenn er sie sah und sich zerknirscht für die Verspätung entschuldigen. „Ah, es ist schon so spät? Tut
mir leid, Schatz, ich hab die Zeit vergessen. Aber weißt du was? Ich komme gleich zu dir!“, würde
er rufen, sie dann stürmisch in die Arme reißen und ihr liebevoll mit den Händen übers Gesicht
streicheln, so dass aller Angst und Ärger vergessen war. Und seine Augen… Sie lechzte danach, in
seine Augen zu sehen. Diese dunkelbraunen, schönen Augen mit den Sprenkeln, die sie von Anfang
an verzaubert hatten. Die Augen, in denen sie ihre gemeinsamen Kinder gesehen hatte und all die
unzähligen schönen Momente einer Partnerschaft, die das Leben so lebenswert machten. Doch
bevor dieser Moment eintreten konnte, musste Sally sich in der eiskalten Gegenwart dieses
Winterabends der Stalltür nähern und schauen, was dahinter war. Jetzt stand sie direkt vor dem
Eingang und würde gleich das schwere Eisentor beiseite schieben. Sally atmete tief ein und spitzte
die Ohren nach irgendwelchen untypischen Geräuschen. Aber es war immer noch nichts zu hören,
außer das leise Rauschen des Windes im dichten Wald, der das Anwesen umgab. Also fasste sie sich
ein Herz und schob die schwere Tür beiseite. Tiefe Dunkelheit starrte ihr entgegen. Kein Dave, kein
Phil. Kein Radio, das die Pitch Blog Biggy Hoods spielte und sie willkommen hieß in einer warmen
gemütlichen Stube, die sich Kuhstall nannte. Und wo zum Teufel ist noch mal der Lichtschalter?
rätselte Sally. Dann fiel es ihr ein – natürlich, er befand sich linker Hand am Eingang. Sally hatte ein
ungutes Gefühl, als sie Sekunden später mit ihrer Hand ungeschützt in die Dunkelheit fasste, als sie
jedoch den Schalter mehr oder weniger sofort ertasten konnte, fiel ihr ein Stein vom Herzen.
Dummes Mädchen, schalt sie sich. „Du hast einen einzigen, übelriechenden Gehirnpfurz und sonst
gar nichts. Hier ist niemand, hier war niemand und hier wird auch niemand sein!„ Entschlossen
klatschte sie ihre Finger auf das kühle Plastikgehäuse und Abrakadabra Simsalabim: Das Licht
flackerte – zwar ein wenig störrisch, so wie es Energiesparlampen für gewöhnlich taten, aber
immerhin – und ging an. Trotzdem verfluchte Sally in diesem Moment Daves Tick, wo es nur ging,
Kohle einzusparen. Die Lampen waren ja nur ein Teil dieses ach so typischen „Klasse-DaveEinfalls“
gewesen. Aber er hatte ja unbedingt darauf bestanden, damals im Baumarkt in Brokes
Bridge. „Was meinst du Schatz, was die uns für Geld sparen werden!“ Er war er regelrecht
ausgeflippt, als er vor den Lampenregal stand, zwei von den Dingern in den schmutzigen Händen
haltend. „Und außerdem tun wir noch was für unsere Umwelt!“ Sogar jetzt noch konnte sie hören,
wie er das gesagt hatte. Normalerweise hätte sie ihm den Marsch geblasen aber an diesem Tag hatte
Sally einfach keine Lust gehabt, mit ihrem Mann darüber zu diskutieren. Am selben Morgen waren
ihre Tage gekommen und deswegen wollte sie so schnell wie möglich wieder nach Hause. Der erste
Tag war schließlich immer der schlimmste. Da lief das Zeug wie eine frisch gebohrte Ölquelle aus
ihr heraus und der Bauch pumpte sich auf wie der von John Goodman. Ein guter Grund also, um bei
den Energiesparlampen nachzugeben. Und was zur Hölle interessierte es sie, wenn es ein paar
Sekunden länger dauerte, bis das Licht anging – schließlich war Dave doch sehr viel häufiger als sie
im Stall. Tja, in genau diesem Punkt hatte sie sich offensichtlich geirrt: Die Sally im Hier und Jetzt
