Exposé
http://www.ulrikeparthen.de/leseprobe-igel/
Das Genre:
Roman / Erzählung
Zielgruppe – Besonderheit – Kernidee:
So viel ist sicher: Die Natur hat sich etwas dabei gedacht, als sie die Angst erfand. Sonst wäre die Menschheit längst ausgestorben. Jeder hat Angst. Die einen weniger, die anderen mehr. Manche sogar ganz viel. Hauptfigur Mia ist eine von den Menschen, die sehr viel Angst haben. Doch die Natur hat nicht mit dem grenzenlosen Humor der Autorin gerechnet: Sie beschreibt, wie Hauptakteurin Mia mit einer riesigen Portion Selbstironie der Panik zeigt, was eine Harke ist. Alltagssituationen werden urkomisch sarkastisch zum Besten gegeben, beispielsweise die Attacke tollwütiger Igel, die Selbsteinäscherung im Kamin oder die Sache mit dem Marathon-Lauf in der heimischen Natur.
Jeder Mensch hat irgendwann Angst, sei es nur vor einem Gespräch mit dem Chef oder dem nächsten Zahnarztbesuch. Somit bietet das Buch amüsanten Lesestoff für jedermann. Die Geschichten verleihen dazu, zu schmunzeln, mitzulachen und der Leser vergisst darüber völlig, um welch ernstes Thema es eigentlich geht. Doch genau das ist Ziel des Buches. Ganz nebenbei verhilft es Angstpatienten durch den humorvollen Umgang mit der Angst zu ganz neuen Sichtweisen. Nicht-Betroffene wiederum erhalten auf amüsante Weise Einblick in die oft schwer zu beschreibende Welt der Angstpatienten.
Kapitel:
12 Kapitel
Inhaltsangabe:
„Mia, einfach in die andere Richtung gucken und gut festhalten“, erklärt mir unser Tierarzt mit einem breiten Grinsen. Ich stehe mit zitternden Knien am Behandlungstisch und muss wie immer assistieren. Das ist so üblich bei Dr. Scherenbach. Ich halte also krampfhaft meinen Kopf so weit nach rechts gerichtet, dass ich schon beinahe einen Krampf bekomme. Um ja nicht sehen zu müssen, wie er meinem armen Hund Lea die Infusionsnadel einführt. Da wird mir sofort schlecht. Eigentlich wird mir schon bei dem Gedanken daran schlecht und daher ist mir grundsätzlich ziemlich übel, wenn ich die Tierarztpraxis betrete. Herrn Doktor hält das jedoch nicht davon ab, stets seine Witze über mich zu machen. Meistens in der Form, dass er mir in allen Einzelheiten erklärt, was er momentan so treibt. „Herr Scherenbach, ich will jetzt echt nicht wissen, ob es hier nun eine Blutlache auf dem Behandlungstisch gegeben hat oder nicht“, stöhne ich qualvoll. Er lacht nur. Allein das Wort „Blut“ reicht in so einem Moment aus, dass ich Angst haben muss um mein Frühstück. Ungern würde ich ihm das vor die Füße speien, wobei ich denke, dass er selbst da noch lachen würde. Ich bettele ihn also an, umgehend mit seinen Witzchen aufzuhören, ebenso mit irgendwelchen Blutbeschreibungen, sondern sich zu beeilen, weil er sonst seine Assistentin vielleicht aus einer Ohnmacht erwecken muss. „Ich bin doch schon fertig“, höre ich ihn sagen. Ich lasse Lea also los, belasse meinen Kopf aber vorsichtshalber in Krampfstellung, schließlich liegt noch das ganze gebrauchte Nadelzeugs hier rum, Blutflecken inklusive. Bevor er hier nicht sauber gemacht hat, gehe ich in Assistentenstreik.
Ja, so ist das immer mit uns beiden. Wir verstehen uns prächtig. Gleich zu Anfang, als absehbar war, dass wir nun vermutlich öfter das Vergnügen miteinander haben werden, folgte ein Outing meinerseits. Schließlich muss er doch wissen, dass ich nicht irgendeine Kundin bin, sondern eine ganz besondere. Eine mit massenhaft Angst in den Knochen. Einhergehend mit butterweichen Knien und der beständigen Befürchtung, ob nicht doch der schlimmste aller Fälle eintritt: mich zu übergeben oder in Ohnmacht zu fallen. Genau das ist es doch, was mir stets solche große Angst macht, aber noch nie praktisch seine Vollendung fand. Egal, mein böser Piepmatz im Ohr suggeriert mir trotzdem täglich aufs Neue: große Gefahr, jetzt und heute ist es sicher so weit: Kotzgefahr! Dem Piepmatz gehört der Hintern versohlt! Damit er über mich und manch seltsame Anwandlung meinerseits also im Bilde ist, habe ich ihm gleich beim zweiten Besuch die schonungslose Wahrheit der Mia vor Augen geführt. Herr Doktor nimmt es mit Humor. Gut für ihn – und für mich. Meinem Hund ist es am heutigen Tag schnurzegal, wer Humor hat oder nicht, ob Blutlachen auf dem Tisch liegen oder sein Frauchen gleich aus den Latschen kippt. Sie ist das Leiden in Person, ähm, in Hund. Und trotz hervorragender tiermedizinischer Kenntnisse ist es Herrn Scherenbach heute nicht möglich, eine Diagnose zu stellen. Leas Symptome muten sehr besorgniserregend an, doch keine der Untersuchungen bringt eine Erklärung und schon gar keinen Befund. Ich schaue Lea tief in ihre leidenden Augen und beschwöre sie, doch bitte nicht auch so anzufangen wie ihr Frauchen. Die ist seit Jahrzehnten nicht nur seelisch leidend, sondern vor allem körperlich. Doch kein Arzt der Welt hatte seither einen Befund parat trotz millionenfacher Untersuchungen jeglicher Art. Bei denen war und bin ich kerngesund. Davon merke ich leider nur nichts. Oder noch besser: Ganz gern stellte man dann die Diagnose „psychosomatisch“. Das ist eine herrliche Erklärung für alles, wo man als Arzt im ersten Anlauf nicht weiterkommt. „Lea, bist du jetzt etwa auch ein Psycho?“
Dr. Scherenbach und ich einigen uns darauf, dass sie wirklich sehr krank, die Ursache aber nicht zu finden ist. Ich bin wirklich stolz. Ja, auf Lea auch, weil sie so tapfer ist. Aber eher auf Dr. Scherenbach. Bisher habe ich bei keinem Arzt erlebt, dass er zugibt: „Ich finde nix“. Das macht ihn mir doch gleich noch sympathischer. Da er aber nicht nur witzig und sympathisch ist, sondern ebenso enorm clever, lässt er sein Hinterstübchen rauchen, um im Fall Lea dennoch auf einen grünen Zweig zu kommen. Er fragt mich daher noch einmal ganz genau nach dem Ablauf am Morgen, den ich in verkürzter Form schildere: „Vorhin war noch alles völlig o.k. Und Sekunden später eben nicht mehr.“ Diese überaus gehaltvolle Erklärung trägt wenig dazu bei, Dr. Scherenbach bei seiner Diagnostik zu unterstützen. Daher behandelt er einfach symptomatisch. Die Behandlung besteht zunächst aus zwei Spritzen, was ich noch nicht sonderlich schlimm finde. Als er mir dann jedoch mitteilt, Lea hätte unbedingt noch eine Infusion nötig, hat er mich voll erwischt. Die Panik in meinen Augen ist kaum zu übersehen. „Wie lang dauert das?“, ist meine erste Frage. „Och, zwei Stunden bestimmt. Ich gehe dann so lange hoch einen Kaffee trinken und schaue kurz vor Mittag noch mal nach euch.“ Er kann kaum sein Lachen verbergen, als er meine Gesichtszüge sieht. In diesem Moment hätte ich ihn erwürgen können. Er machte es wieder gut, indem er mir Stein und Bein schwört, dass wir das alles in allem in 20 Minuten schaffen können und er mir selbstverständlich Gesellschaft leistet. Aber: Ich müsse mich hier zu Lea setzen und aufpassen, dass sie still hält. „O.k., das kriege ich vielleicht hin, aber wo ist bei Ihnen das Klo? Ich muss zuerst ganz dringend pinkeln gehen.“ Und so sitze ich nach Entleerung meiner Blase händchen- bzw. pfötchenhaltend vor Lea und warte und warte. Und wer hält mir dabei mein angstschweißnasses Händchen? Ich schaue alle drei Sekunden auf die Infusionsflasche, um genauso alle drei Sekunden zu bemerken, dass wir es gleich geschafft haben. Herr Scherenbach versteht wohl sehr gut, dass ich in diesen Minuten wirklich große psychische Unterstützung benötige und bestätigt meine Vermutung jedes Mal. Erst nach 30 Minuten wird es endlich wahr. Lea kommt frei und wir können gehen.
Den letzten Schock verpasst er mir mit den Worten, dass er die Infusionsnadel gerne noch in meinem Hund belassen möchte, damit wir im Zweifelsfall schnell eingreifen können. „Wie, im Zweifelsfall? Was meinen Sie denn damit? Ist es doch so schlimm?“ Ja, ja, es ist nicht einfach mit mir. Ich kann den Raum allerdings nicht verlassen, ohne mich zusätzlich nicht genau versichert zu haben, dass mit der Nadel nichts passieren kann. Kein Durchstechen einer Vene, kein Verbluten meines Hundes. Man nennt das einen Dauerverweil-Katheter und er ist aus Plastik. Aha, das beruhigt mich und hört sich logisch an. In ungefähr vier Stunden hat mein Mann Feierabend, so lange werde ich die Zeit mit Katheter-Lea doch hoffentlich allein durchstehen. Ich nehme Lea abschließend in den Arm und flüstere ihr zu: „Die Medizin von Onkel Doktor Scheri ist klasse und wird dir helfen. Du wirst daher weder sterben noch anderweitig Kummer bereiten. Jedenfalls nicht, bevor Paul zu Hause ist, verstanden?“ Mein Hund tut mir den Gefallen und entschließt sich eine Stunde später sogar, spontan wunderzuheilen. Ich bin überrascht und frage mich, ob sie mich eigentlich veräppeln will. Oder einfach nur ein bisschen Angstkonfrontation mit mir üben? Ganz so vielleicht, wie mein Hausarzt neulich, als er feststellte, ich könnte Marathon-Laufen …
Die Länge eines Marathons beträgt exakt 42,195 Kilometer. Das ist ganz schön lang und üblicherweise legt man die Strecke laufend zurück. Ich laufe auch. Täglich sogar. Wobei „laufen“ bei uns Schwaben eigentlich „gehen“ heißt. Wir sagen zum „Gehen“ „Laufen“ und zum „Laufen“ auch „Laufen“. Wir sind ein bisschen faul, was die Sprache angeht. Also, ich „spaziere“ tagein, tagaus in die Natur hinaus, meine Hunde wollen das so. Unser Tempo würde ich in die Kategorie Schneckentempo einordnen. Was heißt: Ich bin die Schnecke und die Hunde rasen wie die Irren derweil durch die Gegend. Zumindest haben die Vierbeiner ihren Spaß! Von 42 Kilometern bin ich dabei weit entfernt. Und das ist gut so. Erstens würde es meiner Angst gar nicht gefallen, wenn ich mich weiter als einen Kilometer von meinem sicheren Bunker (= Zuhause) wegbewege. Zweitens ist mein armer Körper sehr geschwächt durch die fortwährenden Adrenalinausschüttungen, die mein Hirn ständig an ihn sendet: „Alarm, Angst“, so lauten die einzigen zwei Wörter, die mein Hirn gemeinschaftlich mit meinen Körperfunktionen gelernt hat. Die beiden (Hirn + Körper) sind inzwischen das perfekt eingespielte Team und kommen beinahe ohne Worte aus. Heißt, das Hirn muss schon kaum mehr was sagen, da schüttet Freund Körper vorsorglich mal eine Dosis des Hormons aus. Man weiß ja nie. Für unnütze Dinge wie Sport sind leider keine Ressourcen mehr vorhanden. Mein Hausarzt sieht das anders. Er meint, ich könnte Marathon-Laufen. Eine super Idee. Von der Erklimmung eines Marathons nehme ich aufgrund einiger nicht unerheblicher Tatsachen zunächst Abstand. Erkläre meiner Hündin Nelli aber, dass wir ab sofort gemeinsam Walken gehen werden. Denn an Laufen ist mal überhaupt nicht zu denken. Dieses Mal meine ich mit „Laufen“ übrigens „Joggen“.
