Exposé
Elisabeth „Elli“ Seemeyer lebt in einem Seniorenstift und als Rechtsmedizinerin in Rente
langweilt sie sich zeitweilig enorm, bis ein ungewöhnlicher Unfalltod in Interesse weckt. Ein
Opa ist in einer Mostpresse ums Leben gekommen und Polizei und Heimleitung werten dies
als Unfalltod. Elli beginnt mit ihren Ermittlungen und bedient sich hierbei des „Potentials, das
ruht, schläft und in Windeln scheißt“. Ihre Mitbewohner werden ihr Ermittlerteam und helfen
ihr auf der Suche nach einem Mörder. Ihr immer noch wacher Verstand und die forschende
Neugierde lassen sie schnell zu dem Schluss kommen, dass bei dem Tod nachgeholfen werden
musste, auch wenn sie mit dieser Meinung alleine steht. Natürlich stößt sie hiermit nicht
immer auf Gegenliebe und muss sich durchsetzten, um ihre Ziele zu erreichen. Auf ihrer Suche
nach dem Verbrecher muss sie gegen den Alltag eines Altersheimes, gemeine Schwestern und
umtriebige Demenzkranke, die mit Krücken und Bettpfannen um sich schmeißen, kämpfen.
Immer an Elli’s Seite ist Marga, ihre beste Freundin. Die alte Dame ist mit Elli oft nicht einer
Meinung, aber das bringt immer noch mehr Schwung in Elli’s Leben, als der Schachklub im
Altersheim. Und in diesem Alter muss man nicht immer einer Meinung sein, auch wenn das
schon sehr bequem ist.
Elli lässt sich nicht beirren und kramt ihre letzten tauglichen Gehirnzellen zusammen, um den
Täter zu fassen. So schlecht geht es ihr ja auch nicht.
Nach einem weiteren tödlichen Unfall im Obstgarten des Heimes nimmt Elli Fahrt auf. Sie
lässt nicht locker, folgt ihren Instinkten und ein paar wenigen Indizien. Die Spur führt zu
einem Anwalt, der das Familiengeheimnis des Opfers nicht preisgeben darf. Doch mit einer
List und etwas Glück können die beiden Frauen auch dieses lüften. Bei ihren Ermittlungen
erhalten sie weitere Hilfe von Karl Kastner, der den beiden Damen beim Einbruch in das Büro
der Heimleitung behilflich ist, um zu erfahren, woher der Mörder seine Informationen haben
könnte.
Ein weitere schrecklicher Unfalltod lässt das Heim erschüttern, der aber als solcher nicht mehr
zu werten ist. Das sieht dann auch die Polizei ein wenig ein, doch steht sie erst am Anfang und
Elli will ihnen nur bedingt helfen. Elli ermittelt weiter, muss sich gegen Heiminsassen
durchsetzten und gerät dem Mörder gefährlich nahe. Ein weiterer Anschlag bringt den nötigen
letzten Hinweis und schließlich gelingt es Elli den Täter zu entlarven, den sie sich gleich mal
mit einer Bettpfanne vom Leibe halten muss. Doch ist der alte demente Heinrich Kohler nicht
der wahre Täter, wie Elli schließlich erfährt. Dahinter steckt Thomas Schmidt, der den alten
Kohler nur als Werkzeug benutzt hatte. Elli kann mit Hilfe von Karl Kastner die Täter
überwältigen und der verdutzten Polizei übergeben.
Leseprobe
1. Der Mord in der Apfelpresse
Leise summte der Motor, als sich der schwere Kolben herabsenkte und seine Stimme seltsam
fremd durch den gekachelten Raum hallte. Er sah sich um und die vertrauten Gerätschaften
ließen ihn leise wimmern. Er wollte noch nicht sterben, nicht so, verdammt noch mal. Er rief
um Hilfe. Doch seine Rufe würde niemand hören, dachte er bei sich. Er versuchte sich aus
seiner Lage zu befreien, hatte aber keine Chance. Der Kolben presste sich jetzt unangenehm
auf seine Brust. Es roch intensiv nach frischem Apfelsaft und Justus Ernst bekam ein paar
Spritzer frischen Saftes in den Mund. Verblüfft schmeckte er und konnte einen Hauch Birne
erschmecken. Darüber vergass er seine Lage. Da hat doch nicht der alte Gruber wieder die
vergammelten Birnen mit reingetan? Dieser verdammte Hund. Schon immer wollte der den
guten säuerlichen Saft mit seinen süßen Birn’ versaun. Hatte er es dieses Mal also geschafft.
Sauhund, elendiger. Wütend schlug er mit seiner flachen Hand gegen das Metall. Aber wozu
machte er sich jetzt noch Gedanken darüber. Er hatte ganz andere Probleme. Oder schon bald
nicht mehr. Tränen rannen seine Wangen herab und er fing leise an zu beten. Er fühlte das
Gewicht auf seinem nassen Brustkorb und wusste, dass es nun zu Ende gehen würde.
„Herrgottzeitendunnerwetternochamal,“ rief der kleine Polizist zornig. „Was issn des für eine
Sauerei“ Vor ihm lag ein alten Mann in der Apfelpresse, aus der normalerweise herrlicher Saft
lief. Der Körper hing mit dem Gesicht nach oben über einem kleinen Turm aus gestapelten
Brettern mit den vollen Maischetüchern dazwischen. Die Presse hatte ganze Arbeit geleistet.
Der Brustkorb des Alten war zerdrückt und etwas Blut war aus dem Mundwinkel des Opfers
gesickert. Die Presse war danach wohl wieder automatisch in die Ausgangsposition gefahren.
Er konnte seinen Blick nur schwer von dem Körper abwenden, was vor wohl an der
Perspektive lag. Er war ein kleiner Mann, hart an der Grenze zur Kleinwüchsigkeit, und so
hatte er das Unglück quasi direkt vor der Nase. Bichler’s Blick richtete sich auf die
durchsichtigen Bottiche, die erhöht auf einem Regal standen. Dort wurde der Saft
zwischengelagert, bevor er gekocht wurde. Eines der Plastikgefäße schimmerte rötlich, oder
bildete er sich das nur ein? Verflucht noch eins. Er sah erschrocken zurück zu dem armen
Mann, der sein Leben auf so unwürdige Weise verlassen musste. Langsam ging er um die Presse
herum, peinlich darauf bedacht nirgendwo mit seinen sauberen Schuhen anzustoßen oder
hineinzutreten. Er sah nur das Blut aus dem Mundwinkel des Opfers, sonst sah er nirgendwo
Blut. Angst breitete sich in Bichler aus. Das Alter war voller rätselhafter und erschreckender
Begebenheiten und Bichler verstand keine Einzige davon. Wie zum Henker kam dieser alte
Mann in so eine Situation?
„Horn, wo sind sie?“ rief er barsch, innerliche immer noch etwas aufgewühlt.