interessierte sich sehr wohl dafür, dass das Licht schnellstmöglich anging. Es dauerte eine halbe
Ewigkeit, bis der Stall bis auf ein paar dunkle Ecken fast komplett sichtbar wurde. Sally blinzelte,
das grelle Licht brannte im ersten Moment in ihren Augen. Aber als sie sich darauf eingestellt hatte,
war der Stall – leider und wie vorhin schon angenommen – leer. Lediglich in der Box rechts hinten,
etwa einen Steinwurf von ihr entfernt, schabte Thekla mit dem Huf auf dem Boden und muhte
protestierend in ihre Richtung. Alles schien normal. Die Gerätschafen standen in Reih und Glied –
jederzeit bereit zum Einsatz. Darauf legte Dave seit jeher immer schon besonderen Wert, das wusste
Sally. „Auf einem Bauernhof muss alles ordentlich und ohne Probleme an seinem speziellen Platz
zu finden sein. Das erspart unnötig Zeit und Arbeit – wirst schon sehen, Sall“, hatte er gesagt, als er
sie das erste Mal durch den Stall geführt und ihr mit einer Engelsgeduld das ganze Procedere erklärt
hatte. Sie hatte versucht, sich alles möglichst schnell einzuprägen. Aber die Funktion einer Kuh auf
Theoriebasis erklärt zu bekommen und sich eine Stunde später tatsächlich vor einem riesigen, prall
mit Milch gefüllten Euter wiederzufinden, war ein himmelweiter Unterschied, wie sie hatte erfahren
müssen. Nicht den geringsten Tropfen Milch hatte sie aus dem Tier herausbekommen!
Und das ihr, die sie doch mit den Händen ansonsten sehr geschickt war, wie Dave ihr schon seit
Anbeginn ihrer sexuellen Begegnungen immer wieder versichert hatte. Sally schmunzelte bei der
Erinnerung an das Bild, das sie an diesem Tag abgegeben haben musste. Mit hochrotem Kopf auf
einem dreibeinigen Hocker sitzend und um Unterstützung bettelnd hatte sie sich blamiert wie noch
nie zuvor in ihrem Leben. Auch jetzt in diesem Moment schrie alles in ihr, ihn zur Hilfe rufen zu
wollen. Er würde eine Antwort darauf haben, was verdammt noch eins hier nicht in Ordnung war.
Aber sie war alleine. Und er würde nicht kommen. Das war die Tatsache, an der es nichts zu rütteln
gab. Bei dem Gedanken an ihren Mann und die Sorge um ihn machte sich jetzt ein dicker Kloß in
Sallys Hals breit. Sie schluchzte. Die ganze Situation machte ihr Angst. Sie spürte fast körperlich,
dass etwas nicht in Ordnung war. Ja, nicht in Ordnung sein konnte. Trotzdem stand sie immer noch
regungslos in dieser kalten Scheune mit den vielen unübersichtlichen Ecken, die Hände schwitzend
ineinander verschränkt. Immer noch suchend nach Auffälligkeiten. Als ihr Blick Theklas Box
streifte, stellte sie fest, dass die Schiebetür offen war. Das war gewöhnlich nicht so. Dave verschloss
sie nach getaner Arbeit immer, die Kuh war schließlich neugierig genug, um sie in einem
unbeaufsichtigtem Moment zu verlassen. Sally atmete tief durch und bewegte sich langsam, Schritt
für Schritt – die Taschenlampe fest in der Hand und bereit, sie notfalls als Waffe zu benützen – auf
die Box zu. Als sie dort ankam, begrüßte die Kuh sie mit freundlichem Schnauben und scharrte im
Heu, als wäre es völlig normal, in einer unverschlossenen Box zu stehen und nicht abzuhauen. Was
weißt du? Was hast du gesehen?, versuchte Sally das Tier per Gedankenübertragung zu beschwören
aber die Kuh antwortete nicht. Stattdessen tat sie, was eine Kuh nun einmal tat und schleckte ihr
mit einer rosaroten, rauhen Zunge über die Hand. Sally streichelte Thekla in Gedanken versunken.
„Was weißt du, was ich nicht weiß?“, murmelte sie verzweifelt und drückte den Kopf in das Fell des
Tieres. Ein paar Sekunden blieb sie so stehen, dann beschloss sie, den Stall wieder zu verlassen.
Hier würde sie nichts finden. Am allerwenigsten ihren Mann. War das ein gutes Zeichen oder ein
schlechtes? Sie wusste es nicht aber sie würde es herausfinden. Gerade als sie den Rückweg zum
Haus antreten wollte, bemerkte sie etwas. Fast hätte sie es gar nicht gesehen, so klein war es. Mit
gerunzelter Stirn bückte Sally sich und sah genauer hin. Auf dem Boden befand sich ein
münzgroßer, rostbrauner Fleck. Sachte streifte sie mit dem Zeigefinger darüber. Klebrig. Komisch.
Das musste bedeuten, dass der Fleck noch nicht lange da war. Kritisch beäugte Sally ihren rötlich
gefärbten Finger aus der Nähe. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie annehmen, dass
das ……….ja genau, das war doch …Blut! An ihrem Finger befand sich frisches Blut. Mit skeptisch
angehobener Augenbraue a´la Mr. Spock drehte Sally sich zu Thekla um und tastete das Tier mit
geübten Fingern oberflächlich auf Wunden ab. Nichts. Thekla war unverletzt. Aber woher kam dann
das Blut? Ratlos erhob sich Sally und blieb neben dem Tier stehen. Etwas Feuchtes traf sie auf die
Stirn. Sie wischte es gedankenverloren weg. Es war egal, wo der Blutfleck herkam. Wenn Dave
nicht im Stall war und auch nicht im Haus, dann konnte er eigentlich nur noch im alten Schuppen
hinter der Scheune sein, wo er einen Teil seiner Gerätschaften lagerte. Das wäre noch irgendwie
logisch. Wahrscheinlich hatte er einfach länger gebraucht und war noch drüben, um aufzuräumen.
Da konnte man schon einmal die Zeit vergessen. Mit einem Male fiel Sally ein ganzer Steinbruch
vom Herzen. Ja natürlich! Diese Erklärung war doch die Naheliegenste! Wieso war sie nicht sofort
darauf gekommen? Hatte sich hier wie ein kleines ängstliches Mädchen herumgeschlichen und zu
Tode gesorgt! Dabei war gar nichts Schlimmes passiert! Dave war einfach da drüben beim
Aufräumen und alles war gut. Morgen würden sie gemeinsam mit ihren Kindern Weihnachten feiern
und fröhliche Lieder singen. So einfach war das. Wieder klatschte etwas Nasses auf ihre Stirn.
Abermals wischte sie es weg. Thekla muhte und Sally beschloss, gleich zum Schuppen zu eilen.
Wer wusste es schon; vielleicht hatten sie sich ja einfach verpasst und Dave befand sich mittlerweile
sogar im Haus, saß bereits am Tisch und wartete auf sie. Und wenn sie das Haus betrat, würde er
dort sitzen und grinsen, weil sie auf seinen ach so witzigen Joke des Tages hereingefallen war.
Natürlich war es so. Einen Moment hatte sie sich sogar ernsthaft Sorgen gemacht! Wie kindisch!