Herr Doktor meint aber, dass Walken genau den gleichen Effekt hätte für mein Vorhaben und ich solle keine Angst haben, er verspricht mir, ich falle wirklich nicht um. Gut, wenn er das sagt. Bereits am nächsten Tag schnappe ich mir meinen Hund, ein paar alte Latschen (Turnschuhe besitze ich nicht) und atme dreimal tief durch. Mia, du gehst jetzt Walken, das heißt, du bewegst dich gehend mindestens 800 Meter von deinem sicheren Bunker weg. Onkel Doktor sagt, Umfallen ist nicht. Es macht für meine Angst einen erheblichen Unterschied, ob ich bei meinen üblichen Gassi-Runden ca. 400 Meter vom Haus entfernt bin und sich die Hunde durch Herumtoben auf der Wiese eigenständig austoben, während ich auf ihr stehen bleibe und in weiter Ferne immer noch das Ziel vor Augen habe: mein Zuhause. Oder ob ich mich meilenweite 800 Meter davon wegbewege und mich damit schutzlos meiner Angst ausliefere ohne die Möglichkeit einer schnellen Flucht. Die Flucht würde mir nur dann schnell gelingen, wenn ich im Eiltempo eines Schnellsprinters zurückrennen könnte, was mir aber aufgrund meiner körperlichen Voraussetzung verwehrt bleibt. Das wiederum erklärt, dass meine Walking-Aktion gleichzeitig eine nicht unerhebliche Konfrontationstherapie darstellt, die ich tapfer angehe. Spiel, Satz, Sieg! Ich habe mein vorher gestecktes Ziel erreicht und bin tatsächlich bis zu dieser Holzbank da oben an den Obstbaumwiesen gewalkt und habe auch den steilen Berg mit mindestens 50 % Steigungswinkel erklommen. An der Bank angekommen, klopft mein Herz aber arg, puh. Meine Waden tun weh und ich analysiere ein kurzes Schwächegefühl mit leichtem Unwohlsein. „GEFAHR“, schreit meine Angst ganz laut. Quatsch mit Soße, Doktor sagt, ich kann Marathon laufen, versuche ich mich zu beruhigen. Vorsichtshalber setze ich mich kurz auf die Bank und blicke mit Wehmut in meine leere Hosentasche, in der zur Sicherheit eigentlich das Handy stecken sollte. Ich habe es vor lauter Nervosität beim Abmarsch vergessen. Ich bin quasi hilflos verloren und werde hier im Falle eines Kollapses wahrscheinlich liegen bleiben bis zum nächsten Winter, falls mich vorher kein anderer Spaziergänger findet. Ob Paul mich so schnell vermissen wird und suchen kommt? Aber der weiß ja nicht mal, dass ich Walken bin. Auf die Idee, mich hier weit weg von zu Hause an den Obstbaumwiesen unseres Ortes zu suchen, kommt er deswegen ganz sicher nicht. Nur Nelli kann jetzt noch helfen. Sie muss Hilfe holen. Nelli ist nicht interessiert, Ersthelfer zu spielen, sie findet die vielen Gerüche hier am Wegesrand viel zu spannend. So bleibt mir nur ein Weg: Ich muss mich auf mich selbst verlassen und darauf, dass ICH MARATHON LAUFEN KANN! Also werde ich doch wohl die paar Meter walkend wieder nach Hause kommen. Vorsichtshalber sage ich mir meine alt bekannten Sprüche sehr laut selber vor: Ich bin stark, ich schaffe das. Ich bin Marathonläufer! Ich bin jung und gesund. Das ist zwar eine glatte Lüge, aber ich kann’s ja mal versuchen. Und jetzt heim mit dir. Im Stechschritt marschieren wir voran. Mit jedem Meter, den ich zurücklege, keimt Hoffnung auf. Am Ende schwebe ich fast und komme ohne Zwischenfälle wieder zu Hause an.
Mein Mann Paul hat Mittagspause und vermisste mich schon – so was aber auch. „Na, wart ihr Gassi?“, fragt er beiläufig. „Nein, ich werde Marathonläufer und war daher mit Nelli walken.“ Das Gesagte ergibt für ihn wenig Sinn. Paul weiß ja aber, dass vieles, was ich so sage, nur für mich Sinn ergibt und beschäftigt sich deswegen nicht weiter damit. Zunächst … 15 „Marathonläufe“ später und diszipliniertem, fast täglichem Training bin ich der Meinung, dass ich nun ordentliche Walking-Schuhe verdient hätte, die ich mir umgehend im hiesigen Sportgeschäft für sehr viel Geld erstehe. Zufällig ruft mein Vater an, kurz nachdem ich mit meiner neuen Errungenschaft ins traute Heim zurückgekehrt bin. Er fragt, was es Neues gibt. Sofort erzähle ich von meinen Plänen und meinen neuen Schuhen. Papa antwortet auf schwäbisch-philosophische Art: „Ach Mädle, wenn ich do an früher denk, als du no Fußball gschpielt hosch, da warsch noch net so a Bähmulle* wie jetzt. Do warsch hart im Nemma und so schpordlich.“ Er hat leider Recht und denkt wohl sehr oft an die schönen Zeiten, die Jahrhunderte zurückzuliegen scheinen. Sie liegen so lange zurück, dass ich selbst schon fast keine Erinnerung mehr daran habe. Außerdem haften meinem Gehirn eher gern die negativen Erlebnisse des Mia-Lebens an, tolle Sachen will sich das Ding nicht merken, sondern verschiebt es umgehend in die Schublade mit der Aufschrift „nicht vorhanden“. Ich antworte meinem Papa, dass er sich keine Sorgen machen muss, da ich jetzt ja endlich an diese Zeiten wieder anknüpfe und ihm hiermit verspreche, zu meinem ersten Marathon einzuladen. Dass ich jetzt aber auflegen würde, weil ich unbedingt meine neuen Schuhe einweihen muss.
Hündin Nelli merkt sofort, dass heute etwas anders ist als sonst. Mein Stechschritt ist noch stechender und sie versteht die Welt nicht mehr, warum sie nicht alle fünf Meter an den so furchtbar toll duftenden Stellen am Wegesrand ausgiebig schnuppern darf. „Nelli, wir sind doch nicht zum Spaß hier. Jetzt wird nicht geschnuppert, sondern gewalkt!“ Meine Stimme wird kurz vor meiner bekannten Sitzbank aber immer leiser. Ich spüre ganz genau, wie sich Blasen gebildet haben. So groß wie Krater. Schreckliche Blasen. Die schmerzen plötzlich so vehement, dass ich hilflos auf meinem Bänkchen sitze und darüber nachdenke, wie ich nach Hause komme: barfuß? Gar nicht? Oder einfach Augen zu und durch? Ich wähle die letzte Variante und kann die Tränen beim Heimkommen kaum unterdrücken, so werde ich von Schmerzen gepeinigt. Die Blasen sind offen und blutig. Ich berichte Paul telefonisch von meinem Elend und erwähne nebenbei, dass ich mir Walking-Schuhe gekauft habe, die an diesem Übel schuld sind. Den Preis verschweige ich nach wie vor. „Dann können die ja wohl nichts taugen!“, bekomme ich als Antwort. „Natürlich taugen die was, Luxus-Schuhe für xx Euro können nur von allerbester Qualität sein.“ Diesen Satz denke ich nur, ich spreche ihn nicht laut aus. Sondern lasse ihn in dem Glauben, dass ich zu doof bin, mir eigenständig anständige Schuhe zu kaufen. Der wird Augen machen, wenn ich genau mit DIESEN Schuhen das Zielband meines ersten Marathons durchlaufe! Leseprobe
* Bähmulle stammt aus dem schwäbischen Wortschatz und bedeutet auf Hochdeutsch in etwa: Jammerlappen, Heulsuse
Leseprobe
1.
„Mia, einfach in die andere Richtung gucken und gut festhalten“, erklärt mir unser Tierarzt mit einem breiten Grinsen. Ich stehe mit zitternden Knien am Behandlungstisch und muss wie immer assistieren. Das ist so üblich bei Dr. Scherenbach. Ich halte also krampfhaft meinen Kopf so weit nach rechts gerichtet, dass ich schon beinahe einen Krampf bekomme. Um ja nicht sehen zu müssen, wie er meinem armen Hund Lea die Infusionsnadel einführt. Da wird mir sofort schlecht. Eigentlich wird mir schon bei dem Gedanken daran schlecht und daher ist mir grundsätzlich ziemlich übel, wenn ich die Tierarztpraxis betrete. Herrn Doktor hält das jedoch nicht davon ab, stets seine Witze über mich zu machen. Meistens in der Form, dass er mir in allen Einzelheiten erklärt, was er momentan so treibt. „Herr Scherenbach, ich will jetzt echt nicht wissen, ob es hier nun eine Blutlache auf dem Behandlungstisch gegeben hat oder nicht“, stöhne ich qualvoll. Er lacht nur. Allein das Wort „Blut“ reicht in so einem Moment aus, dass ich Angst haben muss um mein Frühstück. Ungern würde ich ihm das vor die Füße speien, wobei ich denke, dass er selbst da noch lachen würde. Ich bettele ihn also an, umgehend mit seinen Witzchen aufzuhören, ebenso mit irgendwelchen Blutbeschreibungen, sondern sich zu beeilen, weil er sonst seine Assistentin vielleicht aus einer Ohnmacht erwecken muss. „Ich bin doch schon fertig“, höre ich ihn sagen. Ich lasse Lea also los, belasse meinen Kopf aber vorsichtshalber in Krampfstellung, schließlich liegt noch das ganze gebrauchte Nadelzeugs hier rum, Blutflecken inklusive. Bevor er hier nicht sauber gemacht hat, gehe ich in Assistentenstreik.
Ja, so ist das immer mit uns beiden. Wir verstehen uns prächtig. Gleich zu Anfang, als absehbar war, dass wir nun vermutlich öfter das Vergnügen miteinander haben werden, folgte ein Outing meinerseits. Schließlich muss er doch wissen, dass ich nicht irgendeine Kundin bin, sondern eine ganz besondere. Eine mit massenhaft Angst in den Knochen. Einhergehend mit butterweichen Knien und der beständigen Befürchtung, ob nicht doch der schlimmste aller Fälle eintritt: mich zu übergeben oder in Ohnmacht zu fallen. Genau das ist es doch, was mir stets solche große Angst macht, aber noch nie praktisch seine Vollendung fand. Egal, mein böser Piepmatz im Ohr suggeriert mir trotzdem täglich aufs Neue: große Gefahr, jetzt und heute ist es sicher so weit: Kotzgefahr! Dem Piepmatz gehört der Hintern versohlt!