Sein junger Kollege, der 1,84m groß Hans Horn, drehte sich mit einem Klemmbrett in der
Hand zu ihm um. Mit hellen Augen sah der neugierig auf seinen Vorgesetzten herunter. „Ja,
Chef,“ sagte Horn, mit Betonung auf dem Chef, in der Hoffnung den kleinen Mann zufrieden
zu stellen.
„Horn, welche Spuren gibt es?“ fragte der schroff. Soll der Horn gleich wissen, wer hier die
Hosen anhatte.
„Äh, so gut wie keine auffälligen,“ sagte Horn eifrig. „Es sieht so aus, als hätte der Mann dort
die Türe aufgesperrt und dann hier gearbeitet. Mehr lässt sich aus den Spuren im Moment
noch nicht sagen.“
„Sauerei,“ sagte Bichler nochmals, leise wie zu sich selbst. Wie er dieses ganze Thema mit dem
Tod hasste. Warum nicht ein netter kleiner Einbruch, der war schnell und einfach zu
bearbeiten. Sein Magen knurrte. Ja, prima, und Hunger hatte er jetzt auch noch.
„Ja, eine ganz schöne Schweinerei. Äh, eine Frage. Was genau ist das hier für eine Anlage?“ Der
junge Mann sah lebhaft zu seinem kleinen Vorgesetzten hinunter. Bei der Frage nach der
Anlage richtete er seine kleine Brille zurecht, als schien es ihm peinlich danach zu fragen.
Bichler sah skeptisch zu ihm hinauf. Dieser preußische Stadtmensch hatte ihm gerade noch
gefehlt. Er konnte es sich beim besten Willen nicht erklären, warum dieser Kerl ausgerechnet
zu ihm in den Landkreis wollte.
„Kennt ihr wohl gar nix bei Euch? Des ist eine Entsaftungsanlage. Hier,“ er deutet auf einen
Schacht neben der Presse,“ kommen die Äpfel rein. Dort werden sie gewaschn und dann
automatisch in diese Häckselmaschine gesaugt.“ Er deutet auf das Gerät oberhalb. „Dann
kommen die zerhacktn Äpfel in diese Anlage.“ Er deutete auf die Presse. „Hier wird ein
Metallrahmen mit einem groben Tuch versehn, die Maische kommt darauf, das Tuch wird
eingeschlagn, ein Brett darüber und die nächste Schicht. Immer so weiter und dann kommt
von oben der Druck über die Presse, in der unser Opfer jetzt steckt. Der Saft wird unten
aufgefangn, in einen Heizkessel geleitet und anschließend gekocht.“ Lehrerhaft hob er den
Zeigefinger. „Naturtrüber Apfelsaft oder auch Most genannt hält sich ein gutes Jahr lang frisch.
Je nach Abfüllart auch gern mal 2 Jahre. Nach dem Kochen wird er in Glasflaschen,
Platsikbeutel oder andere Gefäße abgefüllt. Eine saubere Sache, gesund und gut. Gibts des bei
Euch nicht?“ Seine kleinen Augen blickten streng nach oben.
Horn schüttelte den Kopf.
„Und da kann jeder seinen Saft selber machen?“ fragte Horn nach. Bichler nickte und ein wenig
Stolz klang in seiner Stimme mit. „Hier bei uns können sich die Leute anmeldn und bringen
dann ihr eigenes Obst mit. Das hat lange Tradition. Und zum Glück gibt es immer mehr, die
das auch wieder zu schätzen wissen.“
„Woher könnte ich jetzt als Beispiel Obst bekommen?“ fragte Horn weiter. Fast schien es als
würde er gern einen Termin zum Mosten machen wollen.
„Naja, da fragn sie einfach einen Bauern oder sie schaun in den diversen Kleinanzeigen nach.“
Bichler wurde es langsam zu bunt. „Oftmals verschenkn manche Bauern Obst zum selber
pflückn.“
„Kolossales System hier,“ meinte Horn bewundernd, denn er wusste, dass Bichler stolz auf
seine Herkunft war. Ein wenig gutes Wetter machen konnte sicherlich nicht schaden.
„Und jetzt wieder hier. Wer iss der Kerl?“ raunzte Bichler.
„Äh, das Opfer heißt Justus Ernst. Der Notarzt hat schon den Tod festgestellt, musste dann
aber wieder weiter. Der Hausarzt ist unterwegs, wegen der Leichenschau.“
„Wer hat denn den angrufn?“
Horn räusperte sich. „Äh, das war dann wohl ich.“
„Ganz eigenständig? Obwohl sie erst die zweite Woche im Dienst bei uns und mit einem
Vorgesetzten an einem Unfallort sind?“ Bichler wurde langsam sauer.
Horn wurde etwas rot. „Äh ja, die Vorschrift will es doch so, oder?“
Bichler war sauer, denn nichts hasste er so sehr wie übergangen zu werden. Am liebsten wollte
er dem junge Kerl eine Ordentliche verpassen, aber er wagte es nicht. Er konnte Horn noch
nicht einschätzen und wusste nicht wie weit er gehen würde. Bichler konnte sich nicht mehr
viel leisten. Seine Leistungen waren nicht die, die seine Vorgesetzten sehen wollten. So
versuchte er den Wutknödel in seinem Hals herunterzuschlucken und lieber an seiner
schlechten Leistung zu arbeiten.
„Scho Recht. Zeugn?“ fragte er betont freundlich.
„Wie meinen?“
„Ob‘s Zeugn gehm hat?“ fragte Bichler einen Tonfall lauter.
Horn räusperte sich und sagte:“ Nein, es hat keine Zeugen gegeben. Auch keine
Überwachungskameras.“
Bichler sah ihn irritiert an.
„Glaum sie wohl, dass in dera kleina Mosterei a Überwachungskamera gehm hat?“ Vor lauter
Verblüffung vergass sich Bichler im Hochdeutschen.
„Äh, ich weiß es nicht, aber offensichtlich gab es die ja nicht.“ Horn versuchte ein vages
Lächeln. Er konnte die Aufregung des kleinen Mannes nicht verstehen, wollte es sich aber
nicht mit seinem Vorgesetzten verscherzen.
„Herrgottzeiten, ich versteh immer nu ned, warum ausgrechnet sie zu uns her wolltn.“
„Franken hat eine bestechende Landschaft,“ sagte Horn wie so oft und lächelte verhalten.
„Ja, ja. Woher kommt der den eigentlich?“ fragte Bichler gereizt und deutete auf den toten
Mann in der Saftpresse. Er hatte genug und wollte in sein gemütliches Büro zurück.
„Aus dem nahen Stift, wie es sich nennt, dem Altenheim. Identifiziert wurde er durch seinen
Personalausweis und seinen Heimausweis, den er in seinem Geldbeutel hatte.“
Bichler brummt ein wenig und gab Horn ein Zeichen. Wortlos reichte der das Klemmbrett
nach unten weiter.
„76 Jahr alt? Wie kommt na der in die Presse so nei, dass es ihn umbringt?“
„Meiner Meinung nach handelt es sich um einen tödlichen Zufall von tragischen Umständen.“
Bichler blinzelte nach oben.
„Ein was?“
Horn sah nach unten.
„Ein Unfall.“
„Ah so. Ja, des kennt hie kumma.“ Er besah sich die Leiche genauer, trat aber keinen Schritt
näher.
Draußen bremste ein Auto harsch ab. Türen gingen und bald standen die Drei von der Spusi
vor ihnen.
„Servus, was hammer denn da?“ fragte Fritz Lechner, einer von den Spusi-Leuten.
„Was wollt denn ihr da?“ fragte Bichler.
Horn wurde etwas rot um die Ohren.
„Wir sind grufen wordn wegen einem ungeklärten Unfall in einer Mosterei,“ sagte der Lechner.
„Von wem?“ fragte Bichler.
Horn räusperte sich. „Äh, von mir. Verzeihung.“
Bichler schickte einen giftigen Blick zu Horn und sagte dann:“Is scho recht. Des war ein
Unfall. Mehr nicht. Schauts euch aber ruhig um.“
„Und was gibts?“ fragte Lechner nach.
„An totn Opa. Der ist anscheinend von dera Saftpressn da zerquetscht wordn.“
„Des gibt Apfelmus a ganz neue Bedeutung,“ witzelte der Lechner affektiert.
„Du und dane blede Witz. Lass dei halt a amal geh,“ fauchte der Bichler zurück. Er musste hier
die Ordnung wahren, schließlich war er der Verantwortliche. Er massierte sich die Schläfe mit
einem kleinen dicken Finger. Wie gern wäre er jetzt an einem schönen und friedlichen Ort.
„Scho goud. Mach amal Platz das i zu dem Opa hi kun,“ gab der Lechner beleidigt zurück.
Eine Stunde später hatte die Spusi 25 verschiedene Fingerabdrücke gesammelt, fünf
Gummistiefelabdrücke und jede Menge Haare und Kleidungsfasern.
„Bichler, wir gehn etzatla. Des Zeug untersuchmer im Labor und sagen Dir dann bescheid.
Aber des schaut nach an ganz bleedn Unfall aus und des werd wahrscheinli a rauskumma.“
„Dadrauf wär ich ja selber im Leben nie kumma. Ja scho Recht, dange und tschüß,“ sagte
Bichler bissig und drehte sich dann zu Horn um. Er winkte ihn zu sich heran.
„Keinen einzigen Schritt mehr ohne vorher meine Einwilligung einzuholn, klar?“ zischte er
zwischen den Zähnen zu Horn hinauf. Der sah brüskiert zu Bichler hinunter und nickte.
Der Bichler nickte und sah einen Mann, der auf die Mosterei zukam.
„Guten Tag, mein Name ist Dr. Schwarz und ich soll eine Leichenschau durchführen?“
Bichler nickte. „Gehts gleich?“ fragte er barsch.
Der Arzt riß die Augen auf. „Jetzt und hier?“ fragte er und sah die Menschen, die in der Nähe
immer wieder in die Mosterei blickten.
Bichler nickte.
„Nein, das geht nicht. Ich habe gleich einen Termin im Stift und danach wieder Praxis.“
Bichler grummelte.
Der Arzt dachte nach. „Muss ich das denn machen? Muss der nicht in die Gerichtsmedizin?“
Bichler verzog seinen Mund zu einer Art Lächeln.
„Ja, das muss so zeitnah wie möglich gschehn und da sie das Opfer als Hausarzt am Besten
kannt ham, sind Sie genau der Richtige dafür. Nein, er muss ned in die Gerichtsmedizin, da ja
ka Verbrechen vorliegt. Für mich sieht das nach an Unfall aus, mehr ned. Solltn Sie allerdings
Hinweise auf ein Verbrechen findn, sind sie verpflichtet, das zu meldn.“
Der Arzt wirkte immer mürrischer.
„Gut, dann werde ich die Leicheschau heute abend machen, im Bestattungsunternehmen.
Wenns Recht ist,“ fügte er noch forsch hinzu. Hier zeigte Bichler sein dickes Fell.
„Wunderbar. Horn, rufen sie das Bestattungsunternehmen an. Danach informiere ich die
Heimleitung und dann machen wir Feierabend.“
2. Kapitel
„Gib mer bitt’ schön mal a paar Gleis her,“ sagte die Babette Stramm über den Tisch. Alle
Augen schnellten zu der kleinen zerknautschten Oma, die jedoch stolz den verhunzelten Kopf
hob und unnachgiebig ihren Teller Richtung Schüssel hinstreckte.
„Des hast Knidli,“ gab die Dorsch Lina am anderen Ende des Tisches schroff zurück.
„Gleis,“ beharrte die Stramm und wedelte auffordernd mit dem Teller, so dass kleine
Soßentröpfchen herumschossen.
„Knidli,“ kam es zischend von der Dorsch zurück.
„Gleis.“
„Knidli!“
„Gleis!!“ Die Augen der Zuhörer flogen hin und her. Dann erhob sich ein adrett gekleideter
älterer Herr, der immer sehr sauber roch. Oberschulrat Kreisl.
„Meine Damen, meine Damen,“ sagte er mit beschwichtigenden Gesten seiner knochigen
Hände. „Sagen sie doch einfach Klöße oder Knödel, dann versteht es jeder.“ Er sah sich
beifallsheischend in der Runde um und setzte sich wieder, als niemand etwas sagte. Das ließen
sich die „Damen“ nicht gefallen.
„Immer dei studierten Klugscheißer. Mir sin in Frankn und in Frankn hassen die Klöße Gleis,“
maulte die Stramm zu ihm hin.
„Na, Knidli.“
„Herrgottzeitendunnerwetter! Gleis.“ Jetzt war die Stramm aufgeschnellt, so schnell es eben
noch ging, und hatte sich die Schüssel mit den Röstknödeln geschnappt. Mit einem
Siegeslächeln tat sie sich von dem Gericht auf und stellte die Schüssel mit einem lauten Knall
wieder auf den Tisch, so dass die Röstknödel darin fröhlich hüpften. Angespanntes Schweigen
erhob sich und nur das Klappern der Bestecke durchbrach die, auf eine Fortsetzung hoffende,
Atmosphäre.
Sie sassen beim Abendessen und hatten die Reste des Mittagessen vor sich stehen, geröstete
Knödel, um die sich die Stramm und die Dorsch mal wieder in die Haare bekommen hatten.
Soweit nichts wirklich Neues. Elli hatte den verbalen Austausch amüsiert verfolgt und
überlegte, wie sie die Stimmung wieder anheizen konnte.