Mit geübtem Griff machte Sally sich daran, die Stalltür zu verriegeln, als ihr Blick zufällig auf ihren
Handrücken fiel. Dunkelrote Schmieren. Überall auf ihrer Haut verteilt. Angeekelt verharrte sie in
der Bewegung und starrte auf ihre Hand. Was zum Teufel war das? Und als hätte ihr Verstand von
selbst die Instanz zwischen Frage und Antwort übersprungen, folgerte sie sofort und hob ihren
Kopf. Und da hing sie, die blutige Antwort auf alle ihre Fragen: Phil. In einer für einen Wachhund
sehr untypischen Haltung. Aus seiner Stirn ragte etwas Spitzes (wahrscheinlich ein Fleischerhacken
vermute Sally) und seine Haut (und das schöne weiß-braune Fell, das darauf gewachsen war und das
sie so gerne gestreichelt hatte) war fein säuberlich abgezogen worden. Traurig starrte er seine
frühere Besitzerin mit dem Rest, der einmal seine Augen gewesen waren, an. Ich bin tot und du bist
es auch, schienen diese Augen zu kreischen. Sally stieß einen vogelähnlichen, spitzen Schrei des
Entsetzens aus und sprang zurück. Ihr Herz pumpte wie nach einer Dusche mit Eiswasser, etwas (sie
vermutete, es musste das Stückchen Leberkäse sein, das sie vorher probiert hatte) wollte ihre Kehle
hochsteigen, aber sie konnte einfach nicht wegsehen sondern war wie gebannt von dem
grauenhaften Anblick ihres toten Hundes. So etwas hatte sie noch nie gesehen, außer in den
Kettensägenmassakerhorrorfilmen, die Dave sich alle heiligen drei Zeiten mal im Spätprogramm
ansah. Da wusste sie aber immer schon vorher, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Man
musste nur auf die dramatische Musikuntermalung warten, die das Ganze ankündigte. Aber hier in
diesem Stall, in dieser Eiseskälte und völlig auf sich alleine gestellt hatte sie niemand auf diesen
furchtbaren Anblick vorbereitet. Sie war völlig unbescholten hineingetappt in die Falle, die der Irre
(und sie zweifelte jetzt keine Sekunde mehr daran, dass es auf diesem Hof tatsächlich einen Irren
gab!) gestellt hatte. „Oh. Oh. Oh.“, murmelte sie wie eine Schallplatte mit Sprung, dann schoss
bereits bittere Galle durch ihre Kehle nach oben. Bevor sie sich versah, übergab sie sich in einem
Schwall übelriechender Flüssigkeit direkt vor die Kuh. Der Anblick und der Gestank ihrer eigenen
Kotze ließ sie zunächst noch zweimal würgen, nach einigen Sekunden jedoch war das Schicksal
gnädig und ließ sie zitternd verharren. Von irgendwoher kam nun ein jämmerliches Klagen, das sie
zunächst nicht einordnen konnte. Erst, als ihr Körper zu beben und ihre Zähne wie verrückt zu
klappern begannen, wurde ihr klar, dass sie selbst der Urheber dieses Geräusches war. Ohne
Vorwarnung gaben plötzlich ihre Knie nach und sie plumpste wie ein nasser, kraftloser Sack auf den
eiskalten Steinboden. Gott war ihr schlecht. So schlecht war ihr schon lange nicht mehr gewesen.
Immer noch bahnten sich stoßweise Schluchzer aus ihrem Mund, der Rotz lief ihr über das Kinn.
Wer zum Teufel hat das getan? Wer hat das getan?, Diese Frage dröhnte unablässig in ihrem Kopf
während sie immer weiter schluchzte und schützend die Hände vor das Gesicht hielt.
Phil beobachtete das alles mit toten Augen, während er direkt über ihr im kalten Dezemberwind
schaukelte – die letzte Aktivität, die seinem mittlerweile steifen Kadaver noch ein wenig Leben
verlieh. Nach einer Weile (Sally hatte das Gefühl, es wären Stunden, tatsächlich waren es aber nur
einige Minuten gewesen) hatte die Frau unter ihm zwar immer noch keine Antwort auf ihre Frage,
schniefte aber ein paar Mal während sie sich erhob und ihren Rotz gedankenverloren an ihrem Kleid
abwischte. Ohne das tote Tier noch einmal anzusehen, (das musste sie gar nicht, ihr Gehirn hatte das
grauenvolle Bild bereits für immer und ewig abgespeichert und würde es ohne Probleme immer
wieder abrufen können) drehte sie sich um, hastete so schnell wie möglich zum Ausgang und zog
die Stalltür hinter sich zu. Draußen lehnte sie sich an das kühle Holz und holte tief Luft. Das tat gut.
Der wichtigste Job in dieser Situation war, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Zum Glück
verschwand die Übelkeit langsam, nicht aber ihre verqueren Gedanken, die sich ständig im Kreis
drehten und ihr das Gehirn vernebelten. Was ist passiert, wie ist es passiert, warum ist es passiert
und wo ist Dave?, Sally wusste nicht, wie der Hund dort oben hingekommen war und wer ihn
getötet hatte, aber eines war klar: Wer auch immer Phil so grausam umgebracht hatte, musste sich
noch auf dem Gelände befinden. Sie hatte das Tier schließlich noch vor drei Stunden draußen
herumtollen sehen, also konnte es noch gar nicht so lange tot sein! Mein Gott, während du dir in
aller Seelenruhe Zitronenöl an deinem fetten Hintern verrieben hast, hat irgendjemand deinen
Hund abgeschlachtet! Sallys Augen weiteten sich vor Angst, als sich plötzlich eine andere, weitaus
höhere Erkenntnis in ihre Gedanken drängte: Was, wenn sie ihren Mann genauso vorfinden würde?
Aufgespiest wie ein Stück Schaschlik, mit toten Augen und starren Gliedern von der Decke
baumelnd? Dann würde wie von Sinnen kreischen und er würde sie ansehen und sein Blick würde
vorwurfsvoll fragen: Ja, Baby, warum hast du mir nicht geholfen? Warum hast du es nicht
verhindert? Du hast zugelassen, dass er mich geschnappt hat! Du hast nicht aufgepasst Sally. Du
hast nicht aufgepasst! „Nein, nein neiiin!“, schrie Sally und schauderte bei dem Gedanken an Dave
und ihre vermeintliche Schuld an seinem Tod. Das konnte einfach nicht möglich sein. Bestimmt war
es ein verrückter Zufall, dass der Hund zu Schaden gekommen war. Zufall. Ja, das klang gut. Das
redete sie sich immer wieder wie ein Mantra ein, alles andere hätte ihr angeschlagenes
Nervenkostüm überfordert. Trotzdem. Falls – und wirklich nur, falls sie Recht hatte – brauchte sie
unbedingt einen Plan zu ihrem Schutz. Wenn sich hier auf dem Hof wirklich ein Verrückter
herumtrieb, hatte sie nur zwei reelle Chancen: Entweder die Beine in die Hand nehmen und abhauen
oder die Polizei rufen und sich an einem sicheren Ort verstecken. Sallys Gehirn ratterte wie ein mit
Informationen übervoll gefütterter Computer. Variante Abhauen war schlecht umsetzbar. Um sie
herum lag meterhoch Schnee und es schneite immer weiter. Außerdem wurde es Nacht und was
konnte sie im Wald alleine schon tun, außer binnen kürzester Zeit zu erfrieren? Das Auto konnte sie
nicht benutzen, weil die Hofeinfahrt nicht geräumt war (dafür bedankte sie sich in Gedanken bei
sich selbst. Diese verfluchte Faulheit, sich immer auf andere zu verlassen, brachte sie jetzt in diese
lebensgefährliche Situation) und der alte Kombi unter einer schweren weißen Schneeschicht
begraben. Alles sprach also gegen eine überstürzte Flucht. Also Variante zwei: Die Polizei rufen und
auf Hilfe hoffen. Das Telefon befand sich in der Diele im Haus. Doch um dorthin zu gelangen,
musste sie aber noch einmal den Hof überqueren, ungeschützt und sichtbar für jeden Verrückten, der
sie womöglich jetzt schon beobachtete. Sally kaute auf ihrer Unterlippe bis sie blutete, ohne es zu
bemerken. Für eine Möglichkeit musste sie sich entscheiden.