Aprilwetter / Exposé und Leseprobe

Exposé

 

 

 

Arbeitstitel: Aprilwetter

Autor: Alf Abeth (Pseudonym)

Genre: Beziehungs- und Entwicklungsroman

Umfang: ca. 51.200 Wörter

Zielgruppe: Leserinnen und Leser ab 40 Jahre, ab mittlerem Bildungsniveau mit Interesse an menschlichen Beziehungen und Schicksalen

Atmosphäre: Authentisch, lebendig, spannend, lustig, ergreifend

Perspektive: Ich-Erzähler, aus der heutigen Zeit heraus

mit Rückblenden in die achtziger Jahre

Abstrakt

Als 50jähriger Mann erleide ich einen Herzinfarkt, lasse mein Leben Revue passieren, mache mich daraufhin auf die Suche nach einem alten Freund, der mir einst geholfen hat, mit meiner großen Liebe zusammen zu kommen. Als ich ihn finde, wird mir angesichts seines dramatischen Schicksals klar, dass es nun an mir ist, ihn zu unterstützen, einen Weg zurück zu seinem Glück zu finden. Eine Geschichte über die Kraft der Freundschaft, der Liebe, des Kampfes gegen die Sucht und über die immerwährende Hoffnung.

Handlung

Ein Herzinfarkt reißt mich aus dem Schlaf und aus meinem 50jährigen Leben, das bisher so scheinbar geradlinig mit gut dotiertem Job, einer tollen Ehefrau und zwei gut geratenen Kindern verläuft. Die Ereignisse dieser Nacht und der sich anschließenden Krankenhaus- und Rehaklinikaufenthalte wecken in mir Erinnerungen, wie es einst dazu gekommen ist, dass ich diese wunderbare Frau für mich gewinnen konnte. Hierzu tauche ich ein in meine Zeit als Zivildienstleistender in einer Klinik Mitte der achtziger Jahre, in die Zeit einer zunächst noch unerfüllten, unglücklichen Liebe. Das Bild meines damaligen Freundes Rolf drängt sich mir dabei auf, der mir in jener Zeit ganz entscheidend mit zu meiner jetzigen Frau Simone verholfen hat. Ich überlege, warum sich unsere Wege nach der Zivildienstzeit so abrupt getrennt haben und beginne mit Nachforschungen, was aus ihm geworden ist. Ein unbändiges Verlangen, ihn wiederzusehen und ihm für seine damalige Unterstützung zu danken, bemächtigt sich mir.

Ich erfahre, dass Rolf und seine Frau seit zwei Jahren getrennt sind und dass sie seitdem keinen Kontakt mehr zueinander haben. Rolf soll inzwischen sogar obdachlos sein. Etwas Tragisches muss geschehen sein, die Hintergründe bleiben mir jedoch noch verborgen. Nach einer ereignisreichen Suche mache ich Rolf schließlich ausfindig und es kommt zu einem sehr emotionalen Wiedersehen. Die Frage, warum er vor zwei Jahren seinen Betrieb und seine Frau von heute auf morgen aufgegeben hat, bleibt weiter unbeantwortet, einen Kontakt zu seiner Frau lehnt er kategorisch ab.

Im Laufe der nächsten Wochen gewinne ich sein Vertrauen und er offenbart mir, dass er schon lange ein Alkoholproblem gehabt habe und dass es vor zwei Jahren zur Katastrophe gekommen sei. Sein Sohn Finn war vor einen LKW gelaufen, Rolf hatte dabei an der Trinkhalle gestanden. Der kleine Junge war vor seinen Augen überfahren worden und gestorben. Am nächsten Morgen hatte Rolf wortlos das Haus verlassen, seitdem war er verschwunden, überweis Heike aber bis heute jeden Monat die Miete für das Haus.

Rolf sieht sich bis heute in tiefer Schuld und hat sich seitdem noch tiefer in seine Alkoholsucht geflüchtet. Ich sehe mich in der Verantwortung, ihm zu helfen und bin froh über diese Chance, ihm etwas von dem zurückzugeben, was er mir einst an Zuspruch und Mut hatte zukommen lassen.

Die Ereignisse überschlagen sich in den folgenden Tagen, Rolf beginnt eine Entgiftung und bricht sie nach einigen Tagen wieder ab, er droht endgültig aufzugeben, da erfährt er von der Existenz seiner kleinen Tochter. Bei seinem überstürzten Auszug war Heike schwanger gewesen, einige Monate später hatte sie ihre gemeinsame Tochter Emilia geboren – er hat bis heute nichts davon gewusst!

In Rolf entbrennt ein Kampf zwischen Sucht und Sehnsucht, zwischen dem Dämon Alkohol und dem Traum einer glücklichen Familie. Zum Schluss scheinen unsere Freundschaft und seine Liebe stark genug zu sein, es obsiegt die Hoffnung.

 

Botschaft

Die Geschichte beruht zum Teil auf wahren Begebenheiten und macht deutlich, welche Kraft in echter Freundschaft und Liebe steckt. Diese Kraft durchbricht sogar den Teufelskreis der Sucht, diese diabolische Verbindung aus Suche und Flucht.

 

Personen

 

Andreas,

Ich-Erzähler:

Die Ereignisse der Novembernacht und der sich anschließenden Krankenhaus- und Rehaklinikaufenthalte werfen Andreas auf existentielle Fragen zurück, die er bisher erfolgreich verdrängt hat. Gedanken an den Tod, vor allem aber an den Sinn des Lebens beschäftigen ihn. Ihm wird klar, dass er dem, was ihm wirklich wichtig erscheint, zu wenig Zeit gewidmet hat. Er erinnert sich daran, wie es vor gut 30 Jahren zur Zusammenkunft mit seiner großen Liebe Simone gekommen ist und welchen Anteil daran sein damaliger Freund Rolf hatte. Ihm wird schmerzlich bewusst, dass er Rolf nie dafür gedankt und ihn seitdem nie mehr gesehen hat. Zu jener Zeit war er ein schüchterner, unerfahrener und verklemmter Junge aus gutbürgerlichem Hause, der weder Ahnung von Frauen noch je irgendwelche Drogen konsumiert hatte. Jetzt verspürt er ein inneres Bedürfnis, Rolf wiederzusehen und etwas nachzuholen: sein Glück mit ihm zu teilen und ihm zu danken. Auf dem Weg dorthin wird ihm Rolfs Schicksal und die Tatsache klar, dass er es ist, der diesmal Rolf unterstützen muss, damit dieser sein Glück (wieder-)finden und dafür kämpfen kann. Zum Schluss gelingt es ihm, sich sowohl mit der Entwicklung der Freundschaft zu Rolf als auch mit seinem eigenen Leben abzufinden und zu versöhnen.

Rolf, der

ehemalige Freund

Rolf stammte aus einem „Problemviertel“, war vor 30 Jahren ein großer, schmaler, blasser junger Mann voller Energie und Lebensfreude, der Ska und Rockabilly hörte, Hermann Hesse las und eine wilde Tedfrisur hatte. Er spielte Gitarre und schwärmte von Mark Knopflers virtuosem Spiel. Hervorstechende Merkmale waren seine Offenherzigkeit, Direktheit und Natürlichkeit. Er pflegte ein breites Lachen, erzählte Witze ohne Ende, darüber hinaus konnte er fast alle deutschsprachigen Dialekte und ausländischen Sprachen imitieren (ohne letztere tatsächlich sprechen zu können). Er verfügte ‚nur‘ über den Hauptschulabschluss, aber er war belesen, sensibel und von einem schlagfertigen Humor, der Witz und Intelligenz bezeugte. Schon damals war Rolf sehr trinkfest und kiffte gerne.
Seit dem Schicksalsschlag mit dem Unfall seines Sohnes Finn ist Rolfs Leben aus dem Lot geraten. Er hat seine Frau Hals über Kopf verlassen, da er sich die Schuld am Tod seines Sohnes gibt. Er war kurze Zeit obdachlos, flüchtete in die Alkoholsucht, verlor Lebensmut und -freude. Nachdem Andreas ihn ausfindig gemacht hat, blockiert er zunächst dessen Versuche, ihm zu helfen, wirkt abweisend und möchte über die Vergangenheit weder sprechen, noch sie verarbeiten. Er weist immer noch die Spontanität früherer Tage auf, wirkt aber innerlich gebrochen und mit seinem Schicksal hadernd. Erst nach einem langen und schmerzhaften Prozess der Annäherung, spätestens aber nach der Nachricht von der ihm bis dato unbekannten Tochter, gelingt es Rolf, Hilfe anzunehmen, ein neues Lebensziel zu entwickeln und dafür zu kämpfen.

 

 

Leseprobe

 

 

 

 

1

 

Ich wache mitten in der Nacht auf. Ein unbekannter, wilder Schmerz reißt mich aus dem Schlaf. Ich reiße die Augen auf, aber im Schlafzimmer ist es tiefschwarz.

‚Ach du Scheiße‘, denke ich. ‚Was zur Hölle ist das?‘ Ich fühle, wie mich nackte Angst erfasst, denn meine Brust fühlt sich urplötzlich wie in eine Schraubzwinge geklemmt, die von Sekunde zu Sekunde enger gezogen wird. Ich weiß nicht, wie mir geschieht und drehe mich zu Simone, meiner Frau, die friedlich rechts neben mir schläft und dabei surrt wie ein Kätzchen. Ich bekomme kaum noch Luft und spüre ein mörderisches Stechen, eiskalter Schweiß rinnt mir die Stirn hinab. Ich schüttele Simone mit letzter Kraft, sie begreift nicht gleich. Schlaftrunken dreht sie sich zu mir. Ich schreie einen Urschrei des Schmerzes und der Todesangst aus, denn ich spüre, dass dies nichts Lustiges ist. Simone realisiert die Situation, ist schlagartig hellwach, schaltet das Nachtischlämpchen an.

„Was ist los?“, ruft sie und blickt dabei in mein fratzenhaft geblendetes, eisgraues, starrblickendes und panikgeflutetes Gesicht. Ich kann kaum antworten, fasse mir an die Brust, sie handelt sofort. Blitzschnell schlägt sie meine Decke weg, hilft mir mit geübtem Griff in eine aufrechte Sitzposition, animiert mich, meinen Atemrhythmus zu kontrollieren und redet beruhigend auf mich ein. Sie erkennt anscheinend sofort, was los ist. „Ich komme gleich wieder, bleib so sitzen, alles wird gut“, spricht sie mir in rasch dahin geschleuderten Sätzen zu und rennt dann hinüber ins Wohnzimmer, um den Notarzt anzurufen, wie ich annehme – sofort erfasst mich wieder die Panik und ich fantasiere:

‚Lass mich nicht alleine! Was, wenn ich hier und jetzt sterbe?‘

Ich vernehme Simone im Nebenraum am Telefon mit ungewohnt schriller Stimme sprechen, vernehme das Wort „Herzinfarkt“, dann kommt sie wieder zu mir und versucht mich zu stützen.

Anker „Gleich kommt der Notarzt“, erklärt sie in einem bemüht ruhigen Tonfall, doch ihr Blick verrät ihre zunehmende Angst, die mir den tosenden Schmerz noch unerträglicher zu machen scheint.

‚Lass mich jetzt nicht alleine!‘, scheinen mir jetzt ihre Augen stumm zu betteln und ich versuche, mich irgendwie zu kontrollieren, aber mir wird schlecht.

‚Wenn ich jetzt sterbe, wäre sie wirklich ganz alleine‘, schießt es mir in den Kopf. ‚Gerade ist das letzte unserer beiden Kinder ausgezogen…‘ Der durchdringende Schmerz, als quetsche jemand mein pumpendes Herz in seiner hohlen Faust wie eine reife Zitrone, raubt mir jeden weiteren Gedanken. Eine nie geahnte existentielle Angst bemächtigt sich jeder meiner Hirnzellen und die Zeit fühlt sich plötzlich der Realität enthoben, umhüllt wie ein nicht enden wollender Alptraum in Zeitlupe mein Erleben. Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, ehe ich durch die bunt gemusterte Gardine ein Martinshorn mit seinem grellen Warnlicht wahrnehme und endlich die Türklingel schellt.

„Oh, Paketpost – um diese Zeit?“, höre ich mich scherzen und wundere mich über mich selbst, doch Simone hat jetzt keinen Sinn für meinen Galgenhumor, rast zur Tür, öffnet sie und kehrt eiligen Schrittes mit einem groß gewachsenen Sanitäter in grell-oranger Weste und dem umso auffällig schmächtigeren, ganz in weiß gehüllten Notarzt zurück, der unaufgeregt seine Arbeit verrichtet. Er verpasst mir mit seinen feingliedrigen Fingern etwas ungeschickt, wie mir scheint, eine Nasensonde, über die ich mehr Sauerstoff bekommen soll, wie er erklärt, und er setzt mir eine Kanüle, um ein Beruhigungsmittel und irgendwelche Medikamente zu verabreichen. Sein ernster Blick fällt durch eine dicke schwarze Hornbrille auf mich und er spricht aus einem von einem dunklen, zotteligen Bart umrahmten Mund auf mich ein – komische Mode heute, überlege ich, der Typ sieht aus wie ein IS-Kämpfer. Schon bald nach der Erstversorgung liege ich auf der Krankentrage, werde durchs Haus geschleppt, vorbei an den verschlossenen Türen der Kinder, hinter deren Glaseinsätzen es nachtschwarz ist und die von alldem nichts mitbekommen, da sie nicht zuhause sind. Von unserer Haustür aus geht es im stürmischen Regen dieser Herbstnacht zum Krankenwagen, dessen Blaulicht sich in den brodelnden Pfützen spiegelt und die düstere Szenerie hektisch beflackert. Ich muss unwillkürlich an Loriot denken, an die Szene in „Pappa ante portas“, als er einen Verletzten mimt, der auf einer Bahre aus seinem Haus getragen wird – jetzt passiert das mit mir tatsächlich! Ich werde in den Rettungswagen geschoben und hinter mir schließen sich die Türen.

Seufzend erhasche ich aus dem oberen Seitenfenster noch einen letzten Blick auf unser vertrautes altes Backsteinhaus. Simone darf sich zu mir setzen und ich habe das erste Mal das Gefühl, die unglaubliche Panik lässt ein wenig nach. Das Beruhigungsmittel, das sie mir eingeflößt haben, scheint ebenso zu wirken wie das Nitroglycerin, das sie mir in Form einer Kapsel unter die Zunge gegeben haben, denn die heftigsten Schmerzen verebben ein wenig. Ich werde an ein EKG angestöpselt und fühle fast so etwas wie Zuversicht, zumal mein Blutdruck und Puls wohl nicht mehr ganz so niedrig sind. Als ich zum ersten Mal wieder einen klaren Gedanken fassen kann, wird mir klar, welche Ängste Simone gerade durchmacht. Sie sitzt neben mir, hält meine Hand und schaut mich mit einem Blick aus tiefster Liebe und größter Sorge an.

‚Was für eine phantastische Frau, was habe ich für ein Glück!‘, schießt es mir unvermittelt ins Hirn und sorgt dafür, dass sich ein paar Tränen der Rührung mit denen der Schmerzen vermischen. ‚Was habe ich diese Frau in den letzten Wochen und Monaten vernachlässigt? Seit Finja und Luca im Sommer ausgezogen sind, habe ich mich mehr denn je in meinen Job gestürzt. Habe immer nur gearbeitet und gearbeitet…‘

Der Krankenwagen setzt sich in Bewegung und fährt die mir so vertraute Strecke zum nahen Haaner Krankenhaus. Wie oft habe ich mich im Sommer geärgert, wenn sie an der Kreuzung in der Nähe unseres Hauses mitten in der Nacht das Martinshorn anschalteten und mich damit wegen des geöffneten Fensters aus dem Schlaf rissen. Jetzt liege ich selbst im Notarztwagen und sause mit lautem Trompeten durch die Nacht und ärgere die Anwohner. Der Regen prasselt auf das Blechdach und die Fenster sind beschlagen. Simone spricht mit beruhigender Stimme auf mich ein, doch ihre Worte erreichen meinen Verstand nicht. Allein ihr Blick und das Fühlen ihrer Hand genügt. Hatte ich vor wenigen Minuten nichts als Angst in meinem Kopf, fliegen jetzt die Fantasien und Bilder wie in einer Waschmaschine im Schleudergang durch mein Hirn und mir wird fast schwindelig. Vergangenheitsfetzen flattern vor meinem inneren Auge, bemalt mit bunten Farben von Simone, wie ich sie kennen gelernt habe, wie unglücklich verliebt ich lange Zeit gewesen war, wie glücklich dann, als es endlich mit uns zweien geklappt hatte. Bilder von meinen Kindern schwirren durch meinen Kopf wie Nachtfalter um Straßenlaternen: Luca und Finja, als sie noch in dem unschuldigen Stadium der frühen Kindheit waren, als unser Garten ein kleines Universum, jeder Marienkäfer ein Wunder, jede Löwenzahnblüte eine kleine bestaunenswerte Welt darstellte.

Ein zwiespältiges Gefühl überkommt mich, als wir in der Ambulanz eintreffen und ich in Windeseile aus dem Wagen gezogen und auf ein fahrbares Gestell umgelagert werde. Ich fühle mich einerseits ausgeliefert, unfrei wie noch nie und nach wie vor mit großer Angst, andererseits fühle ich eine feste, tiefe Hoffnung, dass es schon gut gehen wird. Eiligen Schrittes werde ich in den Aufzug geschoben, nehme seltsamerweise beruhigt die Metapher wahr, dass es damit aufwärts geht.

„Wir machen gleich Koronarangiographie“, erklärt in tiefster Basstonlage ein hinzugekommener Weißkittel ohne Bart und Hornbrille, ein junger Mann, vermutlich noch keine 30, vielleicht ein Pole – oder Russe, auf jeden Fall ein riesiger Osteuropäer. Simone übersetzt, dass ein Herzkatheter gesetzt werden soll, so wie bei Vater damals. Ich erinnere mich an jene Tage vor knapp zehn Jahren, als mein Vater im hohen Alter einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er lebt heute immer noch und zählt stolze 85 Jahre – das ist doch ´mal eine Aussicht! Vater hatte uns damals ganz begeistert davon erzählt, wie er die Herzkatheteruntersuchung live am Bildschirm hatte mitansehen dürfen.

‚Ich will das bei mir nicht sehen‘, male ich es mir mit Grausen aus. Wir verlassen den Aufzug und eine Tür, auf der „Kardiologie“ steht, öffnet sich wie von Geisterhand. Der ausländische Arzt – oder ist es ein Pfleger? Ich habe es nicht mitbekommen – deutet Simone in für meine Ohren hartem, gebrochenem Deutsch an, dass sie draußen bleiben muss. Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn, flüstert mir Worte ins Ohr, die nicht bei mir ankommen, denn ich nehme nur ihr trauerverzerrtes Gesicht und die Tränen, die plötzlich ihre Augen wässern, in meinem Bewusstsein auf. Ich bringe keinen Ton hervor.

Man schiebt mich in einen grell erleuchteten Behandlungsraum, der mit Monitoren und allerlei technischen Geräten ausgestattet ist. Der Arzt, der sich jetzt sehr freundlich als solcher zu erkennen gibt, versucht mir das nun folgende Prozedere zu erklären, doch ich verstehe nicht viel von dem, was er sagt, da ich einerseits das Bild der verstörten Simone nicht aus dem Kopf kriege, andererseits lenkt mich an einem der Schneidezähne des Riesen eine Erhebung ab, die aussieht wie ein Reiskorn, das dort festgeklebt ist.

„Dann wir fangen jetzt an!“, beendet er seine Erläuterung und ich nicke stumm. Er dreht mir einen der Bildschirme zu und macht sich sofort an meiner Leiste zu schaffen, wo er offenbar mithilfe eines Assistenten und einer Spritze eine Betäubung vornimmt. Nach einer kurzen Pause fummelt er minutenlang dort unten herum und der Assistent schaut mit mir auf den Bildschirm.

‚Hoffentlich greift er nicht daneben‘, versuche ich mich aufzuheitern, derweil ich in meinem Körper noch rein gar nichts spüre, jedenfalls nichts über den nach wie vor bestehenden Herzschmerz hinaus. Auf dem Bildschirm tauchen plötzlich wurzelartige Gebilde auf, die meine Herzkranzgefäße sein sollen, wie der Assistent erklärt. Das Kontrastmittel sorge dafür, dass man es jetzt so deutlich sehen könne. Ich will das gar nicht näher betrachten und schließe die Augen. Ich versuche, an etwas Schönes zu denken, so wie ich es immer beim Zahnarzt zu tun pflege, wenn er bohrt. Ich vergegenwärtige mir einen unserer Urlaube, denke an die weiß und blau getünchte Taverne unmittelbar am rauschenden Meer auf Rhodos, an die im Gegenlicht wie Alufolie glitzernden Wellen, wie sie die vorgelagerten schwarzen Felsen immer wieder verschluckten, um sie kurze Zeit später wieder auszuspucken. Besonders zwei Gesteinsformationen erinnerten in ihrer Form an ein Walpaar, das immer wieder auf- und abtauchten – die Walmutter und ihr Junges, wie Simone meinte. Ich stelle mir das gleichmäßige Rauschen vor, unterbrochen von dem Getöse, wenn eine große Welle über eine der vorgelagerten Klippen hinwegstürzt. Ich sehe Simone mir am Tisch gegenüber sitzen, wie sie verträumt lächelnd und mit zugekniffenen Augen in das gleißende Licht blinzelt. Sie mag keine Sonnenbrillen, überlege ich und wandere mit meinem inneren Blick an den Strand vor der Taverne, wo unsere Zwillinge mit einer halb wilden Katze herumtollen.

„So, ihr Herz jetzt wieder frei“, durchbricht der Arzt nach einiger Zeit meine Traumreise. „Wir haben Reperfusion gemacht. Gefäß ist wieder offen und wir haben Stent gesetzt.“ Der Assistent greift meinen fragenden Blick auf und erklärt:

„Der Doktor hat das verstopfte Herzkranzgefäß mit einem Ballon gedehnt und dann eine Gefäßstütze aus Edelstahl eingeführt. Diese Stütze verhindert, dass sich die Engstelle wieder verschließt.“

„Heißt das, ich habe es überstanden?“, frage ich vorsichtig. Der osteuropäische Bass erklärt:

„Kommt darauf an, wie schwer Herzinfarkt war. Sie wahrscheinlich Glück gehabt, sieht gut aus. Aber müssen abwarten, wie schnell Herz wieder normal funktioniert.“ Eine Erleichterung macht sich bei mir breit, die in eine plötzliche, totale Erschöpfung mündet. Ich spüre, dass mein Körper die ganze Zeit völlig verkrampft und angespannt war, merke den Schlafmangel und die abfallende größte Angst und fühle mich nur noch schwer und müde. „Jetzt Sie kommen erstmal auf Intensivstation, da wir Sie überwachen, ob Herzschwäche bleibt oder Herzrhythmus durcheinander – aber ich glaube, das wird alles gut!“

Als ich auf die Intensivstation in meine Ecke zwischen zwei spanische Wände geschoben werde, empfängt mich eine lächelnde Simone.

‚Wie wunderschön sie aussieht‘, schwärme ich in mich hinein und sehe ihren Blick, ihre Haltung und ihre Stimmlage, die mir allesamt verheißen, dass sie weiß, dass der Eingriff wohl gut verlaufen und der Infarkt anscheinend glimpflich abgelaufen ist. Ihr von mir so geliebter Optimismus und ihr positives Denken sind wieder in jeder Faser ihrer Gesichtsmuskulatur erkennbar. Als ich sage: „Morgen kann ich wieder Rad fahren, hat der Arzt gesagt“, erfüllt ihr unverwechselbar helles, schallendes Lachen, vermischt mit ein paar Tränen, den Raum. Von draußen fällt ein trübes Novembergrau ins Zimmer, innen leuchten einige Monitore im diffusen Licht. Ich bin nicht der einzige im Raum, kann aber nicht viel erkennen, da ich von Trennwänden umgeben bin, höre nur ein gedämpftes Atmen und ein leises Stöhnen eines Nachbarn. „Hauptsache, hier schnarcht keiner“, flüstere ich Simone zu, dann spüre ich, wie totale Entspannung meinen Körper und meinen Geist flutet, so dass ich unvermittelt einschlafe.

Als ich einige Stunden später langsam erwache, stehen Luca und Finja vor meinem Bett neben Simone. „Was macht ihr denn hier?“, flüstere ich verwundert, denn Luca wohnt und studiert inzwischen im hundert Kilometer weiter südlich gelegenen Bonn Germanistik, Finja im ähnlich weit entfernten, allerdings in nördlicher Richtung gelegenen Münster Jura – beides also nicht gerade um die Ecke…

„Ich hab` sie vorhin angerufen, als dein Eingriff war. Sie haben sich sofort in den Zug gesetzt“, erklärt Simone und blickt von einem Kind zum anderen. „Du hast den ganzen Vormittag verschlafen“, lacht sie. Der auffallend zart gewachsene Luca fällt mir als erster um den Hals, umschlingt mich mit seinen dünnen Armen, ein leises Schluchzen schüttelt ihn, als er stammelt:

„Was machst Du denn für Sachen, Papa?“ Ich versuche mit aller Kraft, eigene Tränen zu unterdrücken und erwidere nur: „Ist doch alles halb so wild… Alles wird gut, Luca.“ Beschämt lässt er mich nach einer Weile wieder los und tritt zwei Schritte zurück, den Blick auf den Boden gerichtet. Seine einen Kopf größere und kräftigere Schwester Finja, die erstaunlich gefasst wirkt, beugt sich nun mit einem Lächeln, das dem Simones so wunderbar ähnelt, zu mir herunter und nimmt mich mit festem Griff in ihre Arme.

„Ach Papa“, seufzt sie und jetzt rollen auch ihr leise Tränen über ihre rosa Wangen. „Jetzt hörst du aber auf mit dem Rauchen!“, fordert sie mich auf. An Rauchen habe ich seit der Nacht noch gar nicht gedacht. Ich beiße die Zähne fest zusammen und konzentriere mich auf meinen Atem, will meinen Kindern gegenüber keine Schwäche zeigen. Mein Mantra, das ich mir innerlich zurufe lautet: ‘Jetzt bloß nicht heulen!‘ Meine Kinder brauchen jetzt einen zuversichtlichen und starken Vater und keinen, der ihnen Sorge bereitet, rede ich mir ein und überlege kurz, wer mir diesen Grundsatz wohl eingeimpft hat.

„Ich höre auf mit der Raucherei, ich versprech´s euch“, höre ich mich flüstern. Wie oft ich ihnen das wohl schon versprochen habe, frage ich mich. Bisher jedenfalls immer als leere Versprechung. Die drei gucken mich nachsichtig an. Nachdem auch Finja mich wieder losgelassen hat, sitzen Simone und die Zwillinge noch eine ganze Zeit bei mir, erzählen mir Belanglosigkeiten, die mich – vor allem aber wohl auch sie selbst – ablenken und aufmuntern sollen. Mich stört der fehlende Blick nach draußen, die Dunkelheit meiner abgetrennten Ecke, die nur spärlich durch künstliches Licht erhellt wird. Ich fühle mich schlapp und träge. Immer wieder ist es Simones befreiendes und fröhliches Lachen, das mich aus meiner Müdigkeit reißt und meinen Blick zwischen meinen drei wichtigsten Menschen pendeln lässt. Das Sprechen fällt mir noch schwer, aber ich genieße ihre Nähe und das Gefühl, nicht alleine zu sein. Mir fällt auf, wie unterschiedlich die drei mit der Situation umgehen: Während Simone viel mit mir spricht und mich immer wieder anlacht, ist Luca ganz in sich gekehrt, erscheint still in Überlegungen versunken. Er guckt mich kaum an, während Finja ähnlich ihrer Mutter viel erzählt und sich für die gesammelten Apparaturen der Intensivstation interessiert. Sie inspiziert die Monitore, die Funktionen des Hightech-Bettes, in dem ich gelagert bin und studiert die Inhalte der Infusionen, die mich mit Medikamenten versorgen.

Gegen Abend, ich spüre erstmals wieder den Drang nach einer Zigarette, gleichzeitig werde ich immer müder und nicke immer wieder ein, kommt eine wie ein grünes Marsmännchen gekleidete Intensivschwester herein und meine drei Lieben werden aufgefordert, sich von mir zu verabschieden, da ich Ruhe bräuchte. Es fällt mir innerlich zwar schwer, sie jetzt gehen zu lassen, denn ich hasse das Gefühl mich befallender Einsamkeit und spüre schlagartig eine fast panische Angst vor einem plötzlichen neuen Infarkt in mir aufsteigen, aber ich ermuntere sie, möchte es ihnen nicht schwerer machen, als es eh schon für sie sein muss. Beim Verlassen des Zimmers dreht sich Simone noch einmal um, lächelt und wirft mir einen Handkuss zu, dann schließt sich die Tür. Die in giftgrüne Hose und Kittel gewandete Intensivschwester – sie heißt Sabine – geht von einem Patienten zum nächsten, fragt mich, ob alles ok ist und ich nicke stumm. Sie dreht an einem meiner Infusionsschläuche, so dass es aus einem Glas deutlich schneller tropft.

„Gleich können Sie gut schlafen“, erklärt Sabine und ich denke: ‚Hoffentlich nicht für immer…‘ Ich schließe die Augen, atme tief ein und durchlaufe im Geiste die Jahre, als Luca und Finja noch klein waren und Simone selbst regelmäßig auf einer Intensivstation arbeitete. Wie oft hatte ich mich um die beiden Kinder alleine gekümmert, wenn sie Wochenend- oder Nachtdienste hatte. Wie oft hat sie mir von ihrer körperlich und psychisch schweren Arbeit erzählt, von der unseligen Maschinerie, die den Tod als Niederlage betrachtete und manche Menschen dadurch am natürlichen Prozess des Sterbens hinderte. Für mich war diese Station ein einziger Segen – jetzt jedenfalls – doch für Simone war sie im Laufe der Jahre immer mehr zur Belastung und zum Fluch geworden. Die zunehmende Verantwortung, die sie als Intensivschwester zu tragen gehabt hatte, das Gefühl, Menschen nicht in Würde sterben lassen zu können, sondern um beinah jeden Preis am Leben halten zu müssen, insbesondere Privatpatienten, weil mit ihnen am meisten Geld zu verdienen war – wie oft hatte sie davon erzählt, wie oft hatte sie mit sich gerungen, wie oft hatten wir Alternativen überlegt und dann hatte es doch noch fünf lange Jahre gedauert, ehe sie einen Schnitt gemacht und zur Hörgeräteakustikerin umgeschult hatte. Damals war aus der unbekümmerten und fröhlichen eine nachdenkliche und oft traurige Simone geworden und es war ein Segen, dass ihr der neue Job – obwohl er nur noch so wenig mit dem zu tun hatte, was sie einst gelernt hatte – gefiel und sie zunehmend erfüllte.

Die Beruhigungs- und Schlafmittel zeigen ihre Wirkung, denn ich werde plötzlich von Müdigkeit überwältigt und schlafe ein.

Erst nach zwölf traumlosen Stunden wache ich wieder auf. Ich muss mich erstmal sortieren, weiß im ersten Moment gar nicht, wo ich bin und was ich hier tue – doch dann überfällt mich der Gedanke an mein Herz und leichte Panik macht sich wieder breit. In diesem Moment kommt Sabine, die Marsfrau herbeigelaufen, begrüßt mich freundlich, fragt, wie es mir geht und ob ich Hunger hätte. Die Ablenkung tut gut.

„Ich könnte mich jetzt noch nicht aufs Fahrrad setzen, aber ich fühle mich auf jeden Fall besser als die Nacht davor“, beantworte ich Frage eins und erkläre ihr, dass ich morgens nie besonders hungrig bin, aber gegen eine Zigarette und ein Brötchen mit Ei nichts einzuwenden hätte.

„Die Zigarette lassen wir ´mal weg“, flötet sie. Wie sich mir bei diesem ‚wir‘ die Fußnägel kräuseln, rege ich mich innerlich auf und bekomme kurze Zeit später zwei Scheiben Graubrot, die mit ihrer blassen Krume, ihrer trockenen Konsistenz und Geschmacksneutralität ihrem Namen alle Ehre machen. Neben einer müden Käsescheibe, die auf der Unterlage festzukleben scheint und einer trüben Scheibe Wurst, deren Ränder sich schon leicht wölben, einem kleinen Schälchen mit undefinierbarer Marmelade und einem Würfel zu Stein gekühlter Butter liegt sogar das gewünschte Ei.

„Extra für Sie“, zwinkert mir die grüne Sabine lächelnd zu, doch als ich es gewohnheitsmäßig mit der Hand pelle, bemerke ich, dass es wohl sehr kurz gekocht sein muss, denn noch zwischen meinen Fingern bricht das wabbelige Ei auseinander und ein oranger Lavastrom glibberig-durchsichtiger Fäden ergießt sich über das betongraue Brot und verwandelt mein Frühstück in eine einzige Pampe. „Alles in Ordnung?“, zwitschert Sabine kurz darauf auf dem Weg zum Nachbarpatienten.

„Danke“, murmle ich, putze mir mit dem Handrücken meinen eigelbverschmierten Mund ab und nicke. ‚War ja lieb gemeint‘, überlege ich und bemerke stirnrunzelnd, dass kein Salzstreuer mitgeliefert wurde. Ich gebe mir Mühe, das Tablett nicht in ein unappetitliches Schlachtfeld zu verwandeln, esse, was ich kann und bedecke die Reste der Eierei mit Servietten. Mein Körper schreit derweil nach Nikotin.

 

Schon bald werde ich auf die Normalstation mit Tageslicht verlegt und werde von Schwester Sabine mit einem freundlichen „Alles Gute!“ verabschiedet. Ich komme in ein Dreibettzimmer und muss an meinen ersten Krankenhausaufenthalt denken, der schon über 40 Jahre zurück liegt.

 

Meine ersten Krankenhaus-Erfahrungen sammelte ich im zarten Alter von acht Jahren. Es begann damit, dass ich eines Tages zu Hause fürchterliche Bauchschmerzen bekam. Ich muss bei den ersten Koliken wie ein Verrückter geschrien haben, doch alle kalten und warmen Umschläge, Massagen, Gut-zu-reden und Zäpfchen der Mutter nützten nichts, die Schmerzen zerrissen mich förmlich. Ich teilte mir damals mein Zimmer mit meiner vier Jahre älteren Schwester Franziska, die ein großformatiges Poster an die Wand gehängt hatte, von dem mich ein riesiges Auge mit zwei grünen Pupillen anglotzte. Darunter hing das Bild irgendeiner wilden Heavy-Metal-Band, die sich mit Totenköpfen schmückte, von dem Mutter widerholt verlangte, Franziska solle es abhängen, da es mir, dem kleinen Bruder, bestimmt Angst machen würde. In meinen Schmerzen störten mich die merkwürdigen Bilder in keiner Weise, dann schon eher Franziskas ständig plärrende Heavy-Metal-Musik aus ihrem billigen Kassettenrecorder.

Unser alter Hausarzt, dessen runzelige Hände und feuchte Aussprache ich als Kind immer wenig vertrauenserweckend fand, tastete mich gründlich ab, konnte aber nichts feststellen, so dass er mich zur Sicherheit in ein Krankenhaus überweisen ließ, doch auch dort konnte man die Ursache zunächst nicht finden. Man behielt mich zur Überwachung dort und meine Schmerzen ließen irgendwann auch wieder nach, die Ärzte zeigten sich ratlos. Wahrscheinlich dachten sie, der kleine Junge phantastisiere. Eines Nachts ging es allerdings wieder unvermindert los. Der Schmerz fuhr mir wie ein Schlag in die Glieder und ich taumelte nach Hilfe schreiend durch dunkle Krankenhausflure, bis mich eine Nachtschwester entdeckte. Am nächsten Morgen wurde ich in eine Spezialklinik verlegt, wo man endlich herausfand, woran meine teuflischen Schmerzattacken lagen. Ich hatte einen in diesem Alter höchst seltenen Nierenstein entwickelt, vermutlich hervorgerufen durch die vielen Kalziumspritzen, die ich als Kind bekommen hatte. Damals hatte ich unter häufigen Krämpfen gelitten, die unter Umständen zu einem tödlichen, weil Erstickungen hervorrufenden Krampfanfall hätten führen können. So hatte ich nicht nur jede Menge Spritzen in den Kopf bekommen, sondern sobald ich geschrien hatte, war ich aufgehoben und getröstet worden, damit ich ja nicht ersticke. Das viele Kalzium hatte sich offenbar in den Nieren gesammelt und nach Jahren ein Steinchen gebildet, welches nun diese Horror-Koliken hervorgerufen hatte.