„Ah, eine neues Wort: gekochte Erdäpfelteigmasse mit Röstbrotfüllung,“ sagte sie laut in die
Stille hinein.
Die Augen der Stramm und der Dorsch traten leicht aus ihren Köpfen, sie sahen sich an und
beide murmelten Worte wie „Gleis“ oder auch „Knidla“ und sie beugten sich ohne ein weiteres
Wort über ihre Teller. Elli sah gespannt, ob sie die Diskussion wiederbelebt hatte, wurde aber
enttäuscht.
Marga neben ihr kicherte und stieß sie leicht in die Seite. „Lass halt dei alten Schabracken
gehn,“ sagte sie.
Elli zuckte mit den Achseln. „Wenn die sich dauernd wegen einer so kleinen Sache in den
Haaren liegen müssen und das auch noch öffentlich, dann ist es mein gutes Recht
mitzumischen,“ sagte sie und grinste.
„Des gleiche Wort isses ja ned ganz,“ versuchte Marga zu erklären.
„Aber der gleiche Inhalt. Es geht um Knödel, schon seit immer. Und nur weil die eine in einem
anderen dialektischen Gebiet groß geworden ist wie die andere, muss es doch deswegen nicht
immer den gleichen Streit geben.“
„Elli, des iss ka Streit. Des is liebevolles ärgern. Des iss hald so üblich bei uns aufm Land.“
„Völlig an der Realität vorbei. Dabei könnten sie sich doch einfach mal sagen, dass sie sich
mögen, anstatt uns anderen immer diesen Schmuh aubinden zu wollen,“ meinte Elli amüsiert.
Marga sah sie an und lächelte. „Des ham die halt ned anders kennen gelernt. So drückt mer halt
aus, dass ma sich mog, bei uns auf dem Land.“
Elli sah sie aus empörten Augen an. „Dann sind ja Deutschland und Frankreich die besten
Freunde. Wirklich Marga? Oder mögen die beiden sich einfach nicht und lassen das bei jeder
Gelegenheit raus? Ganz schön oberflächlich und ohne Verstand.“ Und ihre Augen zwinkerten.
„Ja, wer iss in unserm Alter und ausgerechnet hier noch mit Verstand und tiefsinniger als ein
Philosoph?“ fragte Marga leise.
Elli sah Marga liebevoll an. „Eine noch immer.“
Sie saßen im Speisesaal des Altersstifts „Maria Magdalena“ im ersten Stock. Hier waren nur 25
Personen im Saal, denn in jedem Stockwerk gab es einen eigenen Speisesaal. Die Küche wurde
von einem gemütlichen Koch betrieben, der von einer Landwirtschaft stammt und daher kam
oft gutbürgerliches auf den Tisch, das auch gern als Resteessen wieder geboren wurde. Der
Speisesaal war hübsch und hell, allerdings störten die unmotivierten Pflegekräfte und die oft
nur mühsam Deutsch sprechenden Helfer. Elli hasste das Heim und wie es geführt wurde. Sie
hatte das Gefühl geistig einzugehen, wie eine Pflanze ohne genügend Wasser. Daher hatte sie
heimlich einige Anstrengungen unternommen, um diese Misere zu verbessern. Und sie freute
sich diebisch, denn sie wusste, dass der Tage kommen würde, wo ihre Anstrengungen Früchte
tragen würde. Früchte, an denen sie sich ausgiebig laben würde.
Elli sah aus dem Augenwinkel zwei gebeugte Gestalten am Speisesaal vorbeigehen. Tränen
floßen aus den Augen der Frau. Der Mann an ihrer Seite stütze sie vorsichtig. Dahinter kam
Schwester Anna.
„Marga, wer sind denn diese beiden?“ fragte Elli beiläufig ihre Freundin Marga.
Die drehte sich leicht in ihrem Rollstuhl und sah hin. Dann beugte sie sich flüsternd zu Elli
hin, so weit sie konnte:“Des ist eine Tochter vom Justus Ernst und ihr Mann. Der ist doch heut
gstorm. Wasst Du des no net?“
„Nein,“ sagte Elli und folgte mit ihrem Blick dem Paar. Der Tod ging ein und aus in diesem
Haus und schreckte sie schon lange nicht mehr. „Wie ist das denn passiert? Herzinfarkt oder
Schlaganfall?“ fragte sie nebenbei und nahm sich noch Soße.
„Saftpresse,“ sagte Marga und schob sich eine gabelvoll Knödel in den Mund.
Elli drehte sich verblüfft zu ihr um und kleckste Sauce auf die Tischdecke.
„Saftpresse?“
Marga nickte kauend.
„Und des sagst Du mir erst jetzt?“ Elli war plötzlich hellwach. Ein Unfalltod, wie aufregend.
„Naja, Du hast erst jetzt gfragt,“ sagte Marga mit halbvollem Mund.
„Ja, aber da hab ich auch noch nicht gewusst, dass etwas passiert ist. Wie ist denn sowas
passiert? Kann sowas überhaupt passieren? In einer Saftpresse? Und wo ist das passiert? Etwa
Heute? Du musst mir alles genau erzählen!“ Elli sah Marga an, als würde sie sie schütteln
wollen, dass nur ja alle Informationen aus dem marodierten Gehirn fielen.
„Also,“ sagte Marga und schluckte ihren Bissen runter. „Die Bickl hat ihn in der Saftpresse vo
der Mosterei gfundn und hat die Polizei grufn. Naja, i denk, dass dei vo an Unfall ausgehn.
Zerquetscht isser worn.“
„Zerquetscht? Wie das denn? Und von Was?“ Elli wollte alles wissen.
„Keine Ahnung wei des war. Man hört ja nix mehr. Die Polizei war schon im Haus, hat aber
blouß mit der Sauer gred. Dei werdn scho rausfindn was passiert is.“ Margarete war früher mal
bei der Polizei im Archiv beschäftigt und kannte sich ein wenig mit dem Polizeizeug aus, was
sie bei jedem Krimiabend im Gemeinschaftsraum unter Beweis stellen wollte.
„Wer ist der Ermittler?“ fragte Elli jetzt. In Gedanken ging sie aber schon in die kleine
Mosterei im Ort. Justus Ernst hatte sich ehrenamtlich mit einigen anderen darum gekümmert.
„Wahrscheinlich des Zwergerl,“ meinte Marga
„Welches Zwergerl?“ fragte Elli stutzig.
„Der Bichler, der a weng zu kurz gradn is.“
„Kennst Du den?“
„Ja, der war nu in der Ausbildung, als i dou nu gerberd hob. Etz iss der Polizeimeister und bei
uns in der Gegend. Taugt aber nix, wei freiher a.“
„Der wird doch in alle Richtungen ermitteln oder?“ Elli hoffte auf ein Nein.
„Nur auf Unfall, schätz ich,“ sagte Marga und Elli grinste.
„Und mehr nicht?“ fragte sie schon fast vorsichtig.
Marga sah Elli scharf an.
„Warum? Mehr wars ja a ned. A blöder Unfall.“
„Aber schon sehr seltsam.“ Ellis Herz machte eine kleinen Satz. Vielleicht würde es hier
endlich mal wieder etwas Vernünftiges zu tun geben.
Marga schüttelte den Kopf. „Solche Unfälle siehst jeden Tag. Die Leid san manchmal einfach
blöd und sterbn. So ist des eben.“ Marga sah nüchtern aus und hob mit ihrer Gabel ein weiteres
Stück Knödel in den Mund. Elli konnte nichts mehr essen. Ihr Gehirn, zumindest der Rest der
in diesen alten Tagen noch übrig und funktionstüchtig war, schwirrte. Fragen über Fragen
schossen ihr in den Kopf und auf keine wusste sie eine befriedigende Antwort. Bis jetzt.
„Hast Du denn gekannt, den Justus?“ Elli war jetzt ganz in ihrem Element. Fakten sammeln.
„A weng. Des war mal a Ingenieur oder sowas und hat für die Bahn gerbert. Hat drei Kinder,
aber nur noch zu zwei so richtig an Kontakt.“
„Wieso nur zu zweien?“ fragte sie weiter. Kein Detail war wertlos.
„Zum ersten Sohn hat er kan Kontakt mehr. Der kommt nur zu Weihnachten vielleicht amal.
Familie halt, da gibst doch immer was.“
Elli nickte und dachte an ihre eigene Familie. Ihre Tochter wohnte in Irland und hin und
wieder kam sie zu Besuch oder Elli flog hin. Aber im letzten Jahr war es doch schon sehr
anstrengend gewesen mit der Reise und sie hatte für sich beschlossen nicht mehr hin zu
fliegen. Zumal sie gemerkt hatte, dass es die räumliche Distanz immer schwerer machte wieder
zu gehen oder sie gehen zu lassen. Elli wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als Marga sie
mit dem Ellenbogen anstuppste.
Ein füllige Person betrat den Essbereich der Gruppe. Jeder kannte die weinerliche Matrone,
Christa Sauer, die ihr Todesschiff leitete. Neben ihr stand eine zähe Schwester mit einem
strengen Dutt, aber freundlichen Augen. Schwester Anna, die eine Hospitzweiterbildung hatte
und im Sterbefall für die Bewohner als Ansprechpartnerin fungierte.
„Meine lieben Bewohner des Stiftes Maria Magdalena,“ ertönte nun die breiige Stimme der
Heimleitung. „Ich würde gerne zwei Ankündigungen machen.“ Sie sah nach Aufmerksamkeit
heischend in die Runde und ihre großen Augen blickten jeden einzeln an.
„Gibts wohl wieder eine Woche Kohl, weil die alte Müllerin heimlich wieder bloß an Kohl
bestellt hat?“ flüsterte Marga leise zu Elli hin. Die alte Müllerin war dafür berüchtigt in die
Küche zu schleichen und die Bestellformulare zu verändern. Keiner hatte bis jetzt so richtig
herausgefunden wie sie das anstellte. Elli lächelte und sah weiterhin zu den kleinen Augen, die
unablässig den Raum absuchten, wie Schmeißfliegen auf der Suche nach einem Stück totem
Fleisch.
„Die erste Ankündigung. Unser geliebtes Seniorenstift wird nicht länger unter der Flagge der
Seniorenstiftsvereinigung Nürnberger Land fahren. Die Universität Erlangen-Nürnberg will
hier in unserem Stift ein Zentrum für gerontologische Forschung mit dem Hauptaugenmerk
auf das Leben in einem Heim im ländlichen Bereich einrichten und wird die bisherigen
Strukturen erneuern und verbessern.“
Ein Sturm an Getuschel schwoll so stark an, dass Elli ihre eigenen Gedanken kaum verstehen
konnte. Aber das brauchte sie auch nicht. Zufrieden lächelte sie, sie wusste was das zu
bedeuten hatte. Ihre trommelartigen Anrufe bei ihren Kollegen von früher hatten ihre
Wirkung nicht verfehlt und jetzt würde sie mit offenem Mund unter dem Baum stehen, dessen
Früchte sie so sehr ersehnt hatte.
„Meine lieben Bewohner. Die Forschungseinrichtung wird voraussichtlich ab dem ersten
Oktober offiziell beginnen, allerdings werden schon im Vorfeld erste Befragungen und
Veränderungen vorgenommen. Wer kein Teil der Forschungsarbeit werden will, ist in keinster
Weise dazu verpflichtet. Mehr Informationen wird es morgen Abend geben. Das
Forschungsteam kommt uns besuchen und erläutert uns genau die Veränderungen, die im
Heim, mit der Organisation und den ganzen Tagesabläufen einhergehen.“
Schwirrendes Gemurmel rauschte das Zimmer hinauf und wieder hinunter. Die Sauer wedelte
beruhigend mit den Händen und nach und nach beruhigte sich das Geplapper.
„Die zweite Nachricht ist von weniger erfreulicher Natur. Unser allseits geliebter Justus Ernst
hat uns auf tragische Weise verlassen müssen. Er wurde in der Mosterei in der Saftpresse
entdeckt und ist auch dort verstorben. Die Polizei ermitteln nun die Umstände, geht aber im
Moment von einem Unfall aus. Wahrscheinlich hat er noch etwas kontrollieren wollen, als die
Presse schon in Betrieb war, und ist nicht mehr rausgekommen.“
Marga sah wissend zu Elli hin und nickte.
„Bitte halten sie sich zur Verfügung, wenn Ihnen die Polizei Fragen stellen möchte. Wir vom
Team bedauern diesen Verlust zu tiefst und wünschen der Familie und Freunden viel Kraft für
die nächste Zeit. Falls Sie noch Fragen haben, können Sie sich gern während der
Bürosprechzeiten an mich wenden. Schwester Anna steht ebenfalls bei Fragen zur Verfügung.“
Die Sauer war fertig und rauschte ab. Aufgeregtes Tuscheln begann sofort an den Tischen.
„Eine Forschungseinrichtung?“ fragte Marga. Elli nickte wissend.
„Ob des was Besser macht?“ fragte Marga erneut und klang zweifelnd. Elli sah sie an und
dachte darüber nach. Vielleicht war es besser sich einzumischen und das ganze aktiv mit
zugestalten, als Ansprechpartner vor Ort oder etwas in der Art. Ja, es war sicherlich der bessere
Weg hier auch kräftig mitzumischen. Sie machte sich in Gedanken eine Notiz und hoffte
inständig, dass sie nicht wie so viele davor verloren ging, in den unendlichen Weiten ihres
Gedächtnisses.
„Vielleicht können wir mal mitbestimmen, wie die Dinge hier laufen,“ meinte Elli und
zwinkerte Marga zu.
Marga sah sie erstaunt an, aber Elli schüttelte den Kopf und flüsterte:“Später.“
Marga nickte und sah auf ihren Teller, der nun leer vor ihr stand. Dann wandte sie sich wieder
an Elli.
„Siehst, Unfalltod,“ meinte sie ruhig zu Elli.
„Ja, ein Unfall,“ sagte diese langsam, auf ihrer Lippe kauend, wie immer wenn sie bestimmte
Gedanken nicht losließen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie dieser Unfall
tatsächlich stattgefunden haben könnte. Keine ihrer Gedankenexperimente ging auf. Die
Version, in der die Presse lief, dem Justus etwas heruntergefallen und in die Presse geflogen
war, er darauhin schnell hineingriff und nicht mehr herauskam war schon recht plausibel, aber
das hatte nicht unbedingt seinen Tod zur Folge. Nur einen zerquetschten Arm, vielleicht noch
die Schulter, wenn es hoch kam. Andere Gedankenspiele gingen ähnlich aus. Keines hatte den
Tod durch Zerquetschen zur Folge. Der einzige plausible Hergang war, dass sich Justus selbst
in die Maschine begeben hatte. Es würde nichts helfen. Sie musste in die Mosterei und sich
den Tatort näher betrachten. Ihre Kollegen würden sie später anrufen, dies hatte Priorität.
Und dann noch die Bickl Lina befragen. Die würde wie jeden Abend im Fernsehzimmer sein.
Da hatte sie also noch Zeit.
„Die Polizei wird sich da ned täuschn,“ unterbrach Marga nun ihre Gedanken. Elli sah in das
schwach ängstliche Gesicht ihrer lieben guten Freundin. Marga hatte mit Ängsten zu kämpfen,
die es für andere nicht gab. Doch Elli konnte da jetzt keine Rücksicht nehmen. Hier war etwas
faul, dass sagte ihr jedes Härchen auf ihrem Körper.
„Und der unfähige Polizist?“ fragte Elli nach, doch in Gedanken war sie schon weiter. Wie
würde sie an den Schlüssel für die Mosterei kommen können. Wahrscheinlich waren alle
Schlüssel konfisziert. Und einbrechen würde sie nur im Notfall. Notfall. Bei diesem Wort
flackerte etwas auf in ihren Gedächtnis, etwas dass sie weiterbringen könnte, das spürte sie.
Wenn sie es nur denken könnte, doch es verbarg sich hinter dem bekannten grauen Schleier
ihres alterndes Gehirns, wie ein schüchternes jungen Mädchen vor dem ersten Rendezvous.
Marga zuckte mit den Achseln und nahm den Faden für Elli wieder auf. „Der ist ja ned allein
und sei Vorgesetzder hat scho Ahnung vo dem was er machd.“
„Aber auch nur nach dem was das Zwergerl ihm berichtet. Und wenn der Mist baut, dann kann
der Vorgesetzte auch nix mehr machen.“
Marga konnte nichts erwidern, denn sie wusste, dass Elli Recht hatte. Marga’s Ängste waren
mit den Jahren schlimmer geworden und niemand wusste um sie. Marga’s Welt war immer
kleiner geworden und sie zog in immer engeren Kreisen ihren Runden durch das Heim. Elli
konnte es nicht verstehen, sich so einengen zu lassen. Sie wollte leben bis es nicht mehr ging
und am liebsten mit einem großen Knall gehen, inmitten einer Tätigkeit die ihr die Tränen auf
die Wangen trieb vor Freude. So stellte sie sich ihren Tod gern vor. Sie kannte keine Angst und
keine Sorge. Beides erschien ihr in diesem Stadium ihres Lebens völlig nutzlos und eine
absurde Verschwendung ihrer wenigen und daher außerordentlich kostbaren Zeit. Sie wollte
sich um wichtigere Dinge kümmern. Leben und dem was ihr Freude bereitete nachgehen. Wie
jetzt, mit dieser Aufgabe, mit diesem Rätsel. Also. Wie würde sie an den Schlüssel kommen?
Sie wusste, dass ihr Gehirn die Lösung hatte, doch konnte sich ihr Gehirn dank ihres Alters
noch nicht daran erinnern. Sie wusste was sie tun musste. Ein wenig an andere Dinge denken,
dann würde es ihr wieder einfallen, da war sie sich sicher. Geklapper um sie herum ließ sie
aufschauen.
Das Abendessen wurde beendet und die Menschen um sie herum versuchten ihre steifen
Glieder zu erheben oder mit dem Rollstuhl von dem Bankett des Grauens zu entkommen. Nur
ein paar Alte hingen noch über den letzten Resten in ihren Tellern und versuchten den
zittrigen Löffel ohne große Sauerei zum Mund zu führen. Elli sah sie mitfühlend an und
wünschte sie könnte etwas dagegen tun. Doch am Lauf der Welt und den Dingen konnte sie
wenig verändern. Sie wandte sich ab und sah zu Marge hinunter, die den kleinen Joystick ihres
elektrischen Rollstuhles lässig zwischen zwei Fingern hatte.
„Wollen wir noch ein wenig nach draußen? Die Sonne scheint noch so schön,“ fragte Elli
Marga, da sie jetzt gern ein wenig an die Luft wollte. An der frischen Luft kamen ihr oft die
besten Ideen oder auf dem Klo. Und ihr Gehirn benötigte einen kleinen geistigen Spaziergang.
„Gibst da no an Kree,“ hörte sie die Stimme der Dorsch und stand auf. Marga nickte und
lenkte ihren Rollstuhl mit einem lieben Surren neben ihr her. Elli ging mit Marga hinaus vor
das Heim und setzte sich auf eine Bank in die noch immer schön warme Sonne des
Herbsttages. Sie sah hinüber zum Garten und lächelte. Der Garten war Ellis große Freude und
sie ging jeden Tag hinaus um zu sehen, was schon wieder gewachsen war. Auch wenn es nur
zwei Beete waren und Garten ein viel zu großes Wort für das kleine Erdreich voll Gemüse, so
war es in ihrem Herzen doch immer der Garten. An die beiden Beete schloss sich ein
brachliegendes Feld an, dass von allerlei Unkraut und Pflanzen überwuchert war. Ein Pfad
schlängelte sich durch das hüfthohe Gesträuch und verlor sich zwischen den unzähligen Stiele
der Pflanzen. Oberhalb des Feldes begann eine Streuobstwiese, den das Heim Obstgarten
nannte. Dort konnten die alten Herrschaften ein paar Äpfel pflücken oder sich ein paar
Walnüsse im Herbst holen. Nur 10 Bäume waren es, doch gab es im Heim die eine oder andere
Person, die sich auch gern um dieses Stück Land kümmerte. Nahe am Hang und ein gutes
Stück vom Heim entfernt stand ein altes kleines Gebäude, eigentlich mehr eine kleine
Scheune, die als provisorische Gartenhütte genutzt wurde. Das Gelände gehört zwar dem
Heim, doch wurde es bis auf die beiden Beete kaum genutzt. Vielleicht würde sich der Garten
im Laufe der Zeit noch vergrößern, woran Elli oft sehnsüchtig dachte. Bis jetzt hatte sie
umsonst gehofft. Aber vielleicht würde sich hier auch bald etwas ändern. Darum würde sie sich
kümmern. Das Wachsen und Gedeihen hatte ihr schon immer Vergnügen bereitet und es war
eine Aufgabe, der sie gerne nachging. Da war sie sicherlich nicht die Einzige, das wusste sie.
Sie sah sich um und war dankbar, dass Marga nichts sagte. Manchmal wusste die alte Dame
genau was zu tun war. Ihre Blicke wanderten über das brache Feld, den kleinen Garten und das
kleine Gartenhäuschen aus Großmutters Zeiten. Da machte ihr Gehirn den erhofften Schritt
und es fiel ihr wieder ein. Justus Ernst besass einen Notschlüssel für die Mosterei, für alle Fälle.
Ebenjener Zerschmetterter selbst hatte ihr davon erzählt, da er sich ja ehrenamtlich um die
Mosterei mit kümmerte. Der Ersatzschlüssel lag unter einem Stein in diesem Gartenhäuschen.
Vielleicht wurde es ja übersehen, diesen Schlüssel zu erwähnen. Oder Justus hatte so gut wie
niemanden davon erzählt. Oder, das wahrscheinlichste, er hatte es ganz und gar vergessen zu
erwähnen. Sie konnte ja mal nachsehen, ob er noch da war. Vielleicht würde es sich lohnen.
Aufregung machte sich in ihr breit und genüsslich fühlte sie die unbekannte Weite, die sich vor
ihr ausbreitete, so als wäre sie der erste Mensch, der ein unbekanntes Terrain erkundet.
„Marga, ich muss in die Mosterei,“ sagte Elli entschlossen. Marga sah sie entgeistert an.
„Wie denn? Und außerdem, was willstn da?“ fragte sie und Elli konnte Aufregung in ihrer
Stimme hören, allerdings keine allzu positive. Elli versuchte Marga zu beruhigen.
„Der Justus hat einen Notfallschlüssel und vielleicht liegt der noch an Ort und Stelle. Ich will
mich nur ein wenig umschauen. Verstehst Du?“
„Na, ned so ganz,“ sagte Marga mit Angst in der Stimme.
„Wenn ein Mensch von einer Maschine zerquetscht wurde, dann ist das immer sehr tragisch.
Meist sind es aber große Maschinen wie in Fertigungsanlagen und es gibt in der Regel Zeugen,
die den Vorfall gesehen haben. Aber das hier ist ganz anders. Keine Zeugen und dann eine
kleine Presse für Most? Das ist schon arg seltsam. Er hätte sich verletzt oder ein Körperteil
zerquetscht, doch gestorben? Das scheint mir ein wenig zu viel des Guten.“
„Und Du kennst Dich da aus, oder wie?“ fragte Marga skeptisch nach.
Elli nickte und stand auf. Jetzt war die Zeit für Handlungen, nicht für Erklärungen.
„Ich bin gleich wieder da,“ sagte sie schwungvoll. Dann ging sie Richtung Garten davon. Ruhig
ging sie an den beiden Beeten vorbei und zu dem Geräteschuppen. Sie wollte keine
Aufmerksamkeit erregen. Viele Fenster gingen zum Garten hinaus. Die alte Hütte mit
herabhängenden Ziegeldach, wie eine alte traurige Dame, stand in der Ecke des kleinen Feldes
neben dem Heim und wartete sehnsüchtig auf Besucher. Elli zog am rostigen Riegel und die
Tür ging knarrend auf. Als sie drin war, zog sie die Türe halb hinter sich zu. Einen kurzen
Augenblick sah sie so gut wie nichts, bis sich ihre Augen an das leise Dämmerlicht gewöhnt
hatten. Beinahe scharf gezeichnet fielen drei Lichtstrahle durch drei durchsichtige Ziegel im
Dach. Endlich konnte sie die Geräte und die kleine Werkbank erkennen. Sie ging in die Ecke
und sah unter dem Stein nach. Ein Schlüssel glänzte dort fahl im schwachen Licht. Elli grinste
und nahm ihn an sich.
Keine 3 Minuten später stand Elli vor der kleinen Mosterei.
„Vorsicht ist aller Anfang Sicherheit,“ murmelte sie und zog sich ein paar Einmalhandschuhe
aus der Tasche, die sie in einem Spender im Heim kurzentschlossen hat mitgehen lassen, bevor
sie mit Marga hinausgegangen war. Die Holztüre war massiv und sie konnte keine Scharten
oder Kratzer am Schlüsselloch erkennen. Also schon mal kein Einbruch, allerdings war die
Türe sicherlich offen als Justus hier gearbeitet hat. Der Schlüssel rutschte ohne Widerstand
hinein und schon ging die Türe auf. Nur eine kleine Fensterreihe unter der Decke ließ ein
wenig Tageslicht herein, dass schon zu schwinden schien. Sie tastete nach dem Lichtschalter
und das Licht ging an. Sie trat näher an die Presse heran, umsichtig nicht ihre Spuren zu
hinterlassen, wenn auch die Spurensicherung sicherlich schon abgeschlossen war, aber man
wusste ja nie.
Sie sah kein Blut auf dem von Saft verdunkelten Brett und konnte daher nicht erkennen, wo
der Körper genau gelegen hatte. Es ließ sich nicht feststellen ob Justus mit dem Bauch oder
mit dem Rücken nach oben lag oder ob nur der Kopf drin gesteckt hatte. Das musste sie später
Marga fragen, vielleicht wusste sie es ja.
Die Presse war wie immer, wenn sich Elli an einen ihrer Besuche erinnerte. Rechts oben der
kleine Motor, der die Presse in Gang brachte. Der Knopf zum Einschalten befand sich außen,
von einer kleinen Schutzumrandung umgeben.
Elli versuchte in Gedanken den Hergang zu rekonstruieren. Justus hatte, wenn der Unfall als
Todesfolge stimmen würde, den Knopf betätigt, dann seinen Körper in die Presse gelegt und
gewartet bis das Gewicht seine Arbeit tun würde. Ein Selbstmord also?
Elli schüttelte in Gedanken den Kopf und ging in langsamen Schritten um die Mostanlage
herum. Statistisch gesehen brachte sich ein Mann schon eher durch einen Gewaltakt um, doch
waren das in den meisten Fällen Schußwaffen, Stürze oder Erhängen. Dies hier war keine
klassische Variante sich das Leben zu nehmen. Gut, sie musste zugeben, dass es einen kleinen
Prozentanteil gab, in der die Variante des Selbstmordes merkwürdig bis skurril oder in der
Statistik als nicht näher zu bezeichnen angegeben wurde. Doch dies hier war so ganz anders,
als die Fälle die sie bearbeitet hatte. Justus Ernst war zwar alt gewesen, aber sie hatte immer
den Eindruck gehabt, dass er sich im Heim ganz gut eingelebt hatte und auch Freude an seinen
Tätigkeiten hatte. Gut, sie kannte ihn nicht sehr gut, aber sie hatten ab und zu für besondere
Anlässe zusammen gearbeitet und Justus kam ihr nie derart depressiv vor. Sie wollte nicht
glauben, dass er sich auf diese Weise umgebracht hätte. In Gedanken strich sie für sich die
Selbstmordtheorie.
Also doch ein Unfalltod? Sie begann sich in dem kleinen Raum genauer umzusehen und besah
sich den Fußboden genauer. Der Boden war von Fußabdrücken übersät und sie versuchte zu
erkennen, ob die Spuren mehr verrieten.
Justus könnte ausgerutscht und mit dem Köper in die Presse gefallen sein. Sie sah aber keine
Rutschspur, die auf ein Ausrutschen hinweisen könnte.
Sie sah sich die Presse genauer an. Ein kleiner Turm aus Brettern und den dazwischen
gepressten Maischetüchern, war zusammengedrückt worden. Der leicht schiefe Bretterturm
war gerade mal einen knappen Meter von der Pressvorrichtung, die hinunterfährt, entfernt.
Allerdings war jetzt auch der ganze Saft herausgepresst worden. Vor dem Pressen war der Turm
sicherlich nicht mehr als 30 bis 40 cm entfernt. Dort so hineinzugelangen, dass er starb,
musste bedeuten, dass entweder sein Kopf oder sein Oberkörper massiv zerquetscht worden
waren. Wenn dann müsste er quasi mit einem Hechtsprung in die Presse hineingerutscht sein
und dann würden sicherlich der kleine Turm aus Tüchern und Brettern stark verschoben sein.
Der kleine Bretterturm schien allerdings nur kaum verrutscht zu sein. Er wies eine kleine
Verschiebung zur Wand hin auf. Woher das allerdings stammen könnte, war schwer zu sagen.
Es könnte auch durch das Bewegen der Leiche bei der Bergung geschehen sein, wobei sie
sicher war, dass die Bestatter das Opfer zur Türe hin herausgehoben hatten. Ihre Gedanken
und Überlegungen erschienen immer sinnloser. Vor allem wenn sie die Geschwindigkeit in
Betracht zog.
Sollte Justus wirklich in die Presse gefallen und so saudumm gefallen sein, hätte er sicherlich
noch die Zeit gehabt wieder aufzustehen. Die Presse war sehr langsam und fuhr nicht mit
einem mächtigen Satz, sondern glitt langsam wie eine Schnecke herunter.
Sie schloss in Gedanken ein Ausrutschen und in die Presse Hineinfallen aus.
Eine weitere Möglichkeit war, dass er sich irgendwo den Kopf geschlagen hätte und mit dem
Kopf in die Presse gerutscht war. Elli untersuchte den Rand der Presse, fand aber nichts.
Widerwillig schüttelte sie den Kopf. Nein, selbst wenn er ausgerutscht und/oder sich den Kopf
an der Presse so angeschlagen hatte, dass er ohnmächtig geworden war, dann wäre er auf dem
Boden zusammengesackt und nicht in die Presse gefallen. Der Turm war einfach zu hoch.
Selbst wenn Justus ohnmächtig neben der Presse zusammengesackt war, konnte ihm unmöglich
aus Versehen der Kopf auf den Turm und damit unter die Presse gekippt sein.
Gut, letzte Annahme. Vielleicht hatte er geistig umnachtet etwas kontrollieren wollen und ist
nicht mehr herausgekommen. Gegen diese Theorie fand sie im Moment keine Argumente oder
Gegenargumente und schon gar keine Beweise. Ihr blieb nichts anderes übrig, sie musste dies
erstmal im Raum stehen lassen.
Sie wagte es kaum zu denken, doch die diebische Freude, endlich mal wieder was zu tun zu
haben konnte sie nicht zurückhalten. Und bei Gott, sie würde sich dieses Falles annehmen.
Sie sah sich weiter um. Irgendetwas wurde immer aus Versehen hinterlassen und wenn es nur
eine unbedeutende Kleinigkeit war.
Auf der Ablage, einem länglichen Tisch an der Wand rechts neben der Türe, lagen allerlei
Hilfsmittel. Plastikbeutel, in die der heiße Most abgefüllt werden konnte, Kronenkorken,
Notizbücher, Handschuhe und andere Dinge. Etwas machte sie stutzig. Zwischen den
Kronenkorken und dem Notizbuch lag etwas, das aussah wie ein kleines Stück Holz. Es war
ein seltsames Stück Holz, eigenwillig und so als wäre es sehr alt. Sie zog ein Taschentuch aus
ihrer Hose und nahm damit das Stück auf. Dann wickelte sie es in das Taschentuch und steckte
es ein. Ein Auto fuhr vorbei und sie sah auf. Sie hatte ganz vergessen wo sie war und beschloss,
dass es Zeit war zu gehen. Mehr konnte sie ohnehin nicht erkennen.
Sie schloß ab und ging wieder zurück zum Heim. Sie versteckte den Schlüssel am gewohnten
Ort und ging zu Marga, die immer noch bei der Bank saß.
„Herrschaftzeitn wird aber auch Zeit, dass Du wieder kummst. Es wird langsam kalt,“ maulte
ihr Marga entgegen. Sie rieb sich die Hände, wartete nicht bis Elli bei ihr war und nahm den
Joystick zwischen die Finger. Ungeduldig steuerte sie ihren Rollstuhl Richtung Eingang des
Heimes.
„Schon gut, entschuldige bitte,“ sagte Elli und folgte ihr mit raschen Schritten.
„Hast wenigstens was rausgfundn?“ fragte Marga, immer noch verärgert.
„Ich weiß nicht genau,“ sagte sie. „ Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um einen Unfall
gehandelt haben könnte. Auch wenn mir daran etwas komisch vorkommt.“ Das Stück Holz in
ihrer Hosentasche hatte sie schon wieder vergessen.
Marga machte ein zufriedenes Gesicht. „Na, also. Ein Unfall.“ Und schon ruhiger fuhr sie
durch die gläserne Schiebetür in das thermisch warme Haus.
„Und trotzdem, etwas ist komisch daran, wie der Justus ums Leben gekommen ist,“ sagte Elli
als sie die Eingangshalle durchquerten, doch mehr zu sich selbst.
„Was willst machn? So ist halt des Lebn,“ wiegelte Marga ab. Sie wollte nicht mehr über das
Thema sprechen, doch Elli ließ es keine Ruhe. Ihr kam ein anderer Gedanke.