Damit er über mich und manch seltsame Anwandlung meinerseits also im Bilde ist, habe ich ihm gleich beim zweiten Besuch die schonungslose Wahrheit der Mia vor Augen geführt. Herr Doktor nimmt es mit Humor. Gut für ihn – und für mich. Meinem Hund ist es am heutigen Tag schnurzegal, wer Humor hat oder nicht, ob Blutlachen auf dem Tisch liegen oder sein Frauchen gleich aus den Latschen kippt. Sie ist das Leiden in Person, ähm, in Hund. Und trotz hervorragender tiermedizinischer Kenntnisse ist es Herrn Scherenbach heute nicht möglich, eine Diagnose zu stellen. Leas Symptome muten sehr besorgniserregend an, doch keine der Untersuchungen bringt eine Erklärung und schon gar keinen Befund. Ich schaue Lea tief in ihre leidenden Augen und beschwöre sie, doch bitte nicht auch so anzufangen wie ihr Frauchen. Die ist seit Jahrzehnten nicht nur seelisch leidend, sondern vor allem körperlich. Doch kein Arzt der Welt hatte seither einen Befund parat trotz millionenfacher Untersuchungen jeglicher Art. Bei denen war und bin ich kerngesund. Davon merke ich leider nur nichts. Oder noch besser: Ganz gern stellte man dann die Diagnose „psychosomatisch“. Das ist eine herrliche Erklärung für alles, wo man als Arzt im ersten Anlauf nicht weiterkommt. „Lea, bist du jetzt etwa auch ein Psycho?“
Dr. Scherenbach und ich einigen uns darauf, dass sie wirklich sehr krank, die Ursache aber nicht zu finden ist. Ich bin wirklich stolz. Ja, auf Lea auch, weil sie so tapfer ist. Aber eher auf Dr. Scherenbach. Bisher habe ich bei keinem Arzt erlebt, dass er zugibt: „Ich finde nix“. Das macht ihn mir doch gleich noch sympathischer. Da er aber nicht nur witzig und sympathisch ist, sondern ebenso enorm clever, lässt er sein Hinterstübchen rauchen, um im Fall Lea dennoch auf einen grünen Zweig zu kommen. Er fragt mich daher noch einmal ganz genau nach dem Ablauf am Morgen, den ich in verkürzter Form schildere: „Vorhin war noch alles völlig o.k. Und Sekunden später eben nicht mehr.“ Diese überaus gehaltvolle Erklärung trägt wenig dazu bei, Dr. Scherenbach bei seiner Diagnostik zu unterstützen. Daher behandelt er einfach symptomatisch. Dass sich bei uns zu Hause vorhin wahre Dramen abspielten, als ich Leas Zustand bemerkte, binde ich ihm logischerweise auch nicht auf die Nase. Sonst macht er sich nur noch mehr lustig über mich. Ich habe es aber auch wirklich nicht leicht. Morgens um sieben jedenfalls befand sich Lea noch in allerbester Form. Meine gute Laune hielt an diesem neu beginnenden Tag aber leider nur exakt 10 Minuten an. Dann nämlich begann urplötzlich das Leiden Christi meines Hundes. Warum, wieso, weshalb? Das weiß ich doch nicht. Deswegen war mir nach Entdeckung dieses Phänomens sofort klar, dass nur Dr. Scherenbach helfen konnte. Und eben mein Mann Paul. Der nämlich sollte mit ihr den Weg zum Tierarzt antreten. Ich gehe jedenfalls nicht in diese Höhle des tierärztlichen Löwen!
„Paul, bitte. Lass mich nicht allein. Ich kann nicht zu Doc Scheri, mir geht’s gar nicht gut.“ Was wirklich den Tatsachen entsprach, da mein Kreislauf inzwischen schwer durchhing. Was bei den vielen Geschehnissen wirklich kein Wunder ist. Zudem würde ich meinen Angstpegel auf einer Skala von 1 bis 10 bei ungefähr 7 einschätzen. Der Pegel steigt in so einem Falle sehr schnell. Vorhin noch bei annähernd 0, jetzt bei 7. Von 0 auf 7 in 10 Sekunden – rekordverdächtig! Ein Zustand also, in dem ich keinesfalls das Haus verlassen konnte, um mich zu Dr. Scherenbach zu begeben. „Du machst das schon, liebe Mia. Ich muss jetzt arbeiten gehen“, war seine sehr ruhige Antwort und weg war er. Boah, ein sterbender Hund sowie eine panische Frau und mein Mann war die Ruhe weg. Männer! So blieb mir nichts übrig, als mich auf meine eigenen Fähigkeiten zu verlassen. Ich griff also zum Hörer und wählte Scheris Nummer. Auf der Festnetznummer erreichte ich ihn schon mal nicht. Kein Problem, der Herr hat schließlich auch ein Mobiltelefon. Da er ein sehr pflichtbewusster Tierarzt ist, geht er da fast immer ran. Auch am Wochenende, was heute eingeleitet wurde, denn es ist Samstagmorgen 8.25 Uhr. Da sollte man doch annehmen, dass ein Tierarzt bereits in der Praxis steht und Tiere versorgt. Mein Tierarzt jedoch lag noch im Bett, was man unschwer an der sehr müden Stimme feststellen konnte. Ich fand, dass es um diese Zeit schon angebracht wäre, endlich aufzustehen und sich um panische Frauen und kranke Hunde zu kümmern. Also schilderte ich ihm schnell das aktuelle Drama. Ich wählte vermutlich zu Anfang die falschen Worte. Die da waren, dass mein Hund extrem komisch sei und momentan nicht aufstehen könne und am ganzen Lieb zittere. Warum nur nehmen mich Männer nie ernst. Seine Antwort darauf, „Na , sie wird halt ein bisschen Fieber haben und erkältet sein.“ Meine Erwiderung auf seinen lapidaren Kommentar hatte eine besondere Tonlage inne, die ihn sofort aufhorchen ließ. Doc Scheri wusste um meine medizinischen Grundkenntnisse aufgrund langjähriger Erfahrungen mit Hunden. Und so änderte er umgehend seine Meinung und machte sich nun ebenso große Sorgen. Wir verabredeten uns eine Viertelstunde später in der Praxis, nachdem wir einvernehmlich festgestellt hatten, dass uns beiden dieses Zeitlimit für ein bisschen Katzenwäsche und um uns in Klamotten zu schmeißen ausreichen müsste. Ich stand schon nach 5 Minuten in den Schuhen, raffte hektisch meine Handtasche, raffte danach einen Wollteppich, in den ich Lea sachte einwickelte. Beides unter den Arm geklemmt, lief ich im Eiltempo nach draußen. Mein Angstpegel lag zwischenzeitlich bei satten 8. Bei dieser Pegelzahl verkrümele ich mich üblicherweise unter meiner Bettdecke und hoffe auf bessere Zeiten. Kein Mensch der Welt könnte mich in dieser Phase vor die Tür bekommen. Da könnte die Welt untergehen, ich würde weiterhin auf meine Bettdecke bestehen. Ein kranker kleiner Hund jedoch schaffte dieses Wunder – unglaublich!
Oh nein, das darf doch echt nicht war sein. Seit Wochen schon gab es keinen Nachtfrost mehr, aber ausgerechnet heute, wenn ich mit Blaulicht zum Tierarzt fahren muss, war das Auto zugefroren. Ich verfrachtete die zitternde Lea samt Handtasche ins Auto und suchte hektisch nach einem Eiskratzer. Natürlich fand ich keinen. Wir waren ja bereits auf Frühling eingestellt. Trotz Panik funktionierte mein Notfallsystem erstaunlich gut. Und die tolle CD, die auf dem Beifahrersitz rumlag, kratzte das Eis fast noch besser von den Scheiben als unser Eiskratzer. Ob man nach meiner Aktion allerdings noch rhythmische Musik mit ihr abspielen konnte, war mir in dieser Notfallsituation wirklich egal. Schließlich ging es um Leben und Tod. Nach getaner Kratz-Arbeit erkannte ich, dass es sich leider um Pauls Lieblings-CD handelte. Ich tat so, als wüsste ich von nichts und legte sie fein säuberlich an ihren alten Platz zurück. Muss er ja nicht wissen, dass ich in meiner panischen Verrücktheit seine CD geschrottet habe. Vorsichtshalber schaute ich noch mal total unauffällig nach rechts und links und vorne und hinten durch die Gegend, ob auch wirklich keine Nachbarn des Weges waren, die meine Handlung bezeugen und damit petzen konnten. Nö, niemand auf den Beinen – außer mir, Lea und der Lieblings-Musik von Paul. Weitere 3 Minuten später stand ich bereits vor der Tierarztpraxis. Herr Scherenbach ist ein Mann. Müsste demzufolge also wesentlich schneller startklar sein als ich. Außerdem hatte er von Wohnung zu Praxis lediglich 10 Stufen zurückzulegen. Ich dagegen musste nach Katzenwäsche noch schnell ein wenig Schminke ins Gesicht zaubern sowie einen Fahrtweg samt Eisproblem an den Scheiben zurückzulegen. Trotzdem ließ er mich warten! Lea wurde langsam echt schwer in meinem Armen, es war kalt und meine Knie zitterten angstbedingt bedenklich. Ob sich ein Tierarzt wohl auch in Wiederbelebungs-Maßnahmen für Frauen mittleren Alters auskennt?
Nicht nur um mein Hündchen und um eine Ohnmacht oder das berühmte Kotzerle hatte ich in diesem Moment Angst. Nein, zusätzlich plagten mich vielerlei andere Dinge. Da wäre zum einen die Tatsache, dass mein Hund mangels Pauls Hilfe ganz allein von mir abhängig war und ich es irgendwie schaffen musste, trotz Angst, Kreislaufproblem und sonstigen Beschwerden irgendwie in diese Tierarztpraxis zu kommen. Die erste Hürde hierzu hatte ich glücklicherweise genommen, ich stand zumindest schon vor der Tür. Wenn er allerdings nicht bald kam, würde ich wohl flüchten müssen, denn lange hielt ich diesen Angstzustand samt Anspannung nicht mehr aus. Scheri, wo sind Sie denn?
Zurück zur Behandlung. Bei der sind wir ja nun glücklicherweise endlich angekommen. Nachdem Doc Scheri nichts finden kann, entschließt er sich zu einer allgemeinen Behandlung auf Verdacht quasi. Diese besteht zunächst aus zwei Spritzen, was ich noch nicht sonderlich schlimm finde. Als er mir dann jedoch mitteilt, Lea hätte unbedingt noch eine Infusion nötig, hat er mich voll erwischt. Die Panik in meinen Augen ist kaum zu übersehen. „Wie lang dauert das?“, ist meine erste Frage. „Och, zwei Stunden bestimmt. Ich gehe dann so lange hoch einen Kaffee trinken und schaue kurz vor Mittag noch mal nach euch.“ Er kann kaum sein Lachen verbergen, als er meine Gesichtszüge sieht. In diesem Moment hätte ich ihn erwürgen können. Er machte es wieder gut, indem er mir Stein und Bein schwört, dass wir das alles in allem in 20 Minuten schaffen können und er mir selbstverständlich Gesellschaft leistet. Aber: Ich müsse mich hier zu Lea setzen und aufpassen, dass sie still hält. „O.k., das kriege ich vielleicht hin, aber wo ist bei Ihnen das Klo? Ich muss zuerst ganz dringend pinkeln gehen.“ Und so sitze ich nach Entleerung meiner Blase händchen- bzw. pfötchenhaltend vor Lea und warte und warte. Und wer hält mir dabei mein angstschweißnasses Händchen? Ich schaue alle drei Sekunden auf die Infusionsflasche, um genauso alle drei Sekunden zu bemerken, dass wir es gleich geschafft haben. Herr Scherenbach versteht wohl sehr gut, dass ich in diesen Minuten wirklich große psychische Unterstützung benötige und bestätigt meine Vermutung jedes Mal. Erst nach 30 Minuten wird es endlich wahr. Lea kommt frei und wir können gehen. Den letzten Schock verpasst er mir mit den Worten, dass er ihr die Infusionsnadel gerne noch in meinem Hund belassen möchte, damit wir im Zweifelsfall schnell eingreifen können. „Wie, im Zweifelsfall? Was meinen Sie denn damit? Ist es doch so schlimm?“ Ja, ja, es ist nicht einfach mit mir. Ich kann den Raum allerdings nicht verlassen, ohne mich zusätzlich nicht genau versichert zu haben, dass mit der Nadel nichts passieren kann. Kein Durchstechen einer Vene, kein Verbluten meines Hundes. Man nennt das einen Dauerverweil-Katheter und er ist aus Plastik. Aha, das beruhigt mich und hört sich logisch an. In ungefähr vier Stunden hat mein Mann Feierabend, so lange werde ich die Zeit mit Katheter-Lea doch hoffentlich allein durchstehen. Ich nehme Lea abschließend in den Arm und flüstere ihr zu: „Die Medizin von Onkel Doktor Scheri ist klasse und wird dir helfen. Du wirst daher weder sterben noch anderweitig Kummer bereiten. Jedenfalls nicht, bevor Paul zu Hause ist, verstanden?“
Als ich daheim ankomme, laufe ich mit stolz geschwellter Brust ins Wohnzimmer und kann mir nicht verkneifen, die Becker-Faust nachzumachen. Ich bin der Held, ich hab’s geschafft. Angst durchstanden, nicht geflüchtet, nicht übergeben und meiner Lea das Leben gerettet – auch wenn keiner von uns weiß, wovor sie nun genau gerettet wurde, eine Diagnose gibt es ja nicht. Das muss ich gleich Paul erzählen. Vor lauter Aufregung vertippe ich mich beim Anwählen seiner Handynummer und habe irgendeinen fremden Mann in der Leitung. Wie peinlich. Beim zweiten Versuch erreiche ich ihn und es sprudelt nur so aus mir heraus. Ich frage ihn mindestens fünfmal, ob er denn nicht auch stolz auf seine Frau wäre, was er mir selbstverständlich bestätigt. In allen Einzelheiten beschreibe ich ihm mein heldenhaftes Tun, vergesse dabei total, dass es hier eigentlich primär um den armen Hund geht und nicht um Heldin Mia. Nach meinem Monolog will Paul dann wissen, in welcher Verfassung Lea inzwischen sei. Ähm, ach ja Lea. Die habe ich jetzt ganz vergessen. Wo ist sie denn? Gerade lag sie mit ihrem Katheter-verbundenen Vorderbeinchen neben mir auf dem Sofa. „Paul, tut mir leid, ich muss jetzt sofort auflegen“, erwidere ich kurz angebunden und schmeiße meinen Mann aus der Leitung. Das darf jetzt wohl echt nicht wahr sein, oder? Lea, willst du mich veräppeln, hä? Springt die plötzlich quietschvergnügt mit ihrer vierbeinigen Kollegin Nelli durch die Gegend und spielt mit ihr, als sei nichts gewesen. Hierfür kann es nur folgende Erklärung geben: Entweder es handelt sich um eine wundersame Wunderheilung oder Lea ist doch ein Psycho. Oder sie wollte mit mir gemeinsam ein bisschen Angstkonfrontation machen. Und so schließe ich meinen therapeutischen Vormittag krönend ab, indem ich mir die Psycho-Kandidatin schnappe, ihr den Verband heruntermache und eigenhändig die Plastiknadel aus ihrer Vene ziehe. Und zwar so souverän, als hätte ich nie etwas anderes getan. Das bisschen Nachbluten löst momentan nicht mal Brechreiz in mir aus. Ich wickele ihr einen Druckverband um den Fuß und entlasse sie zu ihrer Freundin zum Spielen.
Doc Scheri teile ich per Mail umgehend mit, dass die sterbenskranke Lea in Sekundenschnelle gesundet ist, ich (ich ganz allein!) ihr daher wie besprochen ihre Notfallnadel gezogen habe. Er kann mich also zukünftig im Bedarfsfall gern als Assistentin einstellen. Seine Antwort darauf: „Aber nur, wenn Sie mir bei der nächsten Kastration einer Hündin assistieren. Da können Sie dann mal einen Blick in den blutig-offenen Bauch eines Hundes werfen und was da alles so an Organen herumliegt.“ Ich lehne dieses großzügige Angebot dankend ab. Und das, obwohl ich begleitend dazu sogar ein Geschenk in Aussicht gestellt bekomme: einen extra-schönen blauen OP-Kittel in der Größe XS.
2.
Die Erde bebt und ich bin mittendrin: auf der Ü-30-Party. Viele nicht mehr ganz jugendliche Menschen tummeln sich mit mir auf der Tanzfläche und verrenken ihre Körper rhythmisch zur Musik nach dem Motto: je oller, desto doller. Ich dagegen tanze eher verhalten – falls man meine zaghaften, kaum wahrnehmbaren Bewegungen überhaupt tanzen nennen kann. Da meine Kondition leider etwas zu wünschen übrig lässt, lege ich eine Zwangs-Verschnaufpause ein, ziehe mich in eine dunkle, stillere Ecke zurück. Und dann sehe sich sie: Gisela. Herrje, was macht denn meine Therapeutin Gisela auf der Ü 30? Das ist ja wohl mehr als peinlich. Ich habe die 30 ja nun schon extrem weit überschritten, falle unter den Ü-30ern hier aber wenig auf. Gisela dagegen würde ich eher in die Kategorie U-100 ( = unter 100) einstufen. Obwohl sie sich für ihr Alter wirklich gut gehalten hat, könnte sie glatt meine Mutter sein. Und mit Mami möchte man sich auf einer Party in den seltensten Fällen blicken lassen. Da ich in fast allen Belangen dennoch immer ein höflicher Mensch bin, begrüße ich sie natürlich freundlich. Erst jetzt in allernächster Nähe von Gisela kann ich erkennen, was für ein Outfit sie am Leibe trägt. Gewöhnlich kennt man sie in außerordentlich feminin-feiner Kleidung. So ähnlich wie die ganz feinen Damen der Oberschicht. Ob sie als Therapeutin wohl auch schon zur Oberschicht zählt? Vielleicht hat sie aber auch nur reich geheiratet – oder wurde reich geschieden. Wer weiß das schon.
Heute allerdings ähnelt sie eher einer Bordsteinschwalbe: kurzer schwarzer Ledermini, Stiefel bis übers Knie mit derart hohem Absatz, dass ich sie eher als Stelzen bezeichnen würde. Dazu ein transparentes Blüschen, aus dem ihre üppige Oberweite bei jeder kleinsten Bewegung heraus zu kippen droht. „Hallo Gisela. Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen“, entgegne ich stammelnd „Aber Mia, haben Sie denn schon vergessen, was wir in der letzten Therapiesitzung geübt haben?“ Ich muss kurz nachdenken, dann weicht mir jegliche und mit viel Mühe vorhin im Bad aufgemalte Farbe aus dem Gesicht. Sie wird doch nicht?!
Plötzlich fängt sie zu tanzen an. Aber wie. Wenn ich es nicht genau wüsste, käme ich auf die Idee, sie will mich anbaggern. Hilfe, die Gisela spinnt doch total. Ich stehe nicht auf alternde Therapeutinnen. Mit kreisenden Hüften und wippendem Busen hüpft sie vor mir herum, zwinkert mit dem rechten Auge und wirft mir einen Kussmund zu. Plötzlich fasst sie meine Hand und führt mich einmal quer durch die Kneipe zum Tresen. Für ihre U-100 ist sie noch ganz schön beweglich, denn sie schwingt sich gekonnt zuerst auf einen Barhocker, von diesem dann weiter auf den Tresen und vollführt eine Show, die kein Coyote-Ugly-Girl hätte besser machen können. Ihr linker Busen ist zwischenzeitlich vor lauter Gehüpfe aus dem Blüschen gesprungen. Sie scheint das nicht zu stören, sie ruft nur: „Mir doch alles pupegal.“ Ich versinke vor Scham beinahe im Erdboden, Gisela allerdings verhindert das, indem sie mir ständig zuwinkt und mich auffordert, es ihr nachzutun: „Mia, komm herauf, die Leute wollen dich tanzen sehen!“. Wieso duzt sie mich jetzt auch noch? Es wird ja immer besser. Wir nennen uns zwar schon immer beim Vornamen, blieben aber bisher dennoch stets beim höflichen „Sie“. Zu intim soll es ja zwischen Therapeut/-in und Klient/-in nicht zugehen. Man sieht am heutigen Abend, wo so etwas enden kann. Inzwischen grölt die Ü-30-Menge lauthals, alle klatschen und schreien im Chor „Wir wollen Mia sehen!“. Keine drei Sekunden später heben mich zwei starke Männerarme einfach hinauf auf den Tresen. „Tanz, Mia, tanz!“ Ich stehe stocksteif auf dem Tresen und sehe Giselas lüsternen Blick, knapp darunter ihr nackter Busen. Der ist ziemlich groß und prall. Und dann nimmt sie mich in den Arm, drückt mich sehr eng an sich, grabscht mir zuerst an den Po, dann in den Schritt und knutscht mich sehr feucht auf den Mund. Ich will schreien, kann aber nicht, Annes Zunge in meinem Mund lässt das nicht zu. Als sie endlich von mir ablässt, muss ich eine wichtige Entscheidung treffen: Entweder, ich setze mich weiteren Knutsch-Angriffen von Gisela aus oder ich entgehe diesen, indem ich einfach mitmache beim Coyote Ugly spielen und genauso wild mittanze. Für Gisela würde es dann nämlich sehr schwierig werden, meinen Mund zu treffen, wenn ich uglymäßig herumhüpfe. Tja, Mia, du hast nun die Qual der Wahl: stocksteif stehen bleiben, Angst haben, dich schämen und ja nicht auffallen wollen in der Masse oder eben Giselas Zunge. Bei dieser Aussicht entscheide ich mich dann doch lieber für Ersteres. Zuerst schnappe ich mir die Whiskyflasche, die direkt neben mir am Tresen steht. Nehme erst selbst einen großen Schluck und hole mir dann einen gut aussehenden Mann aus der Menge an den Tresen heran, dem ich ein ordentliches Schlückchen direkt aus der Flasche in den Mund kippe. Danach folgt eine wirklich klasse Tanzeinlage meinerseits. Ich wusste gar nicht, dass ich so gut tanzen kann. Und es fängt sogar an, mir richtig Laune zu machen. Die Stimmung auf der Ü-30 ist inzwischen am Höhepunkt. Na, kein Wunder, wenn eine gut aussehende blonde Frau wie ich eine solche Show hinlegt. Habe ich das jetzt wirklich gesagt? Habe ich mich wirklich als gut aussehend bezeichnet? Wow, ich sollte öfter auf dem Tresen tanzen gehen, scheint sich bestens auszuwirken auf das Selbstbewusstsein. Neben mir und meiner Tanzshow verblasst Gisela total. Ich hoffe, sie ist nicht beleidigt. Oder sie soll sich wahlweise jemand anderen zum Knutschen suchen, ich habe jetzt gerade einfach keine Zeit. Dafür wird sie doch bestimmt Verständnis haben, sie ist schließlich bestens psychologisch geschult, um sich jeder Situation ihre Klienten anzupassen. Plötzlich spüre ich ein sanftes Rütteln an meiner Schulter. Wer will denn jetzt was von mir? Ist noch jemand auf dem Tresen außer Gisela und mir? Ich höre eine verschlafene Männerstimme fragen: „Mia, wach auf, was ist denn los?“ Wie, was? Wo bin ich?
Ach, alles nur ein Traum? Paul schaut mich besorgt von der Seite an. Er scheint beunruhigt, denn es ist wohl das erste Mal, dass ich im Schlaf laut schreie und im Bett herumzappele. „Ähm, Paul, tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe. Ich hatte wohl einen Albtraum.“ Was mich da genau für ein „Alb“ heimsuchte, verschweige ich besser. Sonst lässt er mich nicht mehr zu Gisela gehen.
Den Rest der Nacht verbringe ich lieber wach. Das ist allemal besser als Giselas blanken Busen anschauen zu müssen. Man weiß ja nie, was einem die nächtlichen Stunden schlafend noch so bringen werden. Obwohl mir das Ende des Traums doch arg gefallen hat. Ich, die ängstliche Mia, tanzt als Coyote Ugly ausgelassen auf dem Tresen und spürt dabei völlig andere Dinge in sich außer Angst: Freude, Spaß, Ausgelassenheit – ach, herrlich. Und schert sich einen Dreck, was die anderen über sie denken. Aber leider alles nur ein Traum. Das ist ziemlich gemein. Etwas anderes bereitet mir in diesem Zusammenhang aber noch viel mehr Kopfzerbrechen: Wie soll ich Gisela nur jemals wieder in die Augen schauen können bei unseren Sitzungen? Meine Blicke werden sich vermutlich unablässig zu ihrem Dekolletee wenden, um zu prüfen, ob wirklich noch alles am rechten Platz ist. Vor allem, wenn sie wieder eine so eigenartige, überaus „körperbetonte“ Therapie machen sollte wie beim letzten Mal. Das war vielleicht ne Nummer, unglaublich!
Normal sitzt sie bei unseren Zusammenkünften ganz ladylike und fast regungslos in ihrem Sessel. Nur ihr Mund bewegt sich ab und zu. Eine ganz brave Gisela also, der man alles zutraut, nur keine Ausschweifungen irgendwelcher Art. An besagtem Tag jedoch war alles anders: Morgens halb zehn in Deutschland. Normale Menschen nehmen da ihr „Frühstückchen“ zu sich und gehen langsam den Tag an. Im Falle Gisela hieß „morgens halb zehn in Deutschland“: Musik anwerfen, sich die Stiefel von den Hacken reißen, in eine Ecke schmeißen und ausflippen. Sie tanzte wie eine Bekloppte im Zimmer herum, warf die Arme in die Luft. Dazwischen tönten die lauten Klänge der „Atzen“: „Disco Pogo – dingerlingerling dingerlingerling und alle Atzen sing’n.“ Gisela und die Atzen passen ungefähr so zusammen wie der Papst und die nicht mehr existierende Gina Wild. Ich hatte daher erhebliche Schwierigkeiten, dem Geschehen an jenem Morgen logisch zu folgen. „Wir tanzen heut den Pogo Hit – Disco Pogo Atzen Logo – Atzenstyle ist Disco Pogo-Atzen rasten nicht Alter, feiern mit dem Atzen Logo, schubsen, drücken, hüpfen, springen, raufen, saufen, tanzen, pogen“, klingt es weiter unerbittlich aus den Lautsprechern. Ich überlegte angestrengt: Gisela befand sich scheinbar auf einer Party mit den Atzen. Warum ausgerechnet morgens, wenn ich bei ihr war? Konnte sie nicht später feiern oder mit dem nächsten Klienten oder am Wochenende, wie es sich gehört? Was um Himmels willen wollte sie nun noch mit dem Stuhl? Gisela, bitte nicht!!! Bitte nicht auf dem Stuhl tanzen. Das war erstens extrem gefährlich – nicht nur für heraus hüpfende Dekolletees. Zweitens rückte sie durch die erhöhte Tanzfläche genau in den Blickwinkel ihrer Nachbarn, die nun durch die weitläufige Fensterfront dem Spektakel beiwohnen konnten. Als hätte sie meine ängstlichen Blicke Richtung Fenster verstanden, rief sie mir ziemlich atemlos zwischen zwei „Dingelings“ zu, dass ihr die Nachbarn völlig pupegal wären. Was die über sie denken, wäre ihr auch pupegal. Was ich von ihr in diesen Minuten halte, wäre ihr noch mehr pupegal. Alles pupegal. Die ganze Zeit während Annes Partytime hatte ich echt den Mund gehalten und mich zu nichts geäußert. Aber das ging nun wirklich zu weit. Kurz vor dem nächsten „dingeling“ schrie ich empört zurück: „Das heißt nicht pupegal, sondern pupsegal!“ Wie konnte man ein so schönes Wort nur so verunglimpfen, das nahm dem Ganzen doch völlig den klangvollen Effekt.
Nach zwei Durchgängen Disco Pogo hatte es sich ausgedingelingt. Gisela stand kurz vor einem Infarkt. Ich hatte trotzdem kein Mitleid mit ihr. In fortgeschrittenem Alter wie dem ihren sollte man mit seinen Kräften eben haushalten. Und sich darüber hinaus altersentsprechend benehmen. Wo kämen wir denn hin, wenn nun alle U-100 dieser Welt derart ausrasten? Just in dem Moment, in dem ich ihr genau diese meine Empörung über ihr peinliches Verhalten kundtun wollte, hatte sie wieder genügend Atemluft gesammelt, um mir eine Erklärung zur Tanzparty abzugeben. Aber gern doch Gisela. Ich war sehr gespannt, was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hatte. Aber bitte nicht ohne Stiefel. Eine Therapeutin in Feinstrümpfen ohne Schuhwerk konnte man doch wahrhaft nicht ernst nehmen.
Zunächst kam aus ihrem Munde aber keine Erklärung, sondern die Frage aller Fragen, die man so bitte niemals dem eigenen Ehemann zu Hause stellen sollte: „Was fühlen Sie jetzt Mia?“ Herrschaftszeiten, was sollte ich fühlen?! Erst mal fühlte ich gehörig meine Blase drücken. „Aber klar können sie kurz aufs Klo, Mia“, antwortete Gisela auf meine Bitte, mal austreten zu dürfen. Ich machte mich den langen, weiten Weg hinunter ins Erdgeschoss aufs Klientenklo. Da darf es nicht dringend sein, sonst passiert ein Malheur, bis man endlich unten angekommen ist. Ich öffnete blitzartig meinen Reißverschluss, denn die Dringlichkeit meines Anliegens war als überaus hoch einzustufen. Zu allem Unglück hing versehentlich meine Strickjacke mit einem Zipfel im Örtchen, was ich allerdings erst nach getaner Arbeit bemerkte. Irgendwas kam mir da hinten am Rücken plötzlich sehr feucht vor. Na super, nun war ich auch noch zu doof, um allein aufs Klo zu gehen und pinkelte mir übers Jäckchen. Bloß bei Gisela nichts anmerken lassen. So gut es ging, säuberte und trocknete ich das Dilemma weg und erschien gefühlte 200 Stufen später nach Luft ringend zurück zur Therapie. „Also Mia. Nun erzählen Sie aber mal, was Sie fühlen.“ Was ich fühlte? Wollte sie das wirklich wissen? Na gut, das konnte ich ihr ziemlich detailliert schildern: „Ich fühle, dass meine Therapeutin völlig gaga ist. Dass sie mir nachher ein nicht unerhebliches Honorar abknöpfen wird dafür, dass sie am hellen Morgen ohne Stiefel auf dem Stuhl tanzt und sich völlig lächerlich macht. Außerdem fühle ich, dass mich diese Tatsache enorm wütend macht.“ So, jetzt hatte ich es ihr aber gegeben. Doch sie lächelte noch immer. „So ist es gut, lassen Sie Ihre Wut ruhig raus“, meinte sie noch. „Aber was steckt nun wirklich dahinter, Mia, hm?“ Gisela konnte manchmal sehr penetrant sein. Also tat ich ihr den Gefallen und ging in mich. Ließ die eben durchlebte Party-Atzen-Szene noch mal an meinem geistigen Auge vorüberziehen und brach dann umgehend in Tränen aus. Ach was, das waren keine Tränen, das waren Niagarafälle an Flüssigkeit, die aus meinen Augen quollen.
„Ich will auch“, stammelte ich. Meine Tränenbäche wurden begleitet durch ein paar Schluchzer, die die Dramatik meines Innersten auf eindringliche Weise bekräftigten. „Ich will endlich auch pupegal machen“. Heißt übersetzt: Ich will ohne Angst leben, ohne Panik und vor allem ohne Scham, was die Leute wohl von mir denken. Jaja, ich hatte nun endlich kapiert, was Gisela mit dem ganzen Firlefanz an Tanzen und Ausflippen aus mir herauskitzeln und zeigen wollte. Und zwar nicht, dass meine Therapeutin gaga ist, sondern ich – was mir natürlich nicht erst seit gestern bekannt ist, sondern schon immer. Aber als Angstpatient ist man clever. Man erfindet mit der Zeit die tollsten Tricks, um sich trotzdem irgendwie durchs Leben zu wurschteln. Ich bin in der Hinsicht ein wahrer Zauberkünstler, meine Tricks sind unerschöpflich und sehr phantasievoll. Ich hatte ja aber auch genug Zeit zum Üben. Jedenfalls denke ich, dass 30 Jahre ausreichen müssten, um hierin ein echter Profi zu werden. Ich, die wunderbar verrückte Mia, bin also eine wahrhafte Überlebens-Zauberkünstlerin und Meisterin ihres Fachs. Und habe mit Gisela nach langjähriger Suche und hohem Therapeuten-Verschleiß endlich eine ebenbürtige Gaga-Meisterin gefunden, die mir mit ihren Tricks und Kniffen das Wasser reichen kann. Das hatte sie mit dieser speziellen „Sitzung“ erneut eindrücklich bewiesen. So eindrücklich, dass sie mich damit sogar bis in meine Träume verfolgt, wie man nun sehen kann. Gisela knutscht mich und ich werfe, um ihr zu entkommen, meine Ängste komplett über Bord und werde zur wilden Tresen-Coyotin. Warum nur gibt’s im realen Leben keine solchen tollen Happyends?
Endlich fängt es draußen zu dämmern an, der Tag kommt. Ich habe also keine Fortsetzung des Albtraums mit Gisela mehr zu befürchten. Wenn das kein Grund ist, beschwingt und gut gelaunt in den heutigen Samstag zu gehen. Trotz Alb schleicht sich dennoch eine leichte Wehmut ein: Ich will das Happyend vom Traum haben. Hier und jetzt und am besten sofort. Da frühmorgens um diese Uhrzeit recht wenige Ü-30 oder sonstige Partys stattfinden, überdenke ich, ob ich die Szene nicht einfache heute Abend irgendwo nachstelle. Und zack, danach bin ich geheilt. Mein Piepmatz im Ohr (der böse Piepmatz, der mir nahezu ständig Blödsinn einredet) meldet sich sogleich zu Wort: „Mia, Mia. Ein bisschen naiv heute morgen, was? Lass es einfach sein.“ Von wegen! Ich hole schnellstens die Tageszeitung herbei, um nachzuschauen, welche Partys heute Abend steigen. Paul wundert sich und fragt vorsichtig, was ich vorhabe. „Na, Partys schauen, schließlich tanze ich heute Abend auf dem Tresen.“ Er verlässt ohne einen weiteren Kommentar unser Schlafzimmer. Er ist etwas durcheinander. Schließlich ist das letzte, was er von mir in Erinnerung hat, meine lauten Albtraum-Schreie vor ein paar Stunden. „Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Mia?“, fragt er misstrauisch. „Alles bestens“, antworte ich, verzichte aber nach wie vor auf nähere Erklärungen. Ich habe neulich gelesen, dass eine gut funktionierende Ehe immer ein paar Geheimnisse braucht …
Nach all der Aufregung gibt es für mich aber noch etwas Wichtiges zu klären heute. Die spontane Schnellheilung auf dem Party-Tresen. Die muss nämlich leider verschoben werden.
Ich kann überhaupt nichts dafür, ehrlich. Sondern es mangelt gehörig an geeigneten Partys am heutigen Abend, demzufolge mangelt es ebenso am geeigneten Tresen. Keine einzige Party weit und breit im gröberen Umkreis. Sind die alle doof? Mir meine Party vorzuenthalten? Na gut, ich werde es sicher noch ein paar Tage aushalten mit mir und der Angst. Tanze ich halt ein anderes Mal …
3.
Auch das noch. Ich gehe gerade meiner Lieblingsbeschäftigung nach: Nutella löffeln. Das ist eigentlich ganz ungefährlich. Außer man nascht zu viel davon, dann kann der Magen schon mal rebellieren. Da ich dieses Laster bereits viele Jahre hege und pflege, weiß ich ziemlich genau, wie viel Dosis an Nutella ich vertragen kann. Heute ereilt mich dabei leider ein folgenschwerer Unfall. Vor lauter Gier beiße ich versehentlich unkontrolliert auf meinen Löffel. Ich war auf Entzug, daher konnte es mir nicht schnell genug gehen. Nun habe ich den Salat. Es gibt sicher sonst niemanden auf der Welt, der sich beim Nutella-Naschen den Zahn kaputt beißt. Nur ich bringe so was natürlich fertig. Ein Stück des oberen Schneidezahns hat sich selbstständig gemacht und hinterlässt eine lustige, klitzekleine Lücke. Was das für mich bedeutet, daran will ich nicht mal denken. Nein, ich will nicht. Auch wenn Johann ein supertoller Zahnarzt ist: ICH WILL NICHT! Einen Tag und eine Nacht kann ich diese Haltung aufrechterhalten, dann siegt doch die Vernunft. Man soll es nicht glauben, dass die auch mal gewinnt, überwiegend steht die Angst auf dem Siegerpodest. Doch der liebe Johann hat meine Zahnarztbesuche revolutioniert und bewahrt mich glücklicherweise davor, dass mir meine Zähnchen aufgrund Besuchsverweigerungen viel zu früh ausfallen. Es ist nicht so, dass ich die Dringlichkeit regelmäßiger Besuche ganz grundsätzlich (und vor allem im aktuellen Fall) nicht einsehen würde. Meine Angst allerdings untersagt mir solche Events kategorisch. Erst als ich Johann kennen lernte, wagte ich mich langsam, zaghaft und für meine Verhältnisse überaus mutig an diese Groß-Konfrontation heran. Johanns Praxis liegt nun nicht gerade ums Eck, sondern es trennen uns gute 30 Kilometer – eine Weltreise für mich. Vermutlich hätte ich niemals von seinen wahrhaft wundersamen Fähigkeiten erfahren, wäre nicht der griechische blonde Vierbeiner Sokrates bei ihm eingezogen. Durch diesen kleinen Welpen kreuzten sich unsere Wege vor langer Zeit zufällig. Griechen schaffen also das, was kein anderer schafft: befeindete Gebiete wieder zusammenzubringen, also mich und die gefürchteten Zahnarztbesuche. Nachdem aus dem kleinen Griechen irgendwann ein ziemlich großer Grieche geworden und ein Jahr vergangen war, wollte ich aus reiner Neugier mal wissen, wie es dem Kleinen denn inzwischen so geht. Als Hundemutter interessieren einen solche Dinge halt, also verfasste ich eine kurze Mail. Die Antwort kam von Johann in Form eines Fotos und zwei Sätzen:
Das Foto zeigt einen Hund an einer befahrenen Straße, angebunden an ein Bäumchen. Er ist auch blond und sieht Sokrates zum Verwechseln ähnlich. Unter dem Foto steht mit großen Worten geschrieben: „Wie gewünscht ein Bild von Sokrates. Wir sind gerade unterwegs in den Urlaub und das ist das letzte Bild, was wir von ihm gemacht haben.“
Tiefschwarzen Humor hat er ja, der Johann. Dies deutete sich bereits damals bei Vermittlung des Welpen an. Mit dieser Mail jedoch war mir sofort sonnenklar: Zukünftig gehst du nur noch zu Johann, wenn die Beißerchen das nötig haben. Rein zufällig (gibt es überhaupt Zufälle im Leben oder ist es nicht eher Schicksal?) schreien meine Beißerchen gerade jetzt aufgrund des Nutella-Unfalls äußerst dringend um die Hilfe eines erfahrenen Menschen. Außerdem hatte sich bereits eine Woche zuvor schon eine Plombe verabschiedet. Wohin sie wollte, weiß ich nicht. Bei mir hatte sie es doch immer so schön: täglich mehrfach lecker Nutella zum Genießen, wo kriegt man das schon als Plombe. Vielleicht steht sie ja aber auch auf andere Brotaufstriche und wollte mir dies durch den unbarmherzig abrupten Abschied deutlich machen.
Nachdem ich durch Johanns außergewöhnliche Mail relativ sicher war, dass man mit diesem Mann ganz bestimmt Pferde stehlen konnte, wage ich ihm gegenüber ein Outing meines Geisteszustands mit gleichzeitiger Bitte um Rettung meiner Zähne – zunächst um Rettung des Plomben-losen und Eckchen-fehlenden. Ich knüpfe ein beidseitiges Treffen in der Praxis jedoch an gewisse Bedingungen, die da wären: „Mein Termin muss außerhalb der Sprechstunde stattfinden, damit du, Sokrates, ich und deine Frau ganz allein sind.“ Ohne diese ungewöhnliche Grundvoraussetzung wäre an das Herangehen dieses Vorhabens überhaupt nicht zu denken gewesen. Johann findet das überhaupt nicht seltsam. Hätte ich so etwas in einer anderen „normalen“ Zahnarztpraxis verlauten lassen, wäre ich mit äußerst bestimmender Höflichkeit an einen Kollegen verwiesen worden. Hauptsache, die Irre schnell los gehabt. Johann ist da total anders. Er schlägt sogar vor, dass wir uns erst mal ganz ungezwungen bei ihm zu Hause treffen: ein bisschen Sokrates kraulen, nett plaudern, einen kleinen Spaziergang machen, bei dem wir dann absolut zufällig an der Praxis vorbeikommen. Wo wir zufällig schon da sind, könnte ich mir die ja auch gleich anschauen. So sieht sein Plan aus. Er scheint sich mit Irren hervorragend auszukennen. Mir reicht jedoch völlig aus, wenn wir uns ohne großen Staatsakt direkt in der Praxis zusammentreffen. Hauptsache, keine anderen Leute sind da.
Unfassbar. Kaum zu glauben. Ich habe tatsächlich einen Zahnarzttermin ausgemacht. Ich bin so stolz auf mich. Das gleicht wahrhaft einem 7. Weltwunder. Die 30 Kilometer Wegstrecke, die zwischen mir und Johann liegen, finde ich mit Aussicht auf ein alleiniges Date gar nicht mehr so beängstigend und nehme sie daher gern in Kauf. Alles kann man nun auch wieder nicht haben, das muss sogar ich einsehen. Ich fühle mich herrlich frei – trotz Zahnarzttermin. Frei in meinen Entscheidungen. Das macht es fast wieder einfach. Ich bin so langsam eben einfach viel zu schlau für meine Angst und trickse die so was von unbarmherzig aus, dass sie nichts mehr zu lachen hat. Ein klein wenig Schützenhilfe erhoffe ich mir zusätzlich von meinem Mann. Ich heuere ihn als Chauffeur an, um mich die lange Wegstrecke dorthin zu verbringen und danach wieder nach Hause. Doch es kommt, wie es eben immer kommt: Wenn ich meinen Mann für überlebensnotwendige Dinge benötige, hat er keine Zeit. Er verweigert sich daher diesem Plan. Man kann sich die Zeit auch nehmen, argumentiere ich. Er verneint nach wie vor vehement und berichtet mir von seiner unbarmherzigen Arbeitssituation, die danach verlangt, auch an diesem Tag seinem Job nachzugehen. Was interessieren mich die Belange seiner Arbeit, wenn es um ein derlei essentielles Vorhaben geht. Eine ausgiebige und mit drastischer Ausmalung getroffene Umschreibung, was seiner geliebten Frau auf diesem langen Weg alles widerfahren könnte bei alleinigem Steuern des Fahrzeugs, beeindrucken ihn wenig. Ich versuche das eventuell dabei entstehende Drama zu untermalen, indem ich ihm verdeutliche, wie üblicherweise sogar sein eigener Kreislauf (der im Gegensatz zu meinem als äußerst stabil beschrieben werden kann) auf die Gabe einer örtlichen Betäubung zu reagieren pflegt: Er verabschiedet sich. Aber ich, die arme, kleine, angstgeplagte Mia, mit herzlich wenig Kreislauf, dafür umso mehr Übelkeit, soll schleuder- wie auch unfallfrei nach ihrem 7. Zahnarztweltwunder absolut auf sich gestellt heil hin und wieder zurück kommen. Die Nerven meines Mannes möchte ich haben. Er sieht das pragmatisch männlich: wenns mir schlecht wird, könnte ich doch jederzeit kurz rechts ranfahren und in die Natur speien. Danke Paul für diesen tollen Kommentar, ich fahre allein …
Ich wache auf und stelle fest, dass es mir erstaunlich gut geht. Obwohl heute mein Mega-Ereignis stattfinden soll. Warum ist mir denn nicht schlecht? Das wäre ein toller Grund, den Termin kurzfristig abzusagen. Auch ein Migräneanfall lässt heute umsonst auf sich warten. So kurz nach dem Aufwachen bin ich mir noch nicht sicher, ob ich mich nun darüber freuen soll, dass mich momentan kein Wehwehchen plagt oder nicht. Dann freue ich mich halt auf den Zahnarzt. Ich lege mir mehrere Strategien zurecht, wie ich die Zeit bis zum Sitzen auf dem Zahnarztstuhl überstehen soll. Bis dahin kann noch viel passieren. Vor allem viel Angst. Ich greife daher ganz tief in meine Angstbekämpfungs-Trickkiste und beginne mit Trick 1: Ablenkung. Trick 2: kleine Etappen schaffen. Meine gedankliche Route samt Etappen sieht so aus: Ich putze einfach mal die Zähne. Das heißt ja noch lange nicht, dass ich gehen muss. Ich ziehe die Jacke an. Das heißt ja noch lange nicht, dass ich zur Tür raus muss. Ich laufe zum Auto. Das heißt ja noch lange nicht, dass ich wegfahren muss. Um das Ganze zu verkürzen, geht’s dann erst wieder weiter mit: Du parkst ein, gehst in die Praxis. Das heißt ja noch lange nicht, dass du nicht auf dem Absatz sofort wieder umkehren kannst. Und zuletzt: Du machst deinen verdammten Mund auf im Zahnarztstühlchen und lässt nur mal reingucken. Das heißt ja noch lange nicht, dass du dich auch behandeln lassen musst. Und so wird mein Riesenberg „ZAHNARZT“ zu mehreren kleinen Hügeln, die man sogar mit Angst im Nacken erklimmen kann. Das Tolle daran: Der Johann unterstützt mich derart klasse in meinen Etappen und macht damit jedem handelsüblichen Psychotherapeuten Konkurrenz. Vielleicht sollte Johann auch umsatteln, er wäre sicher sehr gefragt.
Trick 3: Nach Ankunft im Horrorkabinett halten wir erst ein bisschen Smalltalk. Vor allem habe ich ausgiebig Zeit, den blonden Griechen zu bekraulen. Tiere zu streicheln baut schließlich Stress ab, wie wissenschaftlich bewiesen wurde. Sokrates hat jedoch kein Interesse, stundenlang gestreichelt zu werden, auch wenn er ein überaus verschmuster Grieche ist. So lange würde es am heuten Tag vermutlich in Anspruch nehmen, bis ich meinen Stress komplett heraus gestreichelt habe. Ich möchte die Gastfreundschaft und Geduld von Herrchen und Frauchen nicht überstrapazieren und befinde mich nun als fähig genug, zur Tat zu schreiten.
Ich mache den Mund tatsächlich auf und gebe Johann die schonungslose Wahrheit preis: das fehlende Plömbchen und die abgebissene kleine Ecke da oben am Schneidezahn. Zwischendurch betone ich noch mindestens 10 Mal, dass ich echt Angst habe und erzähle wirr alles Mögliche durcheinander. Wie man hier nebenbei sprechen kann, ist verwunderlich. Ich schaffe es absolut akzentfrei und ohne einen von Johanns Finger versehentlich abzubeißen. Ich will zum Abschluss meines Redeschwalls dann noch wissen, woher Johann so viel Erfahrung mit Angstpatienten hat. Oder liegt das im Blut? Genetisch veranlagter Angstversteher? Er antwortet mir mit weiterer Eselsgeduld, plaudert aus dem Nähkästchen und merkt zudem an, dass Angstpatienten im Zahnarztstuhl recht schnell zu erkennen sind. Nicht alle posaunen es so hinaus wie ich, da ist es schon wichtig, dass er sich darauf einstellen kann. Ein untrügliches Merkmal sei, wenn die Patienten viel quasseln und sich ständig den Mund ausspülen wollen. Ich bin eben übrigens gerade dabei, mir zum dritten Mal seit Belagern des Stuhls den Mund zwischendurch auszuspülen. Ist das peinlich. Quasseln und Mund ausspülen. Ich tue nichts anderes. Johann merkt, dass ich rot werde und tätschelt tröstend meine Hand: „Ist nicht schlimm Mia, ich versteh das doch!“
Ansonsten ist er absolut zufrieden mit meinem Gebiss. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, ich habe mittelschwere Panik, aber es ist gerade noch so auszuhalten. Erst als Johann mit der großen Spritze ankommt, hör ich fast die Vöglein zwitschern. Ich verabschiede mich in Folge dessen beinahe von meinem Date. Johann reagiert ganz cool, er ist die Ruhe weg. Auch seine liebe Frau steht mir bei und hält mein Händchen, Johann braucht seine beiden Hände nun ja zum Vorbereiten der Mörderinstrumente samt Bohrer und kann daher selber nicht mehr tätschelnd zur Verfügung stehen. Nach zwei Minuten kommt mein Kreislauf wieder und wir können anfangen.
Ich weiß nicht wie, aber 10 Minuten später bin ich stolze Besitzerin einer nigelnagelneuen Plombe. Das bisschen an fehlendem Schneidezahn war sogar noch schneller zu beheben. Einfach ein klein wenig abschleifen das Ganze, fertig. Noch etwas wacklig auf den Beinen, schwanke ich aus dem Behandlungszimmer und nehme die beiden zum Abschied ganz doll in den Arm. Das sind eben die wahren Helden des Lebens.
Der Nachhauseweg verläuft recht reibungslos. Außer einem kleinen Zwischenstopp im Wald, um ein bisschen Wasser loszuwerden. In Form von Pipi. Ich habe die Angst besiegt und könnte jubeln vor Freude. Zudem ist die Aussicht auf weiteren Nahrungs(Nutella-)genuss mit gesunden Zähnen doch auch nicht ohne. Eine weitaus größere Freude ist ja bekanntlich die Schadenfreude. Die keimt just in diesem Moment in mir auf und ich befinde ihn für schuldig. Schuldig im Sinne der Anklage: Seine Frau im Stich lassen. Strafe muss sein lieber Paul, daher bekommt er umgehend diese SMS von mir: „Ich lebe noch. Aber nicht mehr viel. Dies macht Autofahren unmöglich, was du als Ehemann der Betroffenen sicher verstehen wirst. Das Taxi hier ist wirklich komfortabel, aber die komische Zahl da vorne an der Uhr stimmt mich nachdenklich. Macht nix, zahlst ja sowieso du. Dein Auto kannst du an folgender Adresse abholen XX. In Liebe, deine Frau.“
Eine Minute später klingelt mein Handy. Paul. Natürlich gehe ich nicht ran, man soll beim Autofahren doch nicht telefonieren …
4.
Die Länge eines Marathons beträgt exakt 42,195 Kilometer. Das ist ganz schön lang und üblicherweise legt man die Strecke laufend zurück. Ich laufe auch. Täglich sogar. Wobei „laufen“ bei uns Schwaben eigentlich „gehen“ heißt. Wir sagen zum „Gehen“ „Laufen“ und zum „Laufen“ auch „Laufen“. Wir sind ein bisschen faul, was die Sprache angeht. Also, ich „spaziere“ tagein, tagaus in die Natur hinaus, meine Hunde wollen das so. Unser Tempo würde ich in die Kategorie Schneckentempo einordnen. Was heißt: Ich bin die Schnecke und die Hunde rasen wie die Irren derweil durch die Gegend. Zumindest haben die Vierbeiner ihren Spaß! Von 42 Kilometern bin ich dabei weit entfernt. Und das ist gut so. Erstens würde es meiner Angst gar nicht gefallen, wenn ich mich weiter als einen Kilometer von meinem sicheren Bunker (= Zuhause) wegbewege. Zweitens ist mein armer Körper sehr geschwächt durch die fortwährenden Adrenalinausschüttungen, die mein Hirn ständig an ihn sendet: „Alarm, Angst“, so lauten die einzigen zwei Wörter, die mein Hirn gemeinschaftlich mit meinen Körperfunktionen gelernt hat. Die beiden (Hirn + Körper) sind inzwischen das perfekt eingespielte Team und kommen beinahe ohne Worte aus. Heißt, das Hirn muss schon kaum mehr was sagen, da schüttet Freund Körper vorsorglich mal eine Dosis des Hormons aus. Man weiß ja nie. Für unnütze Dinge wie Sport sind leider keine Ressourcen mehr vorhanden. Mein Hausarzt sieht das anders.
Ich habe heute die seltene Gelegenheit, ihm mal wieder hallo zu sagen und mich über diverse Wehwehchen zu beschweren. Unser „Bekanntschaft“ besteht schon einige Jahre, in der wir stillschweigend die traurige Wahrheit dieser Verbindung akzeptieren: sein Latein ist bei mir am Ende. Macht aber nichts, er freut sich trotzdem jedes Mal, wenn ich zu einer meiner gelegentlichen Besuche bei ihm in der Praxis vorbeischaue – solche außergewöhnliche Patienten hat man schließlich nicht alle Tage. Aufgrund der oben genannten Tatsache geschieht dies allerdings nur alle Schaltjahr mal. Damit ich kurz in Erinnerung rufen kann, dass es mich wirklich noch gibt. Wie heißt es so schön: Unkraut vergeht nicht. Bisher verlief der Kontakt zwischen ihm und mir überaus harmonisch. Heute muss ich jedoch kurzzeitig an seinen guten Absichten zweifeln. Ich bin gerade so richtig schön dabei, ein bisschen zu lamentieren und zu jammern über meinen wetterfühligen Organismus. Kreislaufproblemchen hier, Kopfschmerzen da. Prinzipiell ist mir klar, dass Onkel Doktor wie bereits schon Millionen Male zuvor dafür keine Lösung parat hat. Außer, dass man mir mit Holzhammer mal ordentlich eins aufs Haupt gibt und ich dadurch vielleicht endlich normal werde. Um Himmels willen, das hat er so natürlich nicht gesagt. Ich gebe das nur sinngemäß wieder. Doch dann hat er eine Idee. Die da wäre: Sport. „Mia, Sie müssen sich einfach etwas sportlich betätigen, Ihr Herz-Kreislauf-System auf Vordermann bringen, dann reagieren Sie nicht mehr ganz so empfindlich aufs Wetter.“ Super Idee. „Herr Doktor, Sie wissen aber schon, dass ich bereits bei der kleinsten körperlichen Anstrengung drohe in Ohnmacht zu fallen. Außerdem wird mir dabei sofort schlecht“, kommentiere ich seinen Vorschlag. „Papperlapapp. Das denken Sie nur wegen Ihrer Angst. Mia, glauben Sie mir: aus Sogar aus Ihnen kann ein Marathonläufer werden.“
Ich benötige einige Minuten, um mir über die Bedeutung seiner Worte klarzuwerden. Das Wörtchen „sogar“ stört mich dabei ein wenig, es klingt doch sehr diskriminierend in meinen Ohren. „Sogar“ – was will er mir damit sagen? Sogar die verrückte Mia? Sogar die alte, verrückte Mia? Sogar die alte, verrückte, körperlich sehr empfindliche Mia? Sogar dieser Jammerlappen Mia? Da ich ihn sehr gut kenne, gehe ich davon aus, dass er es nur gut mit mir meint und ich den Schwerpunkt seines Satzes daher nicht auf das Wort „sogar“ legen sollte. Reine Gewohnheit meinerseits, zunächst nur das Schlechte zu vermuten, dies in allen Einzelheiten analytisch über Tage zu durchleuchten und im Ergo daraus zu schließen, dass die Welt doch einfach böse ist und ich die ärmste Seele unter der Sonne bin. Dank Gisela beherrsche ich nach viel Üben diverse Tricks und Kniffe contra solcher Angewohnheiten inzwischen aus dem Effeff. Benötige auch keine Tage und Wochen mehr dazu, sondern lediglich wenige Minuten. So auch heute, als ich meinem Arzt während dieses denkwürdigen Besuchs gegenübersitze. Ich erkenne in atemberaubender Geschwindigkeit, dass der Satz des Doktors der Startschuss bedeuten könnte für die Kehrtwende in meinem Leben, da er mir damit keinesfalls diskriminierende Aussagen um die Ohren hauen will, sondern mich ermutigen und Ängste nehmen. Das hat er damit geschafft. Von Marathonläufen sehe ich mich selbst ungefähr so weit entfernt wie der Mond, besser noch der Mars. Mein bescheidenes Ziel: ca. 800 Meter Walking ohne Angst, ich falle tot um. Das Ziel ist nun klar und das doofe Wetter kann in Zukunft machen, was es will: mich kriegt es dann nicht mehr dazu, klein beizugeben.
Der Sommer 2015 ist gekennzeichnet durch folgende Phänomene: Erst kommt das Hoch Birgit daher und beschert uns Temperaturen ähnlich der Sahara. Tief Peter hat scheinbar was dagegen und weht die Birgit schon am nächsten Tag hinweg, um uns mit reichlich Wasser von oben und schwül-warmer Luft ähnlich der Tropen samt orkanartigen Winden zu beglücken. Keine Ahnung, wie die vielen Hochs und Tiefs des Sommers alle im Einzelnen nun heißen, jedenfalls geht es über Monate so weiter im Wechselspiel – keiner der Herrschaften gibt sich für längere Zeit die Ehre, sondern sucht nach lediglich kurzem Aufenthalt wieder das Weite. Mein Organismus findet das wie bereits erwähnt extrem doof. Er tut dies besonders in letzter Zeit kund in ähnlich schnell wechselnden Symptomen, die es in sich haben. Da mein sowieso schon beschwerlicher Alltag dadurch um ein Vielfaches beschwerlicher wird, sage ich allen nun den Kampf an. Gegen die Hoch-Tiefs kann ich leider wenig ausrichten. Meine Verbindung zu Petrus ist nicht ganz so stabil, als dass ich hier einflussreich eingreifen könnte. Demzufolge gilt die Kampfansage schwerpunktmäßig den Symptomen – und auch meiner Angst. Irgendwie ist doch beides das Gleiche! Aus jahrzehntelanger Erfahrung ist mir jedoch hinreichend bekannt, dass man denen äußerst hilflos ausgeliefert sein kann. Durch den Geistesblitz, der mich nach besagtem „Marathon-Satz“ des Herrn Doktors heimsuchte, weiß ich jetzt ja, dass ein unsportlicher Körper einschließlich einem Herz-Kreislaufsystem weit unter null eher schlapp macht bei äußeren Einwirkungen als ein durchtrainierter. Folglich müsste ich doch mein Herz regelmäßig zum Pochen bringen in Form von sportlicher Betätigung. Dann können von mir aus die Birgits und Peters dieser Welt machen, was sie wollen. Der Plan hört sich klasse an. Warum bin ich da nicht schon früher ganz von allein drauf gekommen?
Von der Erklimmung eines Marathons nehme ich aufgrund einiger nicht unerheblicher Tatsachen zunächst Abstand. Erkläre meiner Hündin Nelli aber, dass wir ab sofort gemeinsam Walken gehen werden. Denn an Laufen ist mal überhaupt nicht zu denken. Dieses Mal meine ich mit „Laufen“ übrigens „Joggen“. Herr Doktor meint aber, dass Walken genau den gleichen Effekt hätte für mein Vorhaben und ich solle keine Angst haben, er verspricht mir, ich falle wirklich nicht um. Gut, wenn er das sagt. Bereits am nächsten Tag schnappe ich mir meinen Hund, ein paar alte Latschen (Turnschuhe besitze ich nicht) und atme dreimal tief durch. Mia, du gehst jetzt Walken, das heißt, du bewegst dich gehend mindestens 800 Meter von deinem sicheren Bunker weg. Onkel Doktor sagt, Umfallen ist nicht. Es macht für meine Angst einen erheblichen Unterschied, ob ich bei meinen üblichen Gassi-Runden ca. 400 Meter vom Haus entfernt bin und sich die Hunde durch Herumtoben auf der Wiese eigenständig austoben, während ich auf ihr stehen bleibe und in weiter Ferne immer noch das Ziel vor Augen habe: mein Zuhause. Oder ob ich mich meilenweite 800 Meter davon wegbewege und mich damit schutzlos meiner Angst ausliefere ohne die Möglichkeit einer schnellen Flucht. Die Flucht würde mir nur dann schnell gelingen, wenn ich im Eiltempo eines Schnellsprinters zurückrennen könnte, was mir aber aufgrund meiner körperlichen Voraussetzung verwehrt bleibt. Das wiederum erklärt, dass meine Walking-Aktion gleichzeitig eine nicht unerhebliche Konfrontationstherapie darstellt, die ich tapfer angehe.
Spiel, Satz, Sieg! Ich habe mein vorher gestecktes Ziel erreicht und bin tatsächlich bis zu dieser Holzbank da oben an den Obstbaumwiesen gewalkt und habe auch den steilen Berg mit mindestens 50% Steigungswinkel erklommen. An der Bank angekommen, klopft mein Herz aber arg, puh. Meine Waden tun weh und ich analysiere ein kurzes Schwächegefühl mit leichtem Unwohlsein. „GEFAHR“, schreit meine Angst ganz laut. Quatsch mit Soße, Doktor sagt, ich kann Marathon laufen, versuche ich mich zu beruhigen. Vorsichtshalber setze ich mich kurz auf die Bank und blicke mit Wehmut in meine leere Hosentasche, in der zur Sicherheit eigentlich das Handy stecken sollte. Ich habe es vor lauter Nervosität beim Abmarsch vergessen. Ich bin quasi hilflos verloren und werde hier im Falle eines Kollapses wahrscheinlich liegen bleiben bis zum nächsten Winter, falls mich vorher kein anderer Spaziergänger findet. Ob Paul mich so schnell vermissen wird und suchen kommt? Aber der weiß ja nicht mal, dass ich Walken bin. Auf die Idee, mich hier weit weg von zu Hause an den Obstbaumwiesen unseres Ortes zu suchen, kommt er deswegen ganz sicher nicht. Nur Nelli kann jetzt noch helfen. Sie muss Hilfe holen. Nelli ist nicht interessiert, Ersthelfer zu spielen, sie findet die vielen Gerüche hier am Wegesrand viel zu spannend. So bleibt mir nur ein Weg: Ich muss mich auf mich selbst verlassen und darauf, dass ICH MARATHON LAUFEN KANN! Also werde ich doch wohl die paar Meter walkend wieder nach Hause kommen. Vorsichtshalber sage ich mir meine alt bekannten Sprüche sehr laut selber vor: Ich bin stark, ich schaffe das. Ich bin Marathonläufer! Ich bin jung und gesund. Das ist zwar eine glatte Lüge, aber ich kann’s ja mal versuchen. Und jetzt heim mit dir. Im Stechschritt marschieren wir voran. Mit jedem Meter, den ich zurücklege, keimt Hoffnung auf. Am Ende schwebe ich fast und komme ohne Zwischenfälle wieder zu Hause an. Paul hat Mittagspause und vermisste mich schon – so was aber auch. „Na, wart ihr Gassi?“, fragt er beiläufig. „Nein, ich werde Marathonläufer und war daher mit Nelli walken.“ Das Gesagte ergibt für ihn wenig Sinn. Paul weiß ja aber, dass vieles, was ich so sage, nur für mich Sinn ergibt und beschäftigt sich deswegen nicht weiter damit. Zunächst … 15 „Marathonläufe“ später und diszipliniertem, fast täglichem Training bin ich der Meinung, dass ich nun ordentliche Walking-Schuhe verdient hätte. Ich muss zugeben, meine Motivation ist kurz vor dem Absacken, da ich trotz massiver Angstüberwindung und unbarmherzigen Training keinen Meter vorankomme. Es ist nach wie vor eine gemeine Quälerei und ich merke nichts davon, dass sich mein Herz-Kreislauf-System langsam an die neuen Bedingungen anpasst. Ich hatte schon erwartet, nach diesen 15 Läufen einen Fortschritt zu sehen, der sich auszeichnet durch minimum die dreifach zurückgelegte Wegstrecke oder zumindest darin, dass die bisherige Wegstrecke etwas einfacher von der Hand bzw. von den Füßen geht. Beides war nicht der Fall. Zwischenzeitlich hat auch Paul mitbekommen, was ich da so treibe und belächelt mich ein bisschen. Das allein ist ausschlaggebend dafür, dass ich die Zähne zusammenbeiße, den Rest der fast nicht mehr vorhandenen Motivation zusammenkratze und weitermache. „Dem zeig ich’s!“ Zusatzmotivation geben mir bestimmt meine professionellen Laufschuhe. Wer professionell Walken will, braucht ordentliches Handwerkszeug. Und so stehe ich 10 Minuten später im Sportladen und bin zunächst erschlagen vom reichhaltigen Angebot des ausgestellten Schuhwerks. Ein junger Verkäufer männlichen Geschlechts kommt daher und fragt, ob er helfen kann. Aber klar, alleine verlaufe ich mich ja in diesem Schuhlabyrinth. Er fragt nach meinen Wünschen, die ich ihm so erkläre: „Ich weiß, ich bin alt, aber ich fange jetzt das Walken an und knüpfe damit an meine Sportkarriere aus Kindertagen, in denen ich Fußballstar war. Dafür benötige ich bitte ein paar gescheite Schuhe.“ Obwohl es Montagmorgen ist, ist der Herr sehr freundlich und freut sich, dass er etwas zu tun hat. Der riesengroße Laden ist nämlich gähnend leer. Er kommt gleich mit mehreren Schühchen angelaufen und preist deren Vorzüge an. Ich frage, ob die wasserdicht sind. Tja, das hat er mir wohl nicht zugetraut, dass ich die Schuhe auch bei Schlechtwetter walkend benutzen will. „Aber hallo, ich bin kein Schönwetterläufer. Wenn, dann wird bei jedem Wetter Sport gemacht!“ Wortlos zieht er mit den Schuhen ab und schleppt ein anderes Modell an. Ich schlüpfe hinein und fühle mich pudelwohl. Nach dem Preis frage ich vorsichtshalber nicht. Was spielt denn Geld für eine Rolle, wenn es um meinen zukünftigen Marathonlauf geht. „Die nehme ich“, sage ich kurz entschlossen, was den Verkäufer in Erstaunen versetzt. So viel Entschlussfreudigkeit und Schnelleinkäufer-Qualitäten hat er von einer blonden Frau nicht erwartet. Man sieht es ihm deutlich an. An der Kasse weicht mir dann leider jegliche Farbe aus dem Gesicht, als ich den Preis sehe. Für so wenig Schuh wollen die so viel Geld? Ich bezahle schnell und flüchte mit meinen teuren Schuhen aus dem Laden. Im Auto hole ich tief Luft und rechne mir aus, wie viele Stunden ich dafür arbeiten muss, um das auszugleichen. Ich hoffe auf eine gute Auftragslage in nächster Zeit. Einen positiven Effekt hat der Kauf aber allemal: Ich kann unmöglich die Walking-Flinte ins Korn werfen, wo ich nun so sündhaft teure Schuhe erstanden habe. Nein! Ich muss weiterlaufen – komme, was wolle.
Zufällig ruft mein Vater an, kurz nachdem ich mit meiner neuen Errungenschaft ins traute Heim zurückgekehrt bin. Er fragt, was es Neues gibt. Sofort erzähle ich von meinen Plänen und meinen neuen Schuhen. Papa antwortet auf schwäbisch-philosophische Art: „Ach Mädle, wenn ich do an früher denk, als du no Fußball gschpielt hosch, da warsch noch net so a Bähmulle* wie jetzt. Do warsch hart im Nemma und so schpordlich.“ Er hat leider Recht und denkt wohl sehr oft an die schönen Zeiten, die Jahrhunderte zurückzuliegen scheinen. Sie liegen so lange zurück, dass ich selbst schon fast keine Erinnerung mehr daran habe. Außerdem haften meinem Gehirn eher gern die negativen Erlebnisse des Mia-Lebens an, tolle Sachen will sich das Ding nicht merken, sondern verschiebt sie umgehend in die Schublade mit der Aufschrift „nicht vorhanden“. Ich antworte meinem Papa, dass er sich keine Sorgen machen muss, da ich jetzt ja endlich an diese Zeiten wieder anknüpfe und ich ihm hiermit verspreche, zu meinem ersten Marathon einzuladen. Dass ich jetzt aber auflegen würde, weil ich unbedingt meine neuen Schuhe einweihen muss. Vor lauter Euphorie habe ich nicht bedacht, dass man neue Schuhe vielleicht erst mal einlaufen sollte. Ich aber spurte los, mit Motivation vollbepackt bis obenhin. Auch Nelli merkt, dass heute etwas anders ist als sonst. Mein Stechschritt ist noch stechender und sie versteht die Welt nicht mehr, warum sie nicht alle fünf Meter an den toll duftenden Stellen am Wegesrand ausgiebig schnuppern darf. „Nelli, wir sind doch nicht zum Spaß hier. Jetzt wird nicht geschnuppert, sondern gewalkt!“ Meine Stimme wird kurz vor meiner bekannten Sitzbank immer leiser. Ich spüre ganz genau, wie sich Blasen gebildet haben. So groß wie Krater. Schreckliche Blasen. Die schmerzen plötzlich so vehement, dass ich hilflos auf meinem Bänkchen sitze und darüber nachdenke, wie ich nach Hause komme: barfuß? Gar nicht? Oder einfach Augen zu und durch? Ich wähle die letzte Variante und kann die Tränen beim Heimkommen kaum unterdrücken, so werde ich von Schmerzen gepeinigt. Die Blasen sind offen und blutig. Ich berichte Paul telefonisch von meinem Elend und erwähne nebenbei, dass ich mir Walking-Schuhe gekauft habe, die an diesem Übel schuld sind. Den Preis verschweige ich nach wie vor. „Dann können die ja wohl nichts taugen!“, bekomme ich als Antwort. „Natürlich taugen die was, Luxus-Schuhe für xx Euro können nur von allerbester Qualität sein.“ Diesen Satz denke ich nur, ich spreche ihn nicht laut aus. Sondern lasse ihn in dem Glauben, dass ich zu doof bin, mir anständige Schuhe eigenständig zu kaufen. Der wird Augen machen, wenn ich genau mit DIESEN Schuhen das Zielband meines ersten Marathons durchlaufe! Die folgenden Tage wird mein Training aufgrund schwerster Verletzungen unterbrochen. Die Blasen wollen nicht abheilen, so dass ich nicht mal Socken auf der Haut ertragen kann. Gott sei Dank ist Sommer, sodass ich darauf verzichte. Dass ich nicht weiter walken kann, wurmt mich aber schon. Außerdem würde ich gern absehbar wieder normale Schuhe tragen können, anstatt alles in offenen Schlappen erledigen zu müssen. Also erstehe ich mir in der Apotheke Blasenpflaster und erhoffe mir ein Wunder. Was sich sofort einstellt, denn in dem Augenblick, als die Dinger an meinen Fesen kleben, hören die Schmerzen auf. Ich kann sogar wieder normale Schuhe anziehen, ohne dass ich vor Schmerzen Schweißausbrüche bekomme. Und so walkt sie und walkt und walkt. Bei Wind und Wetter. Sie lässt nicht locker. Unglaubliche vier Monate nicht. Das gehört ins Guiness Buch der Rekorde, finde ich. Meine Fortschritte sind minimal, aber immerhin, es gibt inzwischen welche. Das habe ich dieser Tage an zwei Begebenheiten bemerkt. Zum einen, als ich ein kleines Gastspiel bei meiner Frauenärztin hatte. Deren Praxis liegt im 2. Stock. Üblicherweise schaffe ich es kaum die vielen Treppen hoch und muss oben angekommen zunächst eine Minute innehalten, bis ich wieder normal atmen kann. Bei meinem jetzigen Termin kommt alles anders. Ich spurte die Treppen nahezu hoch und muss zweimal hingucken: Wie, ich bin schon oben? Die zweite Begebenheit trägt sich zu, als Paul mir mitteilt, dass er mich gerne mal begleiten würde an diese neue Stelle da im Wald, die ich vor Kurzem entdeckt habe. Er hat überraschenderweise frei bekommen, da würde sich das doch anbieten. Diese Stelle habe ich mir als zweite Walking-Strecke auserkoren. Denn der Anstieg dort kommt gleich am Anfang des Weges und ist noch steiler als der beim Bänkchen. Gutes Training also. Wir schnappen uns die Hunde und ziehen los. Ich hatte meinen Mann bereits zu Hause vorgewarnt, dass ich diese Gelegenheit dann gern nutzen würde, um zu walken. Also nicht lahmarschig Gassi gehen, sondern zack-zack. Er lacht: „Ach, ich wollte doch schon immer mit dir gemeinsam Walken gehen, kein Problem für mich.“ Blabla, ich bin der Held, ich bin ein Macho, ich bin der beste, ich bin ein Mann, wollte er sicher damit ausdrücken. Als wir in etwa bei der Hälfte des Anstiegs angekommen sind, höre ich Paul von weit hinten rufen „Kannst du vielleicht mal ein bisschen langsamer machen?“ Natürlich würde er nie zugeben, dass er mit mir nicht mehr mithalten kann. Er begründet es damit, dass sein Hund an der Leine viel langsamer sei als meiner und er darauf Rücksicht nehmen muss. Tja, von wegen, die Schuhe taugen nichts. Komischerweise belächelte er mich von diesem Tag an nie wieder, wenn ich zum Walken aufbrach. Leider wollte er mich ebenso auch nie wieder begleiten. Weil er doch den langsameren Hund an der Leine hat, ich weiß. Noch einer des männlichen Geschlechts hat dieser Tage große Augen gemacht. Der Herr Doktor. Ich musste kurz bei ihm reinschneien, um eine Überweisung abzuholen. Normal bekomme ich ihn dafür nicht zu Gesicht, sondern habe lediglich eine kurze Audienz mit der Sprechstundenhelferin, die sich um diese Angelegenheiten zu kümmern pflegt. Zufällig spurtet er aber in dem Moment, als ich an der Empfangstheke stehe, aus seinem Zimmer. Wir begegnen uns und obwohl er in Eile ist, schaut er mich von oben bis unten entgeistert an. So viel Strahlen in meinem Gesicht, so viel Entspannung und Lockerheit ist er nicht von mir gewohnt. „Hallo Mia, wie geht’s?“, fragt er mich „Prima!“, antworte ich. Ich würde ihm gern noch von meinen Erfolgen berichten und meiner Standhaftigkeit, aber er hat es enorm eilig. Ist schon wieder im Hechtsprung zurück Richtung Behandlungszimmer. „Herr Doktor, wo findet eigentlich der nächste Marathonlauf in der Umgebung statt?“, rufe ich hinterher. Er dreht sich noch einmal um, schaut zu mir rüber und an seinem Blick lassen sich die Gedanken eindeutig ablesen: „Und ich dachte schon, sie ist jetzt normal. Leider ist die Frau nach wie vor ernsthaft seelisch erkrankt.“ Da er sehr höflich ist, erwidert er jedoch nur: „Also bis zum nächsten Mal Mia, machen Sie’s gut!“
* Bähmulle stammt aus dem schwäbischen Wortschatz und bedeutet auf Hochdeutsch in etwa: Jammerlappen, Heulsuse