Der Tscherkesse – Tödliche Fracht / Leseprobe und Exposé

Kurzes Exposé

Der Tscherkesse erzählt die Geschichte zweier junger Türken, die ihr Glück auf recht unterschiedliche Weise verwirklichen wollen.

Im Jahr 1972 träumt Osman davon, seinem öden Heimatort Uluköy und damit seiner tragischen Vergangenheit zu entfliehen. Er beginnt in der Hauptstadt Ankara eine kriminelle Karriere, bei der er schnell in der Gunst des einflussreichen Gangsterbosses Mardinli Recep aufsteigt. Ufuk hingegen folgt dem Ruf eines Freundes und beginnt seine Medizinkarriere im fernen Deutschland. Auf schicksalhafte Weise kreuzen sich ihre Wege; der Beginn eines tödlichen Abenteuers…

Leseprobe

DER TSCHERKESSE

Tödliche Fracht

Für meine Kinder Yasmin und Kai

VORBEMERKUNG

Bei der jahrelangen Vorbereitung der Geschichte war es notwendig, die geographische Lage und zum größten Teil die Namen der Orte und Personen zu ändern. Der größte Teil der Geschichte entsprang meiner Phantasie, allerdings basieren die Charaktere und deren Handlungen auf realen

Personen, die durchgängig mit der größtmöglichen Genauigkeit und Wirklichkeitstreue wiedergegeben wurden.

Mein Dank gilt all denjenigen Menschen, die mir durch ihre kreativen Ideen und Ratschläge zur Seite standen. Ohne sie hätte dieses Buch nie entstehen können.

Menschen sind wie die Flüsse; das Wasser, das in ihnen fließt, ist in jedem das gleiche.

Aber jeder Fluss ist an einer Stelle schmal, an einer anderen breit, manchmal ruhig oder klar oder kalt, manchmal trüb und ein andermal wieder warm. Und Menschen genauso. Jeder Mensch hat die Keime aller menschlichen Eigenschaften in sich; alle kommen zu verschiedenen Zeiten zum Vorschein, und oftmals wird er sich charakterlos benehmen, trotzdem ist er immer noch dieselbe Person…

FRANZ KAFKA

Anatolien, das Land der Mutter Sonne, oder laut einiger Wissenschaftler die Wiege der Menschheit, ist ein Gebiet, das aus Ansammlungen von Plateaus besteht, wovon die zentrale Hochebene über die größte flächenmäßige Ausdehnung verfügt und vollständig von Bergketten umgeben ist.

Während das Taurusgebirge entlang des Mittelmeeres die Südgrenze bildet, trennt im Norden das Pontische Gebirge das innere anatolische Plateau vom Schwarzen Meer.

Die noch heute andauernde Aktivität der Erdkruste verursacht besonders im nördlichen Teil Anatoliens die zahlreichen Bebenlinien.

Vom Westen her kommend streckt sich eine solche Bebenlinie über Bursa bis zum Kızılırmak, dem längsten Fluß Anatoliens. Sie deckt sich mit der großen tektonischen Trennlinie der Paphlagonischen Narbe, welche ebenfalls vom Kızılırmak nach Westen in den Golf von Izmit verläuft und dort mit einem nördlichen Zweig der oben genannten Bebenlinie das Marmara Meer erreicht.

In den letzten 70 Jahren gab es eine Menge kleiner Erschütterungen, so wie auch große Erdbeben mit schweren Folgen, entlang dieser Paphlagonischen Narbe.

1944 zerstörte ein solches Katastrophenbeben der Stärke 7,4 das auch auf der nordanatolischen Bebenlinie gelegene Uluköy. Diese knapp zweitausend Einwohner zählende Gemeinde ist von Nadelwäldern und Bergmassiven umgeben und liegt 1119 Meter über dem Meeresspiegel an der Nordgrenze der inneranatolischen Hochebene.

Die nächste Katastrophe folgte 1958, als der härteste aller Winter über Uluköy hereinbrach.

Als der milde Herbst 1957 sein Ende erreicht hatte, kündigte der Winter bereits im November mit großen Schneemassen und kalten Nordwinden seine spätere Grausamkeit an.

Und Anfang Februar 1958 war es dann soweit. Der Himmel war mit grauen Wolkenmassen bedeckt, die auf Uluköy wie der Deckel eines riesigen Sarges lasteten. Eine volle Woche lang fielen ungeheure Mengen Schnee in großen Flocken unaufhörlich, sodass die Erde schon am ersten Tag mit hohem Schnee bedeckt war. Heftige eiskalte Stürme rasten ohne Unterlass durch die Schluchten und Wälder. Immer wieder neuer Schnee, Flocke auf Flocke, wie die Flut bei Überschwemmungen, wuchsen und stiegen die weißen Mauern bis über die Fensterhöhe der Häuser. Der schweren Last der Schneemassen konnten die meisten Dächer der aus Holz und Lehm gebauten Häuser nicht mehr standhalten.

Es handelte sich zweifellos um den unbarmherzigsten Winter aller Zeiten. Die Menschen Uluköys mussten sich seiner grausamen Herrschaft über Leben und Tod in stummer Ergebung fügen.

-I-

Als Davut Ozan, der Pächter des Teehauses im Stadtpark von Uluköy, am frühen Morgen des elften Februar 1958 um fünf Uhr früh aus einem unruhigen Schlaf erwachte, ahnte er noch nicht was das Schicksal für ihn und seine Familie bereit hielt. Ein böser Traum hatte ihn geplagt. Er wurde in eine schwarze Tiefe gesogen und hatte schreien wollen, aber wie gelähmt konnte er keinen Laut von sich geben.

Davut wischte sich den Schweiß von der Stirn und richtete sich schwer atmend auf. Sein Blick schweifte über die dunklen Umrisse einiger Gegenstände im Zimmer und blieb an einem Wecker haften, dessen grüne Leuchtziffern sieben nach fünf zeigten.

Davut streckte seinen muskulösen Arm aus und knipste den Lichtschalter an der Wand an.

Ein Gefühl der Verzweiflung ergriff ihn, als er seine Frau Emine im fahlen Licht betrachtete, die bewegungslos neben ihm lag. Ihr Gesicht war blass und schien noch schmaler geworden zu sein. Er beugte sich über sie und schob zwei an ihrer Stirn klebende Haarsträhnen zur Seite. Ihre Haut fühlte sich heiß und feucht an. Er hörte ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge. Die Wirkung des Schlafmittels, das sie in der Nacht bekommen hatte, hielt noch an. In der Stille des Zimmers kehrten die Bilder der letzten vierundzwanzig Stunden zurück.

Es war keine harmlose Grippe, wie man zunächst angenommen hatte. Seit gestern klagte Emine über starke Bauchschmerzen und hatte sich mehrmals übergeben. Schließlich wurde der einzige Arzt der kleinen Gemeinde gerufen, der sich seit Tagen über mangelnde Arbeit nicht beklagen konnte. Nach einer Untersuchung stellte er eine akute Blinddarmentzündung fest und tröstete die Kranke, bevor er mit Davut das Zimmer verließ.

Davut, sie muss so schnell wie möglich operiert werden. Sonst besteht die Gefahr eines Durchbruchs. Und das kann unter Umständen lebensgefährlich werden. Leider erlauben die Witterungsverhältnisse nicht, dass sie in eine Klinik transportiert werden kann. Wir müssen abwarten und hoffen, dass es aufhört zu schneien“, erklärte der Arzt draußen in der Diele. Seine Stimme klang sehr rau, aber was er sagte war pure Wahrheit.

Die nächsten Worte hörte Davut zwar, doch drangen sie nicht in sein Bewusstsein. Der Schock traf ihn wie ein Schlag. Er konnte nicht fassen, wieso es auf einmal so schlecht um seine Frau stand. Die Hoffnungen, die ihn bisher beseelt hatten, zerflatterten. Er starrte nun den Arzt mit leeren Augen an.

Erst als der Mediziner ihn am Arm packte, schwand seine Benommenheit.

Doktor bey,1 gibt es wirklich keine andere Möglichkeit als die Operation?“

Der Arzt schüttelte bedauernd den Kopf.

Davut überlegte kurz und sagte: „Wir dürfen also keine Zeit verlieren.“

Der Arzt nickte.

Wenn das so ist, muss ich sie wohl zum nächsten Krankenhaus fahren”, sagte Davut entschlossen, obwohl er wusste, dass es fast unmöglich war. Denn sie saßen hier inmitten von Schneemassen fest und waren von der Außenwelt völlig abgeschnitten.

Der Arzt blickte ihn verblüfft an und schüttelte energisch den Kopf.

Das ist…Bei dem Wetter wäre das doch Selbstmord. Die nächste Klinik liegt fast sechzig Kilometer entfernt und es schneit immer noch heftig.”

Ich weiß. Aber ich muss es riskieren. Das ist alles, was ich für sie tun kann und es ist verdammt wenig!“

Der Mediziner betrachtete ihn in stummer Besorgnis, doch verengten sich seine Augen nachdenklich, als er Davuts entschlossenen Gesichtsausdruck sah.

Tja…Ich weiß nicht, ob das was du vorhast eine kluge Entscheidung ist”, sagte er schließlich mit einer Geste der Hilflosigkeit, während er nach seinem abgenutzten Arztkoffer griff und einige Kapseln herausholte.

Damit sie wenigstens die Nacht ruhig schlafen kann. Und noch was, gleich eine Wärmeflasche mit Schnee füllen und auf ihren rechten Unterbauch legen. Das verzögert jedenfalls einen eventuellen Durchbruch”, erklärte der Mediziner. Als er bereits die Türklinke herunter gedrückt hatte, drehte er sich noch einmal um und fasste Davut am Arm.

Sei vorsichtig mein Junge, sei bloß vorsichtig“, sagte er mit besorgter Stimme.

Davut wollte aufstehen, doch blieb er noch einen Augenblick liegen und betrachtete seine Frau. Er dachte wehmütig an all die glücklichen Jahre, die er hier in diesem kleinen Haus mit ihr verbracht hatte. Als der Wind ums Haus heulte und alle Fensterläden klappern ließ, wälzte sich Emine unruhig zur Seite. Sie atmete erschöpft und ihre dunkelblonden Haare lagen feucht auf dem weißen Kissen.

Davut stand auf und achtete darauf keinen Lärm zu machen als er sich anzog. Bei jeder Bewegung spannten sich die ausgeprägten Muskeln an seinem Körper. Er war groß und seine kurzgeschnittenen dunklen Haare berührten fast die Deckenlampe, deren schwacher Schein das spärlich möblierte Zimmer beleuchtete; zwei Stühle, ein Kleiderschrank, eine alte Kommode mit einer bestickten Decke und einem Wecker darauf. Über der Kommode hing ein großer Wandspiegel mit einem geschnitzten Rahmen, in dem ein Hochzeitsbild von Emine und ihm steckte. Er schauderte, als ihn ein bis heute unbekanntes Gefühl ergriff. Er hatte Angst, nicht vor dem Wetter, sondern davor, dass er sie nicht rechtzeitig in die Klinik bringen könnte.

In einer Ecke des Zimmers befand sich ein Holzofen, der die ganze Nacht Wärme gespendet hatte, jedoch längst ausgegangen war. Er nahm einige Buchenscheite vom Holzstapel, legte sie in den Ofen auf die schwache Glut und pustete solange bis sich das Feuer entfachte. Eine Zeitlang saß er davor und starrte nachdenklich in die zischenden Scheite. Anschließend stand er auf und stellte den Wecker ab, den er für fünf Uhr dreißig eingestellt hatte. Danach holte er aus einer Schublade der Kommode Emines Unterlagen, die für die Aufnahme in die Klinik notwendig waren, heraus. Sein Blick fiel dabei in den hinteren Teil der Lade auf einen Stapel zusammengeschnürter Briefe, die Emine aufbewahrt hatte, vom ersten Zusammentreffen bis zu seiner Entlassung aus der Armee.

Davut band sie los, nahm sich die beiden obersten vom Stapel und entfaltete den ersten Brief. Es war ihr allererster Brief, den sie nach Korea geschickt hatte…

Davutum, 09 Oktober 1950, Uluköy

Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich gefreut habe, als ich deinen Brief erhielt. Es hat so lange gedauert, bis ich endlich Nachricht von dir bekam. Ich glaubte schon fast an das Schlimmste, aber ich habe die Hoffnung nicht aufgeben können. Ich wollte es eigentlich nicht verraten, ich dürfte es dir gar nicht sagen, aber es wird dir bestimmt gut tun, wenn du diese folgenden Zeilen liest.

Davutum, wir kriegen ein Kind. Darum will ich, dass du zurückkommst. Denke an uns, mich und dein Kind! Begib dich bitte nicht in unnötige Gefahr. Denn ich will keinen Helden. Ich will nur dich, den Vater meines Kindes. Ich warte sehnsüchtig auf den Tag, an dem unsere aufgezwungene Trennung ein Ende finden wird. Ich möchte, dass dieser Krieg bald zu Ende geht und will dich wieder in meinen Armen fühlen, dich lieben, bis in alle Ewigkeit…

Deine Emine

Als der Korea Krieg, eine Auseinandersetzung der Truppen der Demokratischen Volksrepublik Korea und China auf der einen Seite und dem Bündnis der Republik Korea mit UNO-Truppen auf der anderen Seite, im Juni 1950 ausbrach, erfasste die Menschen große Verzweiflung. In Europa und in den USA gab es panische Reaktionen. Am 26. Juni 1950 forderte der Weltsicherheitsrat die Mitglieder der UNO auf, Südkorea Hilfe zu leisten. Immer mehr westliche Staaten erklärten sich bereit Truppen für den Krieg in Korea zur Verfügung zu stellen, in der Hoffnung, gemeinsam die Bedrohung aus dem Osten abzuwenden.

So waren auch türkische Soldaten, die sogenannten Mehmetcikler2, im Wechsel am 17. September 1950 nach Korea geschickt worden. Und Davut war einer der ersten von ihnen.

Er dachte an den Krieg, die toten Kameraden, die Bomben und an die in die Höhe steigenden Rauchwolken, an das Rattern der Maschinengewehre, an die herzzerreißenden Schreie in seiner Nähe, die schwarzen Schatten der Flugzeuge, die wie die Aasgeier über ihnen kreisten.

Davut zündete sich die erste Zigarette des Tages an und, während er den anderen Brief öffnete, ließ er sich auf einem Stuhl nieder.

Eminem, 28 Dezember 1950, Kunuri

In diesem grausamen Krieg um mich herum finde ich nur in deinen Briefen Trost. Was auch immer geschehen mag, ich werde dich nie vergessen und dein Bild in meiner Seele bewahren, auch wenn ich dahin gehen sollte, von wo es kein Zurück mehr gibt. Ich träume von dir, von unserem kleinen Haus und von Nächten, in denen nur der Mond und die Sterne unsere Zeugen waren. Und ich träume von meinem Land, in dem Frieden herrscht, in dem die Menschen ohne Angst leben und die Kinder sorglos auf den Straßen spielen.

Mit der gleichen Kraft deines Glaubens hoffe ich auf meine bevorstehende Rückkehr, darauf, dich wieder in meinen Armen zu fühlen.

Dein Davut

Er überlebte diese Hölle, die über vier Millionen Menschenleben gekostet hatte und er wurde wie ein Held empfangen.

Davut lächelte bitter. Was hatte er von seinen Heldentaten, wenn er seine Emine verlieren würde?

Er faltete die beiden Bögen zusammen und steckte sie in seine Jackentasche, bevor er die restlichen Briefe zurücklegte. Warum er dies tat, wusste er selbst nicht.

In diesem Augenblick stöhnte Emine kurz und öffnete langsam ihre großen, dunkelblauen Augen. Sie schaute ihn eine Weile an und lächelte. Davut konnte in ihrem Blick die große Liebe zu ihm erkennen. Es gab keinen schöneren Anblick für ihn, nichts was er lieber betrachtet hätte. Dieses Lächeln war wie eine Erlösung und seine Spannung wich. Er lächelte zurück und sie schloss die Augen wieder. Davut betrachtete sie noch eine Weile, bevor er ans Fenster trat. Er schob den Vorhang leise beiseite, öffnete das Fenster um eine Handbreit und stieß die Fensterläden zurück.

Der Schnee blinkte durch die Morgendämmerung. Der Wind hatte sich ein wenig gelegt und es hatte zum Glück nicht mehr geschneit. Er sah prüfend zum stockdunklen Himmel auf, der tief über den Dächern zu liegen schien, bedrückend und unheimlich. Davut schnippte die Zigarette hinaus in den Schnee und machte das Fenster wieder zu.

Er warf einen Blick auf den Wecker. Es war schon viertel vor sechs. Ismail Ağa und Karga, seine besten Freunde, wollten um sechs Uhr kommen.

Gestern hatten sie sich im Belediye Lokantası3, dem einzigen Restaurant Uluköys, getroffen. Das taten sie immer, wenn es Probleme gab.

Und diesmal gab es ein besonders großes…

Belediye Lokantası lag an der Hauptstraße und war der einzige gepflasterte Verkehrsweg. Es wurde Abend in Uluköy. Eisige Windstöße und Schneeböen durchbrausten den Ort, als sich Davut und Ismail Ağa zur verabredeten Zeit vor dem Restaurant trafen.

Kazım, der Besitzer des Restaurants war ein Mittvierziger mit dichtem, schwarzem Haar und Schnurrbart. Er saß hinter der Theke und kassierte gerade, als Davut und Ismail Ağa hereinkamen, nachdem sie ihre schneebedeckten Mäntel und Mützen draußen abgeklopft hatten.

Sie grüßten Kazım und die wenigen Gäste, während sie sich an einen Tisch neben dem Holzofen am Fenster setzten, ihre nassen Sachen legten sie auf einen Stuhl vor dem Ofen.

Gleich darauf kam Arif, der Koch, ein korpulenter, junger Mann mit Doppelkinn, aus der Küche geeilt und stellte eine Karaffe Wasser und einen Korb voll frischem Brot auf den Tisch.

Iyi akşamlar4!“, grüßte er sie freundlich.

Wie immer, Ismail Ağa?“

Wie immer.”

Davut?“

Ich möchte nichts essen, Arif.”

Kazıms Küche war berühmt und seine Kundschaft schätzte sie sehr. Natürlich trug auch die Kochkunst Arifs, der auch den Kellner spielte, erheblich dazu bei. Auch die Reisebusfahrer, die an bestimmten Tagen vor dem Restaurant anhielten und eine Stunde Essenspause machten, waren sich einig, dass Kazıms Küche die Beste in der Gegend sei. Wie üblich wurden sie von Kazım umsonst bedient, damit sie beim nächsten Mal wieder in Uluköy bei ihm ausstiegen. Das brachte gute Einnahmen, weil den Reisenden, die mehr an ihren Hunger dachten als an ihren Geldbeutel, alles zum fast doppelten Preis angeboten wurde.

Seit Tagen fuhr aber kein einziger Bus mehr und Kazım fluchte über das Wetter in allen Sprachen. Aber er war nicht der einzige, der sich des Wetters wegen Sorgen machte.

Ismail Ağa, der Forstaufseher strich über seinen Schnauzbart und sein schwerer, muskulöser Körper spannte sich unter der Jacke seiner grünen Uniform, als Arif in der Küche verschwand.

Wie geht’s ihr?“, fragte er, während er sich eine Yenice5 ansteckte und gleichzeitig Davut eine anbot.

Schlecht, Ağa…sehr schlecht“, antwortete Davut. Seine Stimme klang aufgeregt.

Ich musste Doktor Erol bey holen”

Und?“, fragte Ismail Ağa und zupfte an seinem Bart, ein Zeichen seiner wachsenden Unruhe.

Er meinte, dass sie unverzüglich operiert werden müsse. Sie habe eine Blinddarmentzündung und ein Durchbruch sei nicht ausgeschlossen.“

Ismail Ağa begriff sofort, was das bei diesen ungünstigen Wetterverhältnissen bedeutete. Er zog die Stirn in Falten und zupfte weiter an seinem Bart.

In diesem Moment brachte Arif eine kleine Flasche Rakı6 mit Gläsern.

Die Köftes7 und den Salat bringe ich gleich, Ağa.“

Ismail Ağa überhörte Arifs Bemerkung. Er füllte die Gläser mit Rakı und gab vorsichtig Wasser dazu, bis die klare Farbe des Schnapses milchig trüb wurde.

Şerefe8!“

Şerefe!“

Davut trank sein Glas ungewöhnlich schnell aus und stellte es nachdenklich auf den Tisch.

Ich werde sie morgen nach Gerede fahren“, sagte er unvermittelt.

Ismail Ağas Unterkiefer klappte plötzlich herunter, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Sekundenlang starrte er Davut verwundert an.

Hör mal zu, Freund! Das ist doch purer Wahnsinn! Wie willst du denn um Gottes Willen bei dem Wetter nach Gerede fahren und vor allem womit?“, fragte er schließlich.

Seine Frage war mehr als berechtigt, denn der Işık9-Pass und der Ilgaz10-Pass waren seit einer Woche nicht passierbar. Mit ihrem einzigen Schneepflug konnte zwar die Straßenmeisterei bis vor zwei Tagen die Hauptverkehrsstraße im Osten bis zum nächsten Dorf und im Westen etwa fünfunddreißig Kilometer von der Schnellstraße E4 entfernt einigermaßen vom Schnee frei halten. Aber es schneite weiterhin unaufhörlich.

Davut nickte stumm und drückte seine Zigarette aus. „Bevor ich hierher kam, war ich bei Yüzbaşı11 Saim. Er stellt mir, trotz der strengen Armeevorschriften, seinen Jeep zur Verfügung“, erklärte er, während Ismail Ağa die Gläser erneut mit Rakı füllte.

Yüzbaşı Saim lässt dich mit einem Jeep fahren? Hat diese verdammte Kälte das Blut in seinem Gehirn erstarren lassen? Oder will er deine Überlebenskünste auf die Probe stellen?“.

Yüzbaşı Saim war Kommandant der in Uluköy stationierten Staffel, die überwiegend die Armee-Fahrzeuge des nördlich gelegenen Hauptquartiers in Safranbolu mit Brennstoff versorgte. Sein stark ausgeprägtes Wehrpflichtbewusstsein machte ihn stolz auf seine Uniform. Als man ihm erzählte, dass ein gewisser Davut Ozan im Koreakrieg eingesetzt worden war, wollte er ihn unbedingt kennen lernen. So trafen sie sich im Teehaus von Davut und waren sich auf Anhieb sympathisch. Am Ende seines Besuchs sagte Yüzbaşı Saim:

Ich habe großen Respekt vor einem Helden, der für die Sicherheit des Weltfriedens einen besonderen Kampf mitgemacht hat. Wenn ich dir irgendwann, irgendwie behilflich sein kann, wäre das für mich eine große Ehre.“

Davut blickte nachdenklich von dem Glas auf und beugte sich über den Tisch.

Ağa, du übertreibst. Saim war auch nicht begeistert. Dennoch hat er schließlich eingesehen, dass Emine, trotz der ungünstigen Wetterverhältnisse, schnellstens in eine Klinik gebracht werden muss. Übrigens, ich habe mich vor wenigen Minuten mit dem Belediyereisi12 unterhalten. Er sagte mir, er habe heute die Kreisverwaltung um Hilfe gebeten, die Schneemassen in und um Uluköy dringend zu räumen, bevor eine große Katastrophe passiert. Die Räumungsfahrzeuge seien schon unterwegs, aber bis sie Uluköy erreichen können, würde es bis übermorgen dauern, da die Umgebung auch nicht besser aussehe. Also bleibt mir keine andere Wahl, als mit dem Jeep zu fahren. So hat sie wenigstens eine Chance.“

Chance!“, sagte Ismail Ağa kopfschüttelnd und nahm einen kräftigen Schluck. Er steckte bedächtig mit dem Stummel seiner Zigarette eine neue an und fuhr, immer noch kopfschüttelnd, fort.

Davut, ihr würdet in diesem Spielzeug-Auto erfrieren, bevor ihr die Schlucht erreicht habt. Wer bei diesem Wetter wagt, durch die Karataşschlucht mit einem Jeep zu fahren, handelt doch nicht mit Verstand.

Mag sein. Saim wollte mir sogar, einen GMC13 mit Fahrer zur Verfügung stellen. Ich habs natürlich abgelehnt. Ich möchte nicht, dass ich andere in Gefahr bringe oder ihnen Schwierigkeiten bereite. Übrigens, mit so einem schweren Wagen kann es eher passieren, dass ich nicht weiterkomme, wenn er mal fest im Schnee steckt.”

Ismail Ağa schwieg. Er blickte Davut eine Weile an und nickte einige Male, während er sich zurücklehnte.

Na gut“, sagte er schließlich. „Aber ich komme mit. Du weißt, ich kenne die Gegend und ihre Tücken wie kein anderer.“

Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, protestierte Davut heftig, als in diesem Augenblick vor dem Fenster das Gesicht von Karga14, dem besten Fahrer Uluköys, auftauchte. Er sah aus, als wäre er gerade aufgewacht. Seine Augen unter den kohlschwarzen Brauen waren rot und die Augenlider angeschwollen. Die große Hakennase schimmerte wie eine frisch gewaschene Karotte.

So ein Scheißwetter!“, rief Karga, als er eintrat. Dann ging er knurrend zum Tisch, wo seine Freunde saßen und zog den nassen Mantel aus. Er warf ihn achtlos auf einen leeren Stuhl und klopfte die schneebedeckte Mütze mit dem Handrücken ab.

Kannst du das nicht vor der Tür machen, du Klotz?“, rief Kazım.

Ich wollte den Bürgersteig nicht schmutzig machen, du Esel“, schrie Karga zurück und und versuchte zu lachen. Aber seine von der Kälte steifgewordene Gesichtsmuskulatur ließ es nicht zu. Er nahm neben Davut Platz,während er geräuschvoll in ein Taschentuch schnäuzte,

Verdirb mir und meiner Kundschaft nicht den Appetit“, schrie Kazım erneut.

Halts Maul du Idiot! Es geht dir anscheinend gut. Du sitzt da in der warmen Stube und lässt deinen dürren Arsch Musik machen“, krächzte Karga und wandte sich zu seinen Freunden.

Äh…es tut mir leid, dass ich zu spät komme. Aber diese verdammte Grippe! Es hat mich schlimm erwischt.“

Arif brachte die Bestellungen.

Sind die Köftes von gestern, Arif? So schnell bin ich hier noch nie bedient worden“, frotzelte Karga.

Das sind ganz besondere Frikadellen Karga, extra für dich gemacht, mit einem Schuss Geheimmittel gegen die Hässlichkeit“, konterte Arif schlagfertig.

Er braucht mindestens ein Pfund von dem Zeug“, warf Kazım ein. Karga drehte sich wütend nach Kazım um und streckte ihm zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckten Daumen entgegen. Karga bemerkte, dass Ismail Ağa und Davut lustlos mit ihren Gläsern spielten. Er spürte die gespannte Atmosphäre und schaute sie fragend an.

Ohne jede Einleitung erzählte Ismail Ağa ihm von Emines Zustand und die verrückte Idee von Davut, während er den Rest der Flasche in Kargas Glas goss.

Ich glaube, du hast ziemlich viel getrunken, Davut”, sagte Karga mahnend.

Du lieber Himmel! Gibt es denn eine andere Möglichkeit?“, fragte Davut. Seine Stimme zitterte.

Karga senkte den Kopf, schnappte sich das Glas und trank es hastig aus. Er fluchte innerlich, dass er keinen eigenen Wagen besaß. Er war bei einem reichen Getreide- und Viehhändler als Fahrer angestellt, dessen Klapperkasten mit Eiszapfen geschmückt seit Wochen vor dem Laden stand.

Karga bestellte noch eine Flasche Rakı und schaute kopfnickend Davut an.

Ja, es gibt eine Möglichkeit, nämlich die, dass der beste Fahrer von Uluköy euch fährt.“

Davut trank sein Glas aus und blickte die beiden an. Ein winziges Lächeln wurde um seine Mundwinkel sichtbar, aber die Augen blieben ernst als er sprach:

Freunde, ich weiß, dass ihr es gut mit mir meint. Aber ich bin kein kleines Kind und fahren kann ich auch.”

In diesem Augenblick kam Arif mit Rakı und stellte die Flasche vor Karga auf den Tisch.

Kannst du noch was vertragen?“

An dem Tag, an dem ich keinen Rakı mehr vertragen kann, darfst du mich abknallen, du Eunuchenkönig!“, entgegnete Karga, nahm das Glas und kippte es sichtlich verärgert hinunter.

Mach langsam, Karga! Du wirst noch gebraucht“, warnte ihn Ismail Ağa.

Er schob seinen Stuhl näher an den Tisch heran und schaute die beiden ein paar Sekunden an.

Also, es hat keinen Sinn um den heißen Brei herumzureden. Was wir aber jetzt tun können ist, den Jeep so schnell wie möglich mit allem Nötigen auszurüsten. Karga?“

Klar doch!“, antwortete Karga, während er sich die Hände rieb, um sie zu wärmen.

Und ich besorge zwei dicke Parkas und Handschuhe. Und…“

Er brach ab, als eine rauchige Stimme hinter ihnen lallend noch ein Glas Rakı verlangte. Alle blickten hinüber. Am hintersten Tisch saß ein kräftig gebauter Mann. Er hatte sein hamsterbackiges Gesicht auf die Hände gestützt und kämpfte gegen den Schlaf.

Kazım rief nach Arif und deutete mit dem Kopf auf den Ausgang. Daraufhin half Arif dem Betrunkenen in seinen Mantel und begleitete ihn, wenn auch mit Mühe, hinaus.

Zz…zur Hölle mit dir…“, schimpfte der Mann immer noch, als Arif hinter ihm die Tür zuknallte.

Nach dieser kleinen Unterbrechung erklärte Ismail Ağa weiter, dass er jetzt Kudret bey, den Leiter der Straßenmeisterei, aufsuchen würde, um ihn zu bitten, den Schneepflug gleich einzusetzen.“

Karga drückte sein Gesicht an die Fensterscheibe und sagte: „Ich glaube, es wird bald aufhören zu schneien.“

Inşallah15“, murmelte Davut kaum hörbar.

Gegen 22.00 Uhr lag Uluköy in tiefer Ruhe. Die schwarzen Wolken hatten sich etwas verzogen und es schneite nicht mehr. Ein eisiger Wind fegte durch die leere mit Schnee bedeckte Straße, als die drei Freunde sich vor dem Restaurant verabschiedeten: „Bis morgen“, sagte Ismail Ağa, zündete sich eine Yenice an und sah eine Weile Davut und Karga nach, die sich eilig entfernten. Er atmete tief die kalte Nachtluft ein und stieß einen langen Faden warmen Atems aus. Ein eisiger Wind wehte von Fluss herauf. Er zog seine Mütze tiefer ins Gesicht, schlug den Kragen seines Mantels hoch und schlenderte die Hauptstraße hinunter um Kudret Bey aufzusuchen. Das Knirschen des Schnees hallte in der stillen Winternacht unter seinen Füßen und die stellenweise gefrorene dünne Schneeschicht knackte, wie eine Karamellkruste. Fünf Minuten später stand Ismail Ağa, steif von der Kälte, vor der Haustür des Leiters der Straßenmeisterei.

Ismail Ağa?“ Kudret bey blinzelte schlaftrunken zu ihm hoch, als er die Tür öffnete. Man sah ihm die Anstrengungen der letzten Tage an. Die schwarzen Schatten unter seinen Augen und die Bartstoppeln ließen sein Gesicht bei dem schwachen Licht gespenstisch aussehen. Er war von kleinem Wuchs, so klein, dass er neben Ismail Ağas mächtigem Körper wie ein Zwerg wirkte.

Tut mir leid, dass ich dich um diese Zeit stören muss, Kudret“, sagte Ismail Ağa entschuldigend. „Aber es handelt sich wirklich um eine dringende Angelegenheit“.

Nachdem Ismail Ağa den Grund seines Besuchs in knappen Worten geschildert hatte, sagte Kudret bey ohne zu überlegen: „Selbstverständlich Ağa. Ich ziehe mich gleich an.“

Kurz darauf saßen sie zähneklappernd im eiskalten Büro der Straßenmeisterei. Kudret bey gab sich große Mühe seine Kollegen in Ismetpaşa telefonisch zu erreichen. Erst nach zwanzig Minuten hatte er endlich den Einsatzleiter an der Strippe. Dieser versprach Kudret bey, zu versuchen die Strecke hinter der Karataşschlucht bis zur E5 in den nächsten zwölf Stunden möglichst frei von Schnee zu halten. Anschließend, nachdem Ismail Ağa weggegangen war, weckte er den Fahrer, der für den einzigen Schneepflug zuständig war, erklärte die Situation und ordnete an, die Strecke von Davuts Haus bis zur Karataşschlucht zu räumen.

Emine schlief wieder fest. Ihre vollen Lippen waren ausgetrocknet und es hatte sich ein weißer Belag darauf gebildet. Diese qualvolle Nacht ist verstrichen ohne ein Zeichen der Besserung, dachte Davut, als er grübelnd das Zimmer verließ.

In der Diele, wo eine kleine Kücheneinrichtung mit einem flachen runden Holztisch neben einer Feuerstelle angebracht war, schaltete er das Licht an. Am Ende der Diele befanden sich eine Toilette und noch ein kleines Zimmer. Davut stieß leise die Zimmertür auf und spähte kurz hinein, bevor er eintrat.

„Wach auf, mein Junge.“

Davut schüttelte sanft das schlafende Kind, während er sich auf die Bettkante setzte. Das Kind richtete sich erschrocken auf und rieb sich die Augen. Davut betrachtete ihn sekundenlang mit einem gezwungenen Lächeln. Aber das Motorengeräusch draußen riss ihn aus seiner Nachdenklichkeit.

„Ich muss mit Mutter nach Gerede zum Krankenhaus fahren.“

„Warum?“, fragte der Junge, plötzlich hellwach.

„Sie…Sie muss dort behandelt werden“, erklärte Davut und drückte das Kind fest an sich.

„Wird sie dann wieder gesund?“

„Ja, natürlich mein Sohn, sie wird wieder gesund.“

„Warum kann Kezban Nine16 die Mama nicht wieder gesund machen? Sie ist doch besser, als der Doktor.“

Davut tätschelte ihm nachdenklich den Kopf, als es an der Haustür klopfte.

„Diesmal leider nicht, mein Sohn. Nun zieh dich warm an, wenn du rauskommst. Die Großmutter müsste auch bald da sein“, sagte Davut, als er eilig das Zimmer verließ.

Der Junge sprang aus dem Bett und lief schluchzend über die Diele zum Schlafzimmer seiner Eltern.

„Günaydın, oğlum17“, sagte Emine schlaftrunken, mit belegter Stimme und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerzen, als sie versuchte, sich aufzurichten. Sie stöhnte kraftlos vor Anstrengung.

„Ich muss leider liegen bleiben.“

Ihre schwache Stimme war kaum hörbar.

Der Junge, der sich zögernd aufs Bett fallen ließ, hatte dieselben dunkelblauen Augen wie seine Mutter. Sie glänzten jetzt wässrig und Tränen perlten über seine Wangen. Die Traurigkeit in seinen Augen erschreckte sie. Emine beschlich ein seltsames Gefühl, das sie erschaudern ließ. Sie drückte den Kopf des Kindes fest an Ihre Brust.

In diesem Augenblick trat Kezban Nine, die in einem Päckchen mit belegtem Brot in der Hand, ins Zimmer, gefolgt von Davut.

Ismail Ağa und Karga standen neben dem Jeep und stampften mit den Füßen auf dem festgefrorenen Schnee, in der Eiseskälte stieg ihre Atemluft in dem spärlichen Licht wie Nebelschleier nach oben.

Davut trug Emine, in dicke Wolldecken gehüllt, auf seinen Armen aus dem Haus. Ağa holte die Parkas heraus und hielt sie bereit, während Karga einstieg und den Wagenschlag aufhielt.

„Lass mich doch fahren, bitte“, sagte Karga flehend, während Davut seine Frau behutsam auf den hinteren Sitz legte. Davut schüttelte den Kopf ohne ihn anzuschauen und so musste Karga widerwillig aussteigen.

Davut ging dann zurück zum Haus und küsste seiner Mutter die Hand und seinem jungen die Stirn zum Abschied. Er nahm das Päckchen mit belegtem Brot mit und steuerte eilig zu seinen Freunden.

Kezban Nine und ihr Enkelkind standen eng beieinander auf der Treppe und beobachteten mit traurigen, hoffnungslosen Augen, wie die Männer Emine einen dicken Parka überzogen und sie auf den Sitz betteten. Davut zog sich auch den Parka an und nahm Abschied von seinen treuen Freunden, indem er sie umarmte.

„Ich weiß nicht, wann ich wieder zurückkommen werde. Topal18 Adnan könnte eure Hilfe brauchen. Schaut bitte ab und zu nach ihm.“

Topal Adnan, Adnan der Hinkende stammte aus einem benachbarten Dorf und arbeitete im Teehaus als Aushilfe.

„Mach dir keine Sorgen um das Teehaus”, tröstete ihn Ismail Ağa und legte zwei weiße Handschuhe aus Schafwolle und eine Feldflasche auf den Beifahrersitz.

„Von meiner Frau, selbst gehäkelt, und warmer Tee für unterwegs.“

„Danke, Ağa.”

Das Kind schrie plötzlich und rannte heulend zum Wagen. Aber Davut reagierte schnell und hielt ihn zurück. Er nahm den Jungen tröstend in die Arme, presste ihn an sich und brachte ihn zu Kezban Nine zurück.

Die Augen der alten Frau wurden feucht, als Davut ihre Hand nahm und zum Abschied küsste.

„Allah möge deinen Weg frei und seine Hände über euch halten, mein Junge.“

Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging Davut zum Jeep und stieg ein. Das Motorengeheul hallte durch die stille Gasse.

Kezban Nine schüttete einen Becher voll Wasser hinter dem davon rollenden Jeep, als Ausdruck einer alten Tradition, nach der der Reisende ungehindert wie das Wasser zum Ziel kommen möge.

Als der Jeep die nächste Straßenecke erreicht hatte, war das Wasser jedoch zu Eis erstarrt.

Die durch die Räumungsarbeiten entstandenen Schneemassen auf beiden Seiten der Straße ließen die Fahrbahn wie einen Eiskanal aussehen.

Der Ulusu war zugefroren und das ganze Tal auf der linken Seite war mit einer Schneedecke bedeckt, als hätte es nie ein Flussbett gegeben. Auf der anderen Seite der Straße lagen Felder ganz in weiß, bis zu den Ausläufern des Karataşbergs, die sie sanft umschlossen. Nicht allzu weit entfernt, zwischen den weißen Hügeln, schmiegten sich kleine Dörfer. Die Rauchschwaden der Schornsteine stiegen in die Höhe und vereinigten sich mit einer hässlich grauen Wolkendecke.

Ein kräftiger Windstoß brachte die undichten Türen und das Verdeck des Wagens zum Klappern.

Davut fuhr langsam und konzentriert. Jetzt, wo er endlich etwas unternehmen konnte, fühlte er trotz der Kälte eine warme Hoffnung in sich aufkeimen. Er drehte sich kurz um. Emine hielt sich steif unter der Decke, die Knie leicht angezogen, nur ihr Kopf schaute aus der dicken Wolldecke. Sie lächelte ihm schwach zu. Aber in ihren Augen lag Angst.

„Wir schaffen es. Nur noch die Schlucht liegt vor uns, noch ein paar Kilome…“ Er brach ab, als er einem Schneehaufen inmitten der Straße ausweichen musste. Es gab einen leichten Ruck und der Wagen drohte von der Fahrbahn abzukommen. Davut steuerte gegen, konnte jedoch den Jeep in der Spur zu halten. Nach knapp zehn Minuten, erschien nun endlich die Karataşschlucht, im Schatten der Berge, deren Gipfel in den dunklen Wolken verborgen waren.

Die Straße wurde steiler. Davut hatte Mühe, die durch die Atemluft gefrorene Windschutzscheibe frei zu kratzen. Dank der angelegten Ketten, überwand der Wagen die steilsten Teile der Bergstraße ohne große Schwierigkeiten. Als Davut gerade die höchste Stelle des Bergkammes erreicht hatte, brach der Schneesturm aus dem finsteren Himmel hervor, der heulend über die Straße sauste. Davut fröstelte und sein dicker Parka schützte ihn nicht mehr gegen die durchdringende Kälte, die durch die Ritzen ins Wageninnere gelangte, die den letzten Rest der Körperwärme aus den Gliedern trieb.

„Verdammt“, murmelte Davut, der gebetet hatte, es möge keinen Schneefall geben. Aber die eisige Kälte, der Schnee und die gespenstisch aussehender Gegend machten ihn nur nervöser.

Es sind ja nur noch wenige Kilometer bis zur Bundesstraße, tröstete er sich, obwohl er wusste, dass der schwierigste Teil noch vor ihm lag.

Inzwischen hatte das Schneetreiben zugenommen und langsam bildete sich ein weißer Vorhang an der Windschutzscheibe. Davut schaltete die Scheibenwischer an und beugte sich über das Lenkrad, um die Fahrbahn besser sehen zu können. Plötzlich überfiel ihn Unmut.

Je länger die Fahrt dauerte, desto größer wurde seine Sorge. Er fragte sich, ob er zu viel riskiert hatte? Aber was hätte er dann sonst tun können, um seine Emine zu retten?

Davutr drehte sich abermals nach ihr um.

Sie schlief und ihr Gesicht hatte jetzt einen entspannten Ausdruck, als würde sie lächeln, jenes Lächeln, das ihn so bezauberte. Ein Gefühl von unbeschreiblicher Wärme stieg in ihm auf. Sie war ihm nie fremd gewesen, nicht einmal an dem Tag, wo er sie zum ersten Mal gesehen hatte, kurz vor Salihs Hochzeit.

Salih war als Sekretär der Dorfgemeinde tätig, bevor er vor vier Jahren nach Ilgaz zog. Seine Stimme war kratzig wie die eines Kettenrauchers und wegen seiner harten, befehlenden Sprache nannte man ihn „Çavuş19“. Er war mit Kazım, dem Restaurantbesitzer verwandt und half ihm ein oder zweimal in der Woche, wenn Kazım viel zu tun hatte. Türkan, Salihs Frau, war eine Tscherkessin aus Düzce, einer Stadt mitten in einem Erdbebengebiet zwischen Bolu und Adapazarι.

In der Düzce-Ebene, etwa fünfzig Kilometer von der Schwarzmeerküste entfernt, lebten auch eine große Zahl von Tscherkessen, hochgewachsene, meist blonde Menschen, deren Vorfahren vor Jahrhunderten vom Kaukasus nach Düzce umgesiedelt waren. Sie waren fleißige Bauern und verstanden sehr viel vom Tabakanbau. Das gemäßigte Klima in der Düzce-Ebene ermöglichte eine reiche Tabakernte.

Emine kam ebenfalls aus Düzce. Ihre und Türkans Familie waren seit langem befreundet. Als Emines Eltern beim großen Erdbeben 1944 ums Leben gekommen waren, nahmen Türkans Eltern das kleine Mädchen, gerade achtzehn Monate alt, zu sich.

Im Sommer 1948, zwei Tage vor Türkans Hochzeit, kamen Verwandte und Freunde von Salih, dem Bräutigam, nach Düzce um traditionsgemäß die Braut abzuholen. Die Männer waren sauber gewaschen und frisch rasiert, die Frauen rochen nach süßlichem Rosenwasser, einige hatten sogar Lippenstift aufgelegt. Dort angekommen, wurden der Bräutigam und seine Angehörigen von einer Prozession, an der sich alle Dorfbewohner beteiligten, angeführt von Musikanten mit Rohrflöten und Trommeln, zum Haus der Braut begleitet.

Hier gab es ein großes Festessen. Junge, bunt gekleidete Mädchen servierten schüchtern die verschiedensten Speisen auf riesigen Tabletts. An diesem Tag wurde viel gegessen, getrunken, getanzt und gelacht.

Davut sah Emine zum ersten Mal in der Küche, als er eine Karaffe Wasser holen wollte. Sie war ein ausgesprochen schönes Mädchen, ihre großen, tiefblauen Augen fesselten ihn derart, dass er zu stottern begann, als er sie um Wasser bat.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Emine, die gerade das Geschirr abspülte, wurde rot, als Davut plötzlich neben ihr stand. Sie schaute verlegen auf ihre Schuhspitzen, als sie ihm die Karaffe reichte.

Seit diesem Tag musste Davut immer an Emine denken. Vor seinem geistigen Auge sah er nur noch die schöne Tscherkessin und ihre wunderschönen Augen. Emine ging es nicht anders.

Türkans Eltern kamen öfter nach Uluköy, um ihre Tochter zu besuchen. Yörük Ağa, Çavuş’s Schwiegervater, brachte jedes Mal den besten Tabak mit und Çavuş freute sich über die wohlriechenden Blätter.

Für Emine und Davut waren diese Besuche die einzige Gelegenheit sich wiederzusehen. Sie hatten sich viel zu erzählen, aber auch ohne Worte sagten ihre Augen alles was sie fühlten. Dann zum Abschied ein leichter Händedruck, eine leise herausgebrachte Liebeserklärung oder ein zusammengefalteter Zettel mit einem Liebesgedicht von Davut, der im Nu in Emines Tasche verschwand.

So vergingen fast zwei Jahre und die große Liebe loderte in den jungen Herzen. Kezban Nine, wusste natürlich von Davuts Gefühlen für die schöne Tscherkessin und war sich überzeugt, dass er sie am liebsten auf der Stelle geheiratet hätte. Deshalb sagte sie eines Morgens, als er wieder lustlos seinen Tee trank, zu ihm:

Wenn dein Herz so sehr an Emine hängt, dann werde ich zur alten Hatice, Salihs Mutter, gehen und sagen, dass ich auf Allahs Befehl und Anweisung des Propheten die Tochter von Yörük Ağa zur Braut haben will.“

Mutter, wie kann ich jetzt ans Heiraten denken, in wenigen Wochen muss ich zum Wehrdienst antreten. Außerdem ist sie noch viel zu jung“, musste er schweren Herzens gestehen. Auch Yörük Ağa wehrte sich und protestierte energisch, als er von der heimlichen Liebe seiner Pflegetochter und der angekündigten Brautschau erfahren hatte.

Sie ist doch noch ein Kind, Hanım20!“, grölte er.

Seine Frau wusste, dass Yörük Ağas Jähzorn von kurzer Dauer war. Deshalb ließ sie sich Zeit und machte ihm erst einen starken Mokka, ehe sie sich zu ihm setzte.

Weißt du noch, wie alt ich war, als wir heirateten? Ganze sechzehn! Sei vernünftig, Yörük Ağa, die beiden lieben sich.“

Davut und Emine heirateten Ende Juni 1950, kurz bevor er eingezogen wurde.

Es war vor genau zehn Jahren gewesen, zehn glücklichen Jahren. Plötzlich tickte irgendwo in Davuts Gehirn ein Alarmsignal und sein Instinkt sagte ihm, dass Gefahr in der Luft lag. In Korea hatte er gelernt, auf seine innere Stimme zu hören, es war sein sechster Sinn, jener Sinn, der ihn immer gewarnt hatte und ihn selten im Stich ließ. Plötzlich spürte er großes Bedürfnis zu rauchen.

Trotz der Kälte zog Davut die Handschuhe aus und legte sie auf den Beifahrersitz. Das kalte Lenkrad hielt er mit der linken Hand fest und knöpfte seinen Parka mit der anderen auf, um die Zigarettenpackung aus der Jackentasche herauszuholen. Als er die Schachtel herauszog, fielen ihm auch die beiden Briefe in die Hand, die er dann behutsam zu den Handschuhen legte.

Der Wind wurde jetzt stärker und peitschte die Schneeflocken vor die Scheibe.

Die Sicht wurde schlechter. Durch das heftige Schneetreiben, konnte er die Fahrbahn nicht mehr ausmachen.

Als die Bergstraße abschüssig wurde, schaute Davut skeptisch nach unten ins Tal, konnte aber durch die dicken Flocken nichts erkennen, alles um ihn herum war in grau und weiß gehüllt. Davut drückte seine Zigarette mit der Schuhspitze am Boden des Jeeps aus und drehte sichkurz um. Emine schlief entspannt und rührte sich kaum. Ihre Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen, als würde sie lächeln.

Davut merkte, dass er immer nervöser wurde und betete leise: „Mein großer Allah, bitte hilf uns!“ Er konnte sich nicht mehr auf die Fahrt konzentrieren und merkte auch nicht, wie der Jeep immer schneller wurde und auf die steile Serpentine zuraste. Sein Instinkt wurde wach und das Ticken in seinem Schädel wurde lauter, obwohl er sich eine wirkliche Gefahr bis zu diesem Moment nicht vorstellen konnte. Jetzt spürte er sie deutlich, lauernd auf ihn wartend. Dann sah er sie, in Gestalt eines Lastwagens, der hinter der Kurve langsam den Hang empor kroch und die ganze Fahrbahn versperrte. Davut handelte instinktiv und machte den entscheidenden tödlichen Fehler. Er trat mit aller Kraft auf die Bremse um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Der Jeep traf schlitternd den Lastwagen mit voller Wucht in die Stoßstange. Das laute Knirschen von Metall auf Metall übertönte das Brummen des Lastwagens. Der Jeep drehte sich einmal um sich selbst und schleuderte dann wild auf den Abgrund zu. Dann kippte er plötzlich nach links und die Fahrertür flog auf, während er mit rasender Geschwindigkeit in die Schlucht schoss.

Davut, der seinen Fehler zu spät erkannte, sah nur das Gesicht des Lastwagenfahrers mit weit aufgerissenen Augen, im Bruchteil einer Sekunde zwischen Leben und Tod.

Er schrie und versuchte verzweifelt nach seiner Frau zu greifen, doch hatte er das Gefühl von einer gigantischen Hand gezerrt zu werden. Er wurde hinausgeschleudert, ehe er Emine berühren konnte. Ein herzzerreißender Schrei gellte durch das Tal zwischen den steilen Felsen der Schlucht und wurde immer schwächer, bis er nach einigen Sekunden verstummte.

Emine hatte noch das gleiche Lächeln um ihren Mundwinkel, als der Jeep unten im Tal aufschlug.

Der fassungslose Lastwagenfahrer stand zitternd am Straßenrand und sah nur, wie zwei Papierbögen in den grauen Abgrund hinunter segelten, langsam hin und her tanzend hinab, den Toten nach…

 

-II-

30.05.1972, Ankara

So kalt und feucht der Monat Mai in manchen höheren Regionen der Türkei sein konnte, war es in Ankara und Umgebung ein Monat mit angenehmen Temperaturen und lauer frischer Luft. Erst die folgenden Tage und Wochen würden den Sommer mit der trockenen Hitze bringen.

In der Nacht hatte es geregnet. Mit den ersten Sonnenstrahlen stieg nun der Dampf von der würzig riechenden Erde auf und damit entfaltete sich der herrliche Duft verschiedener Frühlingsblumen. Kleine verstreute Schäfchenwolken schwebten über den azurblauen Himmel.

Ein warmer Frühling, den man nur in Anatolien so intensiv erleben konnte.

Es war zwanzig nach sieben Uhr morgens, als ein Dolmuş21, etwa hundert Meter oberhalb der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland an der Haltestelle anhielt und ein Mann mit dunkelblondem Haar ausstieg. Er trug einen beigen Sommeranzug und hielt eine flache Aktentasche aus braunem Leder. Seine hellbraunen Augen waren gerötet und dunkle Bartstoppeln in seinem blassen Gesicht verrieten, dass er heute noch keine Zeit zum Rasieren hatte.

Er hieß Ufuk Kartal und war Assistenzarzt an der Anästhesieabteilung der Medizinischen Universität Hacettepe. Er blieb sekundenlang auf dem Bürgersteig stehen und wischte sich den Schweiß mit einem Taschentuch vom Gesicht. Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr lief er dann mit müden Schritten den breiten Atatürk Boulevard hinunter.

Die Botschaft lag, wie viele andere, in Kavaklıdere, einem der renommiertesten Viertel der Hauptstadt. Das Gebäude stand in einem großen Garten mit hohen knorrigen Bäumen, der sich zum Boulevard hin neigte, das von Kızılay aus bergauf verlief und sich oberhalb der Dolmuşhaltestelle am Kuğulu-Park22, eine der schönsten Parkanlagen Ankaras, teilte.

Die rechte Gabelung stieg steil an, bevor sie im Bogen um die repräsentativen Villen, in denen Botschaften und Auslandsvertretungen untergebracht waren, herumführte, um sich in Çankaya, vor dem şk23, wieder mit der linken Straße zu vereinen.

Der herrlich angelegte und fachmännisch gepflegte Garten, war von einem hohen Eisenzaun umgeben. Die riesigen Flügel eines gusseisernen Tores an der Einfahrt waren weit geöffnet, jedoch mit einer dicken, rot-weiß gestrichenen Eisenkette versperrt. Ufuk hatte vor dem Eingang eine große Menschenmasse erwartet, aber zu seiner Überraschung warteten nur zwei Männer.

Ein Wächter mit herunterhängenden Schultern öffnete ein kleines Türchen rechts neben der Einfahrt und ließ die beiden Männer eintreten, nachdem er ihre Papiere gründlich kontrolliert hatte. Dann verschwand er mit den beiden Männern hinter dem Eisenzaun.

Als der Wächter nach wenigen Minuten zurückkam, fixierte er Ufuk mit zugekniffenen Augen, als habe er gerade gegen die Botschaftsmauer gepinkelt.

„Günaydın, was kann ich für dich tun?“, fragte er schließlich mürrisch.

Dass er Ufuk duzte, war keine Unhöflichkeit, sondern in diesem Land ein Vorrecht der Älteren.

„Ich möchte meinen Pass abholen, den ich für das Einreisevisum abgegeben hatte“, erklärte Ufuk und deutete mit dem Kopf auf das Botschaftsgebäude.

Der Wächter starrte ihn sekundenlang skeptisch an. Er war dürr mit blassem Gesicht und zwei scharfe Falten um die Mundwinkel ließen vermuten, dass er an einem Magengeschwür litt.

„Komm mit!“, sagte er und drehte sich ab. Seine graue Uniform schlotterte ihm um die Hüften.

Sie gingen über den Hof zu einem kleinen Vorbau, der den Besuchern als Wartesaal diente. Als sie die Stufen vor der Eingangstür erreicht hatten, holte der Wächter eine Plastikmarke mit einer Nummer aus seiner Tasche und drückte sie Ufuk in die Hand. Plötzlich hielt er inne und sein Gesicht hellte sich zum ersten Mal auf.

„Jetzt fällt mir ein. Du bist Arzt. Vorige Woche warst Du hier, stimmts?“

Ufuk, der zu müde war um ein langes Gespräch mit dem Magenkranken anzufangen, nickte nur zustimmend.

Es war genau fünf Minuten nach halb acht, als er die Türklinke des Wartezimmers herunterdrückte, dessen Wände einige Städtebilder und eine große Deutschlandkarte zierten. Die Männer, die vor ihm hereingelassen worden waren, saßen an einem niedrigen Tisch in der Ecke, auf dem einige bunte Broschüren lagen und unterhielten sich leise. Gegenüber, neben dem Fenster, saß ein junges Ehepaar mit einem kleinen Mädchen. Das Kind, es mochte drei oder vier Jahre alt sein, saß am Schoß seiner Mutter und schaute neugierig auf Ufuk, als er sich auf einen Stuhl neben dem Ehepaar setzte.

Er stellte die Aktentasche auf den Boden und lehnte sich zurück, nachdem er sie begrüßt hatte.

Das Kind rutschte aus dem Schoß seiner Mutter herunter, und beobachtete ihn mit zunehmendem Interesse. Als das kleine Mädchen jedoch bemerkte, dass Ufuk ihm zulächelte, wandte es sich verschämt zur anderen Seite.

Draußen auf dem Flur hörte man Stimmen und kurz darauf betrat ein junger Mann das Wartezimmer. Er war groß und glatt rasiert. Sein kurz geschnittenes braunes Haar glänzte in den morgendlichen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen. Er trug ein weißes, kurzärmliges Hemd, das die Muskeln an seinen Schultern und Oberarmen deutlich hervortreten ließ. In seiner Brusttasche steckte eine Schachtel Marlboro.

Freundlich grüßte er die Anwesenden und setzte sich neben Ufuk auf den freien Stuhl. Anschließend holte er die Zigarettenschachtel aus der Brusttasche, klopfte gekonnt mit zwei Fingern hinten darauf, sodass drei Zigaretten in verschiedenen Längen herausragten.

Er hielt Ufuk die Schachtel hin.

„Rauchen Sie?“

Zunächst zögerte Ufuk, doch dann bedankte er sich und zog eine Zigarette heraus. Während er sein Feuerzeug aus der Jackentasche herausnahm, fiel die Marke, die er von dem Wächter bekommen hatte, auf den Boden.

Als Ufuk sich bückte um sie aufzuheben, wurde ihm schwarz vor Augen. Er kippte wie im Zeitlupentempo vornüber und drohte vom Stuhl zu fallen. Der junge Mann reagierte schnell und fing Ufuk rechtzeitig auf, bevor er mit dem Gesicht aufschlagen konnte. Die Männer in der Ecke sprangen auf und eilten zu Hilfe, ebenso der Vater von dem kleinen Mädchen.

„Ist schon gut, ich kümmere mich um ihn“, sagte der junge Mann, während er Ufuk beim Aufsitzen half, worauf die Männer sich wieder hinsetzten.

Nachdem er die beiden Flügel des Fensters aufgemacht hatte, nahm er wieder neben Ufuk Platz.

„Die frische Luft wird Ihnen bestimmt gut tun“, sagte er dann und merkte, dass Ufuks Gesicht langsam wieder Farbe bekam.

„Fühlen Sie sich jetzt besser?“

„Es geht wieder“, antwortete Ufuk und reichte ihm Feuer, wobei er sein Gesicht aus der Nähe betrachten konnte. Er war ein gutaussehender Bursche mit breiten Schultern und sehnigen Händen. Seine Augen waren von einem ungewöhnlich dunklen Blau, die trotz seines freundlichen Lