Internetbuch LA DÉFENSE

 

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Für alle die nicht mehr suchen möchten

LA DÉFENSE

Wieder mal ist Morgen, sein letzter in Paris. Er erwacht um 5.00 Uhr in seinem Hotelzimmer, da er pissen muss. Er hört seinen Nachbarn im Nebenzimmer schnarchen. Ein Phänomen; entweder schläft er oder er schaut fern. Das scheinen seine einzigen zwei Ferienbeschäftigungen zu sein. Das WC liegt am anderen Ende vom Flur.

Nach dem Pissen legt er sich wieder ins Bett und versucht zu schlafen. Vergebens, er wälzt sich hin und her, denkt dabei an die Handvoll Frauen, für die er in seinem Leben so was wie Gefühle gehabt hätte. Die meisten von ihnen wissen es nicht einmal. Jetzt, im Nachhinein, objektiv, ohne Phenylethylamin und die ganzen miesen Tricks des Körpers beurteilt, welche von ihnen hätten wirklich zu ihm gepasst?

Ihm kommt nur die Eine in den Sinn. Sie vielleicht. Das Aussehen, der Beruf, der Charakter hätte alles gepasst. Ja, vermutlich hätten sie es einige Zeit zusammen ausgehalten. Mit allen Anderen wäre es aussichtslos gewesen. Es hätte mehr geschmerzt als gedient. Bei ihr sollte er es vielleicht nochmals, oder besser gesagt ´einmal´ versuchen. Es wäre sonst eine große Verschwendung, wenn zwei so gut zueinander passen, und alles scheitert daran, dass es keiner von beiden angesprochen hat. Vielleicht sollte er ihr ein Mail schicken. Aber so wie er sich kennt, wird er das wohl eher sein lassen.

Nach einigen Tagen Ferien fühlt er langsam wieder etwas. Sehnsucht, abnehmendes Stresslevel, sexuelles Begehren, irgendwas halt. Nach einigen Wochen Arbeit versinkt er so sehr in ihr, dass er nur noch gedämpft Gefühle wahrnimmt. Die intensive Verdrängung der Sinnlosigkeit verdumpfen seine Sinne. Erst nach ein paar Ferientagen kommt er allmählich wieder zu sich und beginnt zu leben. Und es wird ihm klar, dass er sich total von Nebensächlichkeiten im Leben einnehmen lässt, ein produzierendes Arbeitstier wird. In den Ferien kehrt dann die volle Bandbreite der Gefühle zurück. Vorwiegend negative natürlich, aber immerhin irgendwelche Gefühle. Sie zeigen ihm, dass er noch am Leben ist.

Um 6.10 Uhr gibt er den Schlafversuch auf. Er arbeitet weiter an seinem Buch, geht später zum Morgenessen, plant den Tag, checkt aus und deponiert seinen Koffer. Er möchte vor seiner Abreise noch La Défense besuchen und eine Bootstour machen.

Mit seiner Lieblingslinie 2 fährt er unter der Stadt durch und wechselt bei Charles-de-Gaulle Etoile auf die 1. Er platziert sich auf der Rückseite, um die Leute von hinten zu beobachten. Alle schauen in die andere Richtung, zu derselben Seite, wo sie ein- und aussteigen. Er ist unbeobachtet und kann die Fahrt genießen.

Die meisten von den Menschen sehen wie gelangweilte Zombies aus. Auf dem Weg zur Produktionsstätte La Défense. Alle stehen unmotiviert in der Métro rum. Der mit dem schwarzen Anzug und schwarzen lockenartigen langen Haaren scheint abzuwägen, ob er sich heute Abend umbringen soll. Eine andere scheint auch nicht die glücklichste Phase ihres Lebens zu durchleben. Vielleicht vögelt ihr Mann mit einer anderen rum?

Bei der nächsten Station steigen weitere austauschbare Zombies ein. Okay, die eine Frau ist vielleicht nicht austauschbar, die hat eine geile Figur. Er möchte sie gleich in einer Stehposition von hinten nehmen, ein kleines Quickie in der Métro. In Gedanken hebt er ihren Jupe hoch, zieht ihr Höschen runter, stößt sie kräftig und schiebt dabei seine Hände unter ihren BH. In seiner Hose regt sich was zum Positiven.

Plötzlich drehen sich alle Zombies wie auf Kommando zu ihm um. Verdammt, nun wird er beobachtet. Seine leichte Erregung in der Hose löst sich schlagartig in Luft auf. Alle scheinen ihn zu mustern, die Schweine. Er macht das Beste aus der Situation, dreht sich ebenfalls auf die andere Seite und mustert den Rest der Strecke eine Eisenstange.

Die nächste Station La Défense Grande Arche erlöst ihn und er verlässt die Métro.

Die Station erinnert an die Leitzentrale eines Gangsters in einem alten James Bond Film. Eine riesige Halle, die vorwiegend mit Aluminium und Beton ausgekleidet ist. Einige Gendarme markieren Präsenz.

´Die haben bestimmt alle kleine Schwänze´, denkt er.

Er verlässt die Kaverne und taucht auf dem großen Platz vor dem Grande Arche an der Oberfläche auf. Links und rechts vom rund 80 Meter breiten Platz ragen riesige Geschäftsgebäude in die Höhe. Sie sind hauptsächlich grau mit streng geometrischen Formen und vielen, sehr vielen Fenstern. Die Wolkenkratzer sind mit großen Aufschriften wie EDF, AREVA, SFR, SOFITEL, Technip, TOTOAL, gau oder AGF beschriftet.

´Viele Menschen sind auf dem grauen Platz verstreut. Die meisten sind alleine und wirken etwas verloren. Alles wirkt recht ausgestorben, eine reine Produktionsstätte, mit scheinbar überflüssigen Gebäuden und Prestigeobjekten. Um vorzugaukeln, wir sind super, wir sind erfolgreich. In Wahrheit sitzen nur depressive Leute in Anzügen hinter den Glasfassaden, die am Abend schleunigst wieder von hier weg wollen. Alles nur errichtet als Ablenkung von der Sinnlosigkeit des Lebens. Fortschritt, Forschung, noch mehr Ansehen, das ist doch alles nur heiße Luft. Unser Dasein hat eine Eigendynamik entwickelt, die mehr und mehr ins Negative abdriftet …

Ich bin auch einer dieser Forscher. Ich verkaufe mich als jemand, der die Welt verbessern will, um mir selber beweisen zu können: Es ist wichtig was ich mache, ich werde bezahlt dafür.

Aber Fortschritt zieht leider meist doppelt so viele Nachteile wie Vorteile mit sich. Im Großen und Ganzen arbeiten wir doch nur daran, dass die Menschheit schneller zerstört wird.

Anderen mit meiner Forschung zu helfen ist nur zweitrangig für mich. Forschung ist einfach nur faszinierend, weil man sofort, ohne wahnsinnig großen Aufwand der Einzige auf der Welt ist, der sich mit etwas ganz bestimmten befasst. Das ist gut gegen Minderwertigkeitskomplexe. Man ist schnell an der Weltspitze, so zu sagen, etwas, was man in anderen Gebieten wie beispielsweise als Musiker praktisch nie erreichen kann. Da müsste man ein absolutes Ausnahmetalent sein, und ich hätte mir mit meinem Ehrgeiz an diesem Versuch zwangsläufig die Zähne ausgebissen. Aber in der Forschung habe ich mir auf meinem Fachgebiet bereits innert weniger Jahre einen Namen gemacht. Meine Minderwertigkeitskomplexe dadurch etwas abgemindert und mich temporär von der Sinnlosigkeit des Lebens abgelenkt. Wie es diese Hochhäuser rechts und links vor dem Grande Arche machen. Oder wie verlogener Small Talk es ebenfalls versucht.

´Wie geht es?´

´Gut, danke.´

Eigentlich geht es einem doch alles andere als gut. Doch das interessiert nun wirklich niemanden, am wenigsten den kleinen Scheißer, der gefragt hat. Auf die Frage erwidert er in Kollegenkreisen oft mit: ´Scheisse, danke.´

Die meisten lachen dann. Vielleicht wird ihnen genau dann wieder bewusst, wie verlogen ihre routinemäßig gestellte Frage doch war.

Viele Menschen verhalten sich aus Angst vor Anderen so spießig, sie lassen sich von Gesellschaftsnormen einwickeln. Doch wieviel Prozent der Gesellschaft sind wirklich so spießig und drängen dem Rest die Normen auf? Vielleicht fünf Prozent? Und der Rest befolgt sie, aus Angst vor diesen fünf Prozent und weiteren, von denen sie nicht wissen, dass sie genauso wie sie selbst denken. Die Geschichte hat das oft genug gezeigt.

Manchmal, von Zeit zu Zeit, sieht man hinter die Fassade unserer verlogenen Gesellschaft, die gegen ihre Verlogenheit bereits immun ist und sie nicht mehr wahrnimmt. Aber dieses Bewusstsein hilft einem auch nicht wirklich weiter. Im Gegenteil, es führt zu einem unangenehmen, beklemmenden Gefühl.

Wieso können wir Menschen nicht aus dem Zustand der Oberflächlichkeit entfliehen? Denn eigentlich sind wir uns unserer Verlogenheit vollumfänglich bewusst, zumindest unbewusst. Wir entdecken uns von Zeit zu Zeit beim Small Talk oder in irgendeiner spießigen Gesellschaft, in der wir nicht sein wollen. Wir Menschen wollen es nicht verstehen. Wir dürfen es uns nicht eingestehen, da wir sonst vor dem Abgrund der Sinnlosigkeit stehen. Besser wir verdrängen das Wissen um diese Oberflächlichkeit und Sinnlosigkeit, ertränken es in Religion, in Arbeit oder Sex. Verhüllen es in Lügen, sich selber zu liebe´, denkt er.

Mit 27 war mein Selbstvertrauen schließlich etwas gestiegen. Zumindest konnte ich mir nun eingestehen, dass sich mein Verhalten nicht mit dem von mir erwarteten Idealzustand deckte und dass ich das Recht hatte, zum Therapeuten zu gehen.

Es muss ein deprimierendes Gefühl für Psychologen und Psychiater sein, nur die Leute zu erreichen, welche nur einen mittelschweren Schaden haben. Die schlimmsten Fälle getrauen sich gar nicht erst einen Therapeuten aufzusuchen, sie finden sich zu wertlos. Sie kommen erst nach einem misslungenen Selbstmordversuch oder der Einweisung durch Andere dazu.

Im Wesentlichen wollte ich drei ineinander übergreifende Problemkreise klären:

  1. Selbstvertrauen: Warum ist es so verschwindend klein? Warum bin ich so extrem schüchtern? Warum getraue ich mich nicht, mit attraktiven Frauen zu reden? Warum kann ich andere nie um etwas bitten?

  2. Angst: Warum habe ich Angst vor Situationen mit Menschen, vor Vorgesetzten und vor Kritik?

  3. Druck: Warum setze ich mich bei allem so sehr unter Druck? Warum bin ich ein so extremer Perfektionist? Warum bricht meine Leistung bei einem gewissen Grad an Druck von Vorgesetzten total in sich zusammen? Warum bin ich so krankhaft ehrgeizig?

Diese drei Fragen waren es mir wert, jeden Dienstag um 12.00 Uhr meine Arbeit zu unterbrechen und eine Stunde für 193 Franken und 54 Rappen in die Therapie zu gehen. Dem freudschen Motto der Psychoanalyse folgend: Man erreicht einen Heilungseffekt, indem man negative Erlebnisse oder das Problem mit ihren Ursachen nicht mehr verdrängt, sondern sie mit der Methode der freien Assoziation vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein ruft.

Der Heilungseffekt rührt vor allem daher, dass man den IST-Zustand von sich akzeptiert und keine Energie mehr zu dessen Verdrängung braucht.

Das erfüllte mich anfänglich mit Stolz, gab mir Auftrieb, dass ich tatsächlich die Berechtigung habe, zu einem Therapeuten zugehen. Ich hatte so viel Wert, dass man sich mit meinem Fall befasste. Man sah ein Potenzial in mir.

Das Sprechzimmer befand sich in einer Dachwohnung mitten in der Stadt. Ich schlich mich in die etwas abgelegene Gasse und betätigte am Eingang eine Klingel. Auf einem kleinen Monitor im Sprechzimmer sah mich mein Therapeut und betätigte die automatische Türöffnung. Mit dem Lift fuhr ich nach oben und erreichte hinter einer Türe den Warteraum. Im Nebenzimmer war der Therapeut üblicherweise mit einer anderen Patientin beschäftigt, die dann durch einen separaten Ausgang aus dem Sprechzimmer schlich. Ich bin ihr ein paar Mal auf der Treppe begegnet.

Hallo.“

An der speziellen Betonung dieses einen Wortes realisierte ich, dass sie ein größeres Problem hat und definitiv nicht ernst genommen wird. Sie ist ein noch hoffnungsloserer Fall als ich.

Nachdem die Patientin den Therapieraum verlassen hatte, kritzelte der Psychiater noch einige Minuten etwas auf ein Blatt Papier. Dann öffnete sich die Tür, ich wurde aufgefordert einzutreten und man gab sich die Hand. An zwei Wänden im Raum standen zwei überdimensionale Büchergestelle, vollgepackt mit Fachliteratur. Die Buchtitel studierte ich eingehend während den Sitzungen. Sonst war der weiß gestrichene Raum eher karg. Die Decke verlief schräg nach unten. Mein Sessel stand seinem Sessel frontal gegenüber. Beide waren relativ niedrig gebaut, sodass man fast am Boden saß. Bei beiden Sesseln stand links ein Glastisch. Auf meinem lagen meine Notizen, die ich mir unter der Woche gemacht habe. Auf seinem standen ein Telefon und ein kleiner Monitor, womit er den Eingang überwachte.

Mir gegenüber war ein Fenster, das einen sehr schönen Ausblick über die Stadt und den dahinter liegenden See bot. Diese Aussicht genoss ich ausgiebig während meinen Sitzungen.

In dieser Umgebung fing ich an zu tratschen. Ironischerweise wurde das Gespräch meistens gerade dann am tiefgründigsten, wenn ich mit irgendwelchem belanglosen Small Talk begann. Wenn ich irgendeinen Blödsinn von mir gab, ohne groß nachzudenken.

Och, das hat heute so viele Menschen auf den Straßen.“

Und prompt fand ich mich einige Sätze später in den tiefsten Abgründen meiner Psyche wieder.

Der etwas übergewichtige, gut 60 Jahre alte Therapeut lag mir auf seinem Sessel gegenüber. Er hatte graue mittellange Haare, die undefiniert links und rechts von seiner Mittelglatze runter hingen, eine große Nase, das Gesicht lässt sich mit den Worten ´alter, liebenswürdiger Zwerg´ beschreiben. Mit dem Stehen klappt es auch nicht mehr zu hundert Prozent, vermutlich hatte er Hüftprobleme. Rein äußerlich beurteilt, müsste er unter mindestens doppelt so vielen Minderwertigkeitskomplexen leiden wie ich. Okay, deshalb hat er vermutlich auch Psychologie und Psychiatrie studiert. Nach seiner Sprechstunde begibt er sich vermutlich selber in die Therapie.

Er hörte mir aufmerksam zu, und bestätigte praktisch alles, was ich da vor mich hinplapperte.

´Interessant, es ist also nicht alles totaler Müll, was ich von mir gebe. Anderseits bezahle ich ihm ja nicht gerade wenig fürs Kopfnicken´, dachte ich.

Seine weiteren Reaktionsmöglichkeiten neben dem Nicken waren Lachen, mitfühlend Stöhnen aber auch Nachfragen, was ich gerade gesagt habe, sein Hörgerät sei nicht mehr so gut.

Nach einem Jahr wusste ich, wo der Hund begraben war. Leichte Fortschritte waren auf allen drei Bereichen (a) bis (c) zu verzeichnen, aber die Psychoanalyse ist auch kein Wundermittel. Zudem kann man das auch selber, ohne dass jemand im Sessel gegenüber sitzt und ab und zu, wenn es wieder etwas lange ruhig ist, eine Frage stellt. Der Heilungsprozess zieht sich ohnehin über das ganze Leben hin. Man macht mal Rückschritte und mal Fortschritte. Man erreicht nicht zwangsläufig einen neuen Level, auf dem man sein ganzes Leben lang bleibt. Man muss immer an sich arbeiten, sonst fällt man auf den ursprünglichen Level zurück oder gar noch tiefer. Man kann nicht das ganze Leben zum Therapeuten rennen. Irgendwann muss man es selber in die Hand nehmen.

Leider fällt man in der Regel gerade nach einer Therapie in ein Loch. Nun hat man etwas unternommen, etwas erreicht, und wie soll es dann weitergehen? Nun ist auch diese Methode ausgeschöpft, die Hoffnung verloren. Es ist kein Ziel mehr vorhanden, man hat aufgehört, für etwas zu kämpfen. Das Leben ist wirklich