In der Spezialklinik wurde ich als erstes geröntgt und anschließend auf den Flur geschoben, wo ich neben einem Mann lag, der offenbar vor Schmerzen laut stöhnte und dessen Kopf komplett in einem Verband steckte, der von rubinrotem Blut durchtränkt war – für mich das schlimmste Erlebnis in diesem Krankenhaus. Per Schlinge holten sie bei mir in einem kleinen Eingriff den Großteil des Steines heraus, der Rest kam später beim Pinkeln heraus – einem Vorgang, der nie wieder so schmerzhaft und unangenehm sein sollte wie damals. Ich musste ganz dringend Wasser lassen, wusste, die Steinchenreste müssen raus, aber ich hatte nach dem ersten Versuch auch die Erfahrung gemacht, wie unfassbar schmerzhaft das war. Erst beim dritten oder vierten Wasserlassen ließen die Schmerzen nach und statt rotem Blut floss wieder hellgelber Urin – ich hatte das Schlimmste überstanden und genoss fortan den vielen Besuch und besonders das tägliche leckere Frühstück mit frischen Brötchen – die gab´s zu Hause nämlich nie – und Erdbeermarmelade. Als ich entlassen wurde, fühlte ich mich wieder völlig gesund und munter. Mein Vater holte mich abends ab, hatte jedoch meine Schuhe vergessen. Das war zunächst nicht weiter schlimm, denn es sollte ja per Auto direkt nach Hause und ins Bett gehen. Im Feierabendverkehr bog Vater dann auf eine der Ruhrbrücken, als just in der Mitte der Brücke der Motor stotterte und schließlich ausging. Hektisch versuchte Vater noch einen Hebel zu finden – der alte Käfer besaß eine Art Reservetank, auf den man umstellen konnte – dann zerrte er mich aus dem Wagen, hinter dem sich bereits ein kleiner Stau bildete, und stellte mich eilig mit meinen Hausschuhen auf dem Fußweg ab. Während ein netter Autofahrer anhielt und prompt den Umschalter fand, lehnte ich mich ans Geländer und blickte mit Schaudern in die tiefschwarzen Fluten der Ruhr unter mir.

 

6

 

Am Abend sitze ich mit Simone vor dem knisternden Kaminfeuer und erzähle ihr von den Vorkommnissen des Tages. Sie kannte Rolf ja auch von damals und ist erschüttert von dieser Entwicklung, auch wenn noch völlig nebulös ist, was eigentlich geschehen ist, wo er sich jetzt befindet und wie es ihm geht. Während wir hier gemütlich am wärmenden Feuer sitzen, scheint Rolf obdachlos zu sein – ein Gedanke, der uns trotz der Glut zu unseren Füßen frösteln lässt. Etwas Tragisches muss damals passiert sein, das ist klar, und ich habe mir zum Ziel gesetzt, herauszufinden, was es ist und ob ich Rolf irgendwie helfen kann. Ich erkläre Simone, dass ich versuche, das Ganze als eine höchst sinnvolle Aufgabe zu betrachten und dass ich froh bin, noch nicht wieder arbeiten zu müssen. Ich wisse zwar noch nicht so genau, wie ich ihn in Wuppertal suchen solle, aber ich wäre mir sicher, wenn er dort wäre, würde ich ihn auch finden. Simone unterstützt meine Überlegungen, steht kurz auf und bringt mir kurze Zeit später eine Adresse einer Obdachlosenunterkunft für Männer in Wuppertal mit, die sie aus dem Internet ausgedruckt hat – vielleicht könne ich ja dort einfach ´mal fragen. ‚Mal sehen. Warum nicht?‘ denke ich.

„Hast du eigentlich ein Foto von ihm?“, fragt sie schließlich, woraufhin ich aus dem Wohnzimmerschrank ein Album hervorkrame, in dem ich ein altes Foto finde, das ihn mit seinem typischen Grinsen und mit einer Bierflasche in der Hand an einem belgischen Strand zeigt.

„Ob er dem noch ähnelt, weiß ich natürlich nicht…“, bemerke ich lakonisch, löse das aufgeklebte Bild aber trotzdem vorsichtig vom Papier und stecke es ins Portemonnaie.

Nachdem ich furchtbar unruhig geschlafen und Simone am nächsten Morgen zur Arbeit verabschiedet, mein üblich bescheidenes Frühstück zu mir genommen und dabei Zeitung gelesen habe, mache ich mich zu früher Stunde auf den Weg. Ich parke den Panda am Haaner Bahnhof, steige in der Morgendämmerung die feuchten Stufen zum Bahnsteig hinunter, nehme den ausnahmsweise ´mal pünktlichen Regionalexpress nach Oberbarmen und steige am Wuppertaler Hauptbahnhof, wie der frühere Bahnhof Elberfeld jetzt heißt, aus. Ekeliger Schneeregen empfängt mich, als ich das Bahnhofsgelände über einen Nebenausgang verlasse – der Hauptausgang ist für Jahre wegen der Großbaustelle Döppersberg gesperrt – doch heute bin ich froh, dass ich an einen Schirm gedacht habe. An der Großbaustelle vorbei stapfe ich über provisorische Brücken, die gespenstisch im Takt der Fußgänger wippen, hangle mich an Pfützen und schmutzig-braunen Schneematschbergen vorbei in Richtung Fußgängerzone und ärgere mich, dass ich vergessen habe, wasserfeste, warme Schuhe anzuziehen. Meine braunen Halbschuhe, die ich ständig trage, sind schon durchweicht und innen ganz nass, so dass doch wieder eine feuchte Kälte meinen Körper emporkriecht.

An einem funktionsuntüchtigen Brunnen, gleich zu Beginn der Fußgängerzone, fallen mir sogleich zwei Penner auf, die unter einem Vordach stehen und miteinander gegen die Kälte trinken. Ich bleibe stehen, begutachte sie eine Weile und bin erleichtert, dass Rolf nicht dabei ist. Einer der beiden, ein schwarzbärtiger, auffällig kräftiger Kerl, der in eine grell blau leuchtende Daunenjacke gehüllt ist, er mag noch keine 30 Jahre alt sein, bemerkt mich und brüllt in meine Richtung:

„Ej Alter, was gibt´s da zu glotzen?“

Ruhigen Schrittes nähere ich mich den beiden.

„Ich suche einen alten Freund. Vielleicht können Sie mir helfen.“ Der junge Mann runzelt misstrauisch die Stirn, wendet sich zunächst von mir ab, um einen weiteren Schluck aus seiner mitgebrachten Öttinger-Pulle zu nehmen, während sein Kumpane, der kaum älter zu sein scheint, eine Wollmütze auf seinem, wie ich vermute, haarlosen Haupt trägt und den wilde Tattoos bis auf den Hals zieren.

„Ein Freund, ja?!“, wiederholt der Bärtige ungläubig. Wahrscheinlich denkt er, ich wäre ein Zivilbulle und suche irgendwen. Ich versuche es nochmal und hole das Foto hervor.

„Im Ernst. Ich suche einen alten Freund, Rolf Hansen heißt der Mann, er müsste heute so um die 50 Jahre alt sein.“ Ich zeige auf das Foto. „So sah er vor 30 Jahren aus.“ Der Daunenträger stößt seinem Kumpel lachend in die Seite und fängt an zu husten.

„Bommi, guck doch ´mal. Der sieht echt cool aus, Alter!“ Der Mützenmann sieht mit glasigen Augen auf das Bild und fängt lauthals an zu lachen.

„Kennen Sie ihn nun oder nicht?“, unterbreche ich ungeduldig das schallende Gelächter und ernte ein überzeugendes Kopfschütteln.

„Noch nie hier gesehen, die Marke – aber echt ein Original!“

„Wie lange sind sie denn schon hier in Wuppertal?“, fällt mir noch ein zu fragen, ehe ich mich verabschiede.

„Seit einer Woche, Alter“, lacht mir der Tattoomann mit breiter Bierfahne ins Gesicht. Alles klar. Ich gehe weiter.

Ziellos laufe ich die Straßenzüge der Fußgängerzone auf und ab, vorbei an gesichtslosen Zweckbauten der 50er-Jahre, die heutzutage Modehäuser beherbergen, am eindrucksvollen klassizistischen Bau des von-der-Heydt-Museums vorbei, bis ich schließlich ziemlich durchgefroren vor dem imposanten Rathaus lande, zu dessen Füßen sich ein wöchentlicher Markt ausbreitet. Ich schlendere die Marktstände entlang und frage mich, wie die rotnasigen Standbesitzer eigentlich der Kälte trotzen. Dick eingemummelt stehen sie zumeist da, aber ohne Mütze oder Handschuhe. So bedienen sie bewundernswert lächelnd, aber mit bläulich-rissigen Händen, wie mir bei einer Floristin auffällt. Ich sehe auf meinem weiteren Streifzug zwar so manchen armen Menschen, der auf mich wie ein Obdachloser wirkt und einmal werde ich sogar von einem Verkäufer einer Obdachlosenzeitung angesprochen, doch niemand ist Rolf und keiner kann auch mit seinem Namen oder meinem Foto auch nur irgendetwas anfangen. Ich gehe die Hauptachse der Fußgängerzone wieder südlich zurück in Richtung Bahnhof, bis ich einen kleinen Platz vor der Citykirche erreiche, die ein Kirchencafé beheimatet, wie ich erfreut feststelle. Meine Füße fühlen sich inzwischen wie Eisklumpen an, die Schuhe sind völlig durchnässt und ich ducke mich unter meinen schneebedeckten Schirm, der ob der nassen Schneelast immer schwerer wird. Aus dem Schneeregen ist inzwischen ein veritabler Nassschneefall geworden, was zu noch mehr braun-weißem Matsch auf den Wegen geführt hat. Die außen, am ehemaligen Glockenturm, angebrachte Speisekarte des Kirchencafés verspricht internationale Spezialitäten, sodass ich ohne weiteres Zögern hineintrete. Ich staune über das moderne Interieur, denn die Einrichtung des Cafés im großzügigen Eingangsbereich der ehemaligen Kirche ist in hellen Farben gestrichen, es ist angenehm warm, der Raum ist lichtgeflutet von unzähligen Deckenleuchten und die Möbel muten skandinavisch an. Fast nichts erinnert hier noch an eine Kirche. Ich setze mich an einen freien Tisch und bestelle bei einer netten Bedienung, die Finja erstaunlich ähnlich sieht und vermutlich auch Studentin ist, einen Milchkaffee. Hinterm Tresen bemerke ich einen jungen Mann mit Down Syndrom, der die Bestellung entgegennimmt und sich umgehend meines Kaffees widmet. Um mich herum sitzen einige ältere Gäste, im hinteren Teil des Cafés entdecke ich den Zugang zum ehemaligen Kirchraum. Seitlich dieses Durchgangs sind Auslagen angebracht, auf denen verschiedene Zeitungen und Broschüren abgelegt sind. Ich stehe auf, suche mir eine Tageszeitung aus, nehme einige Flyer mit und setze mich wieder an meinen Platz. Den herrlich duftenden Kaffee, den mir die Bedienung bereits hingestellt hat, ziert ein an einen Vogel erinnerndes Motiv, das der Barista kunstvoll aus der dunklen Crema und dem hellen Milchschaum hervorgezaubert hat. Beeindruckt und vom mindestens genauso überragenden Geschmack begeistert blättere ich die Flyer durch und stoße auf ein Infoblatt der Bahnhofsmission Elberfeld. Mir fällt Simones Idee mit der Obdachlosenunterkunft ein, leider aber habe ich vergessen, den Ausdruck mitzunehmen. Am besten gehe ich gleich doch erst mal zur Bahnhofsmission, überlege ich. Vielleicht kennt dort ja sogar jemand Rolf – wenn nicht, können sie mir zumindest bestimmt weiterhelfen, wo ich die Obdachloseneinrichtung finde.

Nachdem ich noch einen zweiten köstlichen Milchkaffee getrunken und bei der jungen Studentin erfahren habe, dass die Bahnhofsmission in einem Nebengebäude im Hauptbahnhof untergebracht ist, schleppe ich mich durchs Schneetreiben und über gefährlich glatte Stufen hinweg hinauf zum Elberfelder Bahnhof. Etwas unsicher betrete ich die provisorisch eingerichtete und zu dieser Stunde völlig menschenleere Bahnhofsmission, in der mich eine sehr rundliche Frau in blauem Kittel empfängt und mir sofort einen Platz anbietet. Ich winke dankend ab.

„Ich möchte gar nicht lange stören. Ich habe nur eine Frage. Ich suche einen alten Freund.“ Ich erzähle den wichtigsten Teil meines Anliegens in Kurzform – so langsam werde ich darin geübt – und überreiche der Dame das Foto.

„Wie heißt der Mann?“, fragt sie nach, doch als ich den Namen wiederhole, schüttelt sie den Kopf.

„Also, ich meine, da war vor einiger Zeit immer wieder ´mal jemand hier, der … naja, ich würde sagen, diesem jungen Mann ähnlich sah – aber nach Namen fragen wir hier nicht und wenn das Bild schon 30 Jahre alt ist, bin ich mir natürlich auch nicht sicher.“

„Ist Ihnen denn irgendetwas an ihm aufgefallen, als er bei Ihnen war?“

„Warten Sie.“ Sie ruft ihre Kollegin herbei, die Stefanie heißt, den gleichen blauen Kittel trägt, aber deutlich schlanker wirkt und in einem der Hinterzimmer beschäftigt ist. Sie drückt ihr das Foto in die Hand. „Kennst du den? Irgendwie kommt er mir bekannt vor.“ Stefanie besieht sich das Bild genau, führt es etwas näher an ihr Gesicht heran und nickt. Ihr Gesicht hellt sich sichtlich auf, mein Herz schlägt wieder Kapriolen.

„Na klar, das ist Rolf! Das war vor etwa einem Jahr. Er sieht aber inzwischen ein bisschen anders aus, hat vorne ´ne Zahnlücke. Ansonsten aber fast wie auf dem Foto, nur blasser, ein paar Falten mehr und nicht mehr diese schicke Tolle.“ Sie lacht ihre Kollegin an. „Das war der, der immer die Witzchen gemacht hat, der immer gute Laune verbreitet hat.“ Jetzt dämmert es auch bei der Moppeligen.

„Natürlich!“, ruft sie aus. „Rolf kam aus Düsseldorf, glaube ich. So ´ne richtige rheinische Frohnatur. Einige Wochen war er hier in Wuppertal, hat uns in der Zeit immer wieder aufgesucht. Irgendwann ist er nicht mehr gekommen. Was ist denn mit ihm?“

Ich seufze unwillkürlich. „Deshalb bin ich ja hier. Es hieß, er sei obdachlos und in Wuppertal. Ich dachte, ehrlich gesagt, Sie könnten mir helfen, ihn zu finden.“ Die beiden Damen schauen erst sich ratlos und dann mich traurig an. Stefanie erklärt:

„Wie gesagt, das ist gut ein Jahr her und wir kennen keine Namen und speichern auch keine Daten unserer Gäste.“ Ich muss erst schmunzeln bei dem Begriff „Gäste“, doch fällt mir sogleich auf, was dies für eine respektvolle Haltung diesen Menschen gegenüber ausdrückt. „Vielleicht versuchen sie es ´mal in der Obdachlosenunterkunft für Männer“, fährt sie fort, „Dort hat er meines Wissens häufiger genächtigt. Vielleicht können die Ihnen ja weiterhelfen?“

Immerhin, Rolf war also hier gewesen, er hatte auch nicht seinen Humor verloren, nur muss ich noch rausfinden, wo er sich jetzt befindet. Ich bedanke mich bei den netten, beeindruckend freundlichen Damen, begebe mich wieder ins graue Schneetreiben und stapfe der Wegbeschreibung Stefanies entsprechend südwärts den Hang hinauf bis zu einer unauffälligen Toreinfahrt in einem frisch gestrichenen Gründerzeithaus. Ich passiere die Toreinfahrt und begebe mich ins Innere des Hinterhauses, das die Notschlafstelle für Männer beherbergen soll. Ein Pförtner – dass es so etwas noch gibt – stoppt mich und fragt, wo ich hin wolle. Nachdem ich dem freundlichen Rentner, wie ich vermute, mein Anliegen erklärt habe, telefoniert er kurz, dann gibt er das Signal zum Eintreten.

„Gehen Sie bitte zur ersten Tür links, ein Herr Berger empfängt Sie.“

Nachdem ich geklopft habe und eingetreten bin, empfängt mich ein freundlich dreinschauender bebrillter Mitvierziger, wie ich schätze. Seine dunklen Haare säumen ausgeprägte Geheimratsecken und er trägt betont legere Kleidung in Form einer abgewetzten Jeans und eines schlabberigen hellblauen Sweatshirts. Ich setze mich ihm gegenüber; zwischen uns, wie als Abschirmung, ein schwarzer Computermonitor. Im Kontrast zu seinem Äußeren hält Herr Berger offenbar penible Ordnung, denn sein Büro und der Schreibtisch wirken akkurat aufgeräumt.

„Guten Tag, mein Name ist Berger, ich bin hier der Sozialpädagoge des Hauses. Ein Sauwetter heute, was?“, begrüßt er mich, um dann fortzufahren: „Was kann ich für Sie tun?“

Ich wiederhole meine Erklärung, die ich kurz zuvor schon in der Bahnhofsmission und beim Pförtner abgegeben habe und reiche ihm das Foto. Herr Berger inspiziert das Bild eingehend.

„Ich denke, ich kenne den Mann. Das ist in der Tat Herr Hansen – wenn auch ein paar Jährchen jünger.“ Ich atme auf, erkenne in seinem Gesicht aber eine Ernsthaftigkeit, die mir Sorgen bereitet.

„Also war er auch bei Ihnen“, stelle ich fest.

„Wissen Sie… Sie sind doch nicht verwandt oder verschwägert mit Herrn Hansen – richtig?“ Ich nicke stumm. Herr Berger ringt offenbar nach Worten.

„Sie müssen verstehen… Eigentlich darf ich Ihnen gar keine Auskunft geben… Datenschutz, Sie verstehen?“ Mir entfährt ein stiller Seufzer.

„Das kann ich verstehen, ja. Aber bitte verstehen Sie mich auch. Ich suche Rolf ja nicht aus irgendwelchen juristischen Gründen, weil ich irgendwelche Schulden bei ihm eintreiben will oder was weiß ich… Ich suche ihn als Freund. Ich möchte ihn nach all den Jahren einfach nur gerne wiedersehen, möchte wissen, wie es ihm geht und möchte ihm etwas sehr Privates mitteilen.“ Bis ins letzte Detail musste dieser Sozialpädagoge nun auch nicht alles erfahren, entschied ich.

„Also bitte. Wenn Sie etwas wissen, wo ich ihn finden kann, teilen Sie mir das bitte mit. Rolf wird Sie nicht verklagen, das verspreche ich Ihnen.“ Natürlich lehne ich mich damit ganz schön weit aus dem Fenster, aber was soll ich tun? Herr Berger zögert kurz, sucht mit seinen etwas glubschigen dunklen Augen hinter der altmodischen Nickelbrille meinen Blickkontakt, tippt plötzlich auf seiner Tastatur herum und richtet den Blick auf seinen Bildschirm. Er reißt ein gelbes Post-it von einem Stapel und kritzelt eine Adresse auf den Zettel.

„Von mir haben Sie das nicht!“, ermahnt er, ehe er nach einer gewichtigen Pause fortfährt. „Herr Hansen war im letzten Winter bis Anfang dieses Jahres auf Platte in Wuppertal. Er war sozusagen Dauergast bei uns. Wir haben ihm dann im Frühjahr eine Wohnung organisiert…“, er deutet auf den Zettel, „…haben ihn anschließend auch noch regelmäßig begleitet. Sie müssten ihn eigentlich dort finden. Mehr kann und darf ich wirklich nicht für Sie tun.“ Mein Herz macht wieder ´mal einen unangemeldeten Sprung, doch diesmal aus purer Freude. Ich atme unwillkürlich tief ein und spüre, dass ich meinem Ziel, Rolf zu finden, einen gewaltigen Schritt näher gekommen bin. Ich bin zu überwältigt, um noch viel zu sagen oder vernünftige Fragen zu stellen. Ich nehme den Zettel an mich, lasse mir nur noch kurz erklären, wo die angegebene Adresse lokalisiert ist, bedanke mich herzlich bei Herrn Berger, verspreche nochmals, dass es keinen Ärger geben wird und verlasse sein Büro.

Draußen hat es aufgehört zu schneien, der Himmel ist etwas aufgehellt, die Äste und feinen Zweige der Linden am Straßenrand biegen sich unter einer pittoresken Schneelast. Ich taste mich die glitschigen Gehwege bergab in Richtung des Bahnhofes, denn ich werde den nächstbesten Zug in Richtung Vohwinkel nehmen, wo Rolf eine kleine Wohnung bezogen haben soll. Da ich spüre, wie mein Magen knurrt, kaufe ich mir an einem Dönerstand am Wegesrand eine eingerollte türkische Pizza und nehme sie mit. Während ich am Bahnhof Ausschau nach dem nächsten Zug halte, beiße ich aus Versehen in die Verpackung und bekomme einen heftigen Schlag, als das Aluminium auf eine meiner Amalgamfüllungen trifft. Ich friere, habe plötzlich Zahnschmerzen, bin dennoch voller Zuversicht. Ich fahre jetzt nach Vohwinkel, dort werde ich Rolf endlich antreffen, so hoffe ich.

Als ich im westlichsten Wuppertaler Stadtteil ankomme, fällt mir auf, dass es hier wesentlich weißer ist als in Elberfeld. Selbst die Fußwege sind schneebedeckt und es knirscht so herrlich beim Gehen. Ich genieße trotz der nach wie vor unterkühlten Füße jeden Schritt über den weichen Schnee, während ich vom Bahnhof in Richtung Schwebebahn marschiere. Ich biege an der Hauptstraße nach links ab und muss eine Weile die Straße unterhalb der im Minutentakt laut ratternden Schwebebahn entlang gehen. Die Straße erinnert mich unwillkürlich an alte Kinofilme aus New York, in denen die U-Bahn in manchen Streifen oberirdisch unmittelbar vor den Fenstern der anliegenden Häuser entlang donnert. Nach zehn Minuten Fußweg stehe ich schließlich vor einem alten Jugendstilhaus, in dem Rolf wohnen soll. Des Hauses bessere Zeiten scheinen schon lange zurück zu liegen, denn Farbe und Putz bröckeln an einigen Stellen bedenklich ab, das Haus wirkt von außen wie ein alter Mensch – grau, rissig und verletzlich. Ich betrachte die uneinheitlichen Klingelschilder und tatsächlich, in der 2. Etage ist mit einem frischen Aufkleber Rolf Hansen, der einzig deutsch klingende Name, angegeben.

Ich halte nochmal inne, zögere zu klingeln. Tausend Unwägbarkeiten und Fragen schießen mir wieder in den Kopf. Wie wird er wohl reagieren, wenn er da ist? Will er mich überhaupt sehen? Was sage ich nur? Nach einer Weile entschließe ich mich, die Bedenken beiseite zu schieben, gebe mir einen Ruck und drücke den schwarzen Klingelknopf. Eine Gegensprechanlage scheint es nicht zu geben, aber ein leises Summen signalisiert, dass ich die Tür öffnen kann. Die schwere Haustür, dessen dunkelbraun gestrichener Holzkorpus im oberen Drittel mit gelbem Buntglas hinter geschwungenen Ziergitterstäben ausgestattet ist, verbirgt ein Treppenhaus, das sich in seltsamem Gegensatz zur äußeren Fassade in einem sehr guten Zustand befindet. Historische grün gemusterte Fliesen, sicher über 100 Jahre alt, zieren Boden und halbhoch die Wände des Eingangsbereiches, eine breite, rot lackierte Holztreppe, die unter meinen Tritten knarrt, führt entlang eines gedrechselten, weiß lackierten Geländers in die oberen Stockwerke. Bedächtig steige ich die Stufen empor, mein Herz schlägt derweil Trommelwirbel – ich bin mir nicht sicher, ob wegen des Treppensteigens oder wegen meiner inneren Aufregung. Auf einer Zwischentreppe pausiere ich kurz, dann erreiche ich die 2. Etage. Im Türrahmen erkenne ich sofort das altvertraute Gesicht Rolfs. Ich bleibe zunächst wortlos stehen, blicke in ein schmales, sehr blasses Gesicht, dessen kleine blauen Augen mich reglos, fast scheu fixieren. Auf seinem Haupt ist keine Tolle mehr zu sehen, dafür eine wilde blonde Kurzhaarfrisur – oder ist es grau? Rolf blickt mich nicht misstrauisch, aber etwas ratlos an, wie man einen Fremden vor der Tür halt anschaut.

„Was gibt es?“, sagt er plötzlich mit seiner mir noch immer wohlvertrauten hohen Stimmlage und ich erkenne die Zahnlücke, von der sie bei der Bahnhofsmission gesprochen hatten.

„Rolf?“, antworte ich nur mit belegter Stimme. Sofort wird sein Blick neugierig und ein vorsichtiges, abtastendes Lächeln stellt sich ein.

„Ja. Und wer sind Sie?“ Wir stehen immer noch reglos im Treppenhaus. Komisch, wenn er mich siezt.

„Darf ich reinkommen?“, frage ich.

„Erst will ich wissen, wer Sie sind. Da kann ja jeder kommen“, entgegnet Rolf in halb scherzendem Tonfall. In seinem Kopf scheint es zu brodeln, er denkt angestrengt nach, beugt dabei seinen Kopf seitwärts und mustert mich fortwährend. Zwar scheint er noch nichts Konkretes zu ahnen, er scheint aber Vertrauen zu schöpfen, dass ich ihm nichts will, denn sein vertrautes, mir gleichsam scheues wie verschmitztes Lächeln kommt zum Vorschein.

„Zivildienst? Hilden?“ Es macht mir jetzt fast Spaß, ihn rätseln zu lassen, doch löst er es nach diesem Hinweis schneller als gedacht. Ich merke, wie in seinem Innern ein Film abläuft und schlagartig reißt er die Augen auf.

„Nein!“ Er fasst sich an die Stirn. „Andreas!“, ruft er so laut, dass es durchs Treppenhaus hallt und stürzt sich auf mich, um mich fest zu umarmen. „Das gibt´s doch gar nicht“, murmelt er. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, während wir uns eine gefühlte Ewigkeit drücken.

„Komm rein!“, ruft er, als er endlich loslässt, zieht mich in seine Wohnung und wirft die Tür hinter uns ins Schloss. Wir stehen uns gegenüber. „Das gibt´s doch nicht!“, wiederholt er lachend, kopfschüttelnd und, wie ich feststelle, mit einer ordentlichen Fahne. Er weist mir den Weg in seine Küche, die ein einziges Chaos aus dreckigem Geschirr, leeren Bier- und Schnapsflaschen sowie dazwischen aufgehängter Wäsche darstellt. Auf der Fensterbank liegen ein paar Pfeifen, ein süßlicher Cannabisgeruch durchströmt meine Nase. Der Herd und die Spüle sind total verdreckt. Adventlich hatte ich es zwar nicht erwartet, aber so nun auch wieder nicht. Er räumt einen Stuhl frei und mir ist klar, dass ihm das Chaos vor mir peinlich ist.

„Ich hatte schon lange keinen Besuch mehr, weißt du?“, sagt er entschuldigend. „Komm, setz dich. Möchtest du ein Bier? Kaffee? ´Ne Kippe?“ Er scheint mir jetzt aufgeregter als ich selbst und ich bin erstmal glücklich, dass ich ihn gefunden habe und dass er sich über unser Wiedersehen offensichtlich freut – auch wenn mir der trostlose Anblick seiner Wohnung und sein Zustand einen Stoß ins lädierte Herz versetzt.

„Ich würde einen Kaffee nehmen, Danke“. Er rennt hin und her, setzt auf dem Gasherd das Wasser für einen Kaffee auf, eine Methode, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe, öffnet eine Keksdose, zündet mir eine Zigarette an und setzt sich schließlich auf einen Hocker mir direkt gegenüber. Er nimmt einen Schluck aus seiner Tasse, schüttelt grinsend den Kopf, blickt mich mit glänzenden Augen erwartungsvoll an, kann es offenbar gar nicht fassen, dass ich bei ihm bin. „Nee, nee, nee“, murmelt er kopfschüttelnd vor sich hin. Ich fühle mich derweil schlecht. Der Kaffee schmeckt bitter und, viel schlimmer, ich habe seine Zigarette angenommen, sauge geradezu begierig an dem kleinen weißen Stengel. Eine Weile sitzen wir nur da und betrachten uns gegenseitig. Er fixiert mich regelrecht. Vor seinem Wohnzimmerfenster rattern in regelmäßigen Abständen die Schwebebahnen vorbei – mal nach links, mal nach rechts. Da Rolf keine Gardinen hat, können die Fahrgäste bestimmt reingucken, überlege ich.

„Weißt du noch, die Haschkekse, die ich dir damals angedreht habe?“, grinst er, als er bemerkt, dass mein Blick auf seine Pfeifen fällt.

 

Wir hatten eines Abends ´mal wieder begonnen, eine Kiste Bier zu leeren, da hatte Rolf unscheinbare Kekse bereitgestellt. „Probier ´mal. Von mir selbst gebacken“, hatte er mir grinsend erklärt. Leicht angesäuselt und hungrig, wie ich immer war, wenn ich Alkohol zu mir nahm, hatte ich begierig einen Keks nach dem anderen gefuttert und hatte irgendwann einen wahnsinnigen Lach- und Farbenflash bekommen. Ich hatte Bilder von in sich fließenden Farben wahrgenommen, von blauen Flüssen, die plötzlich blutrot wurden, von grünen Himmelserscheinungen wie Polarlichter, von lustigen Menschen mit riesigen Köpfen wie in einem Zerrspiegel, von sprechenden Weinflaschen und singenden Autos, die in den schillerndsten Farben lackiert waren. Rolf und die anderen hatten plötzlich Stimmen wie Mickey Mäuse, als hätten sie Helium inhaliert und sie sahen aus wie eine Mischung aus Mensch und Esel, mit Riesenohren und wuscheligem Fell. Der wilde Rausch hatte eine gefühlte Ewigkeit angehalten, dann war mir fürchterlich schlecht geworden und ich hatte mich übergeben müssen. Danach hatte ich geschlafen und wildeste Alpträume gehabt, am nächsten Tag war es mir mehr als dreckig gegangen. Seitdem hatte ich das Zeug nie mehr angerührt.

„Du hast nur noch gelacht“, grinst Rolf mich an.

„Stimmt. Mir ist später aber auch verdammt übel geworden. Das war voll der Absturz“, erinnere ich mich. Das ist wohl sein Thema, denke ich.

 

„Du siehst gut aus“, durchbricht Rolf meine Gedanken. „Bist schlanker geworden, oder?“ Sein Blick hat jetzt den fröhlichen Glanz verloren, fast wirkt er melancholisch. Ich möchte ihm nicht sagen, dass er schlecht aussieht und schweige. „Weißt du noch“, fährt er fort, „wie wir uns kennen gelernt haben? Ich hab damals als Zivi angefangen und du warst schon da. Der schwule Imhaus, weißt du noch, der Personalfuzzi, der hat mich dir vorgestellt.“ Er lacht kurz auf. „Und weißt du noch der Imker? Sein Propolis nehme ich immer noch, wenn ´ne Erkältung droht. Und die Nonne, weißt du noch, wie hieß die noch?“ Ich komme selber nicht drauf und verziehe ratlos die Mundwinkel. Mir kommt in den Sinn, wie Rolf damals in mein Leben trat:

 

Nach einigen Monaten meiner Zivildienstzeit hieß es, ein weiterer Zivi käme ins Haus, ein Handwerker für die Grünanlagen: Rolf. Ich freute mich auf ihn, denn dann wäre ich nicht mehr der einzige Zivi des Hauses. Rolf stellte sich mir als ausgebildeter Gärtner vor, der auch aus Hilden „in the ghetto“ kam, im Gegensatz zu mir dort aber auch aufgewachsen war. Rolf war ein großer, schmaler, blasser junger Mann, der Ska und Rockabilly hörte, Hermann Hesse las und eine wilde Tedfrisur hatte: rechts und links nahezu abrasiert, in der Mitte mit tonnenweise Haarspray fixierte Locken, die vorne weit über das Gesicht spitz hinaus ragten und in denen sich im nächsten Sommer eine Biene fest flog. Rolf brachte mir Dire Straits und Marius Müller-Westernhagen näher und bald schon kannten wir alle Lieder auswendig und sangen lauthals mit, wenn Marius „Lass uns leben“ oder von der Frau sang, die ihren Mann verlässt wegen „einem Hippie, ganz in Orange“. Rolf war der witzigste und offenste Mensch, den ich je erlebt hatte – wie er auf Menschen und auf Mädchen zuging, imponierte mir von Beginn an sehr. Am meisten beeindruckte mich aber seine Offenherzigkeit, Freundlichkeit, Direktheit und Natürlichkeit. Wenn er zu seiner Freundin lachte „Du machst mich ganz karousselig in die Kopf“, wenn er am Pissoir stehend mit singender Stimme resümierte „Du kannst ihn zupfen, kannst ihn klopfen, in die Hose geht der letzte Tropfen“, wenn er frühmorgens erklärte, er brauche noch ein Weilchen bis zum Aufstehen, mit der Begründung „Ich hab´ noch ´ne Morgenlatte“, zeigte er eine Unverkrampftheit, die mir gerade in dieser Hinsicht völlig fehlte… Rolf pflegte ein breites Lachen, kannte Witze ohne Ende, darüber hinaus konnte er fast alle deutschsprachigen Dialekte und ausländischen Sprachen imitieren (ohne letztere tatsächlich sprechen zu können). Insbesondere seine holländisch-Imitationen, angelehnt an Hermann van Veen waren legendär. Das für mich Schönste aber war, dass er mich vom ersten Tag an mit meinem Vornamen und nicht – wie in meiner Schulzeit üblich – mit meinem Nachnamen oder einem albernen Spitznamen ansprach. Obwohl er mich kaum kannte, nahm er mich für voll, so wie ich war und schon bald betrachtete ich ihn und er mich als Freund.

Rolf steht auf, öffnet den Kühlschrank und köpft mit seinem Feuerzeug die Kronkorken zweier Bierflaschen, die leise klickernd auf den Boden fallen. Er reicht mir eine der Flaschen und deutet an, mit mir anstoßen zu wollen.

„Prost Andreas. Schön, dass du da bist. Darauf trinken wir einen!“ Ich stoße etwas widerwillig mit ihm an und bin mir urplötzlich unsicher, ob das alles eine gute Idee war. Offensichtlich hat er riesige Probleme, sein Leben zu meistern und ein Alkohol- und/oder Drogenproblem scheint er auch zu haben. Wenn ich an früher denke, fällt mir ein, in welchen Mengen er schon damals nicht nur Bier konsumiert hat. Gekifft hat er wohl auch damals schon. Ich ertappe mich bei der Frage, was ich hier eigentlich will, da stellt Rolf zu allem Überfluss auch noch die Frage: „Erzähl, was machst du hier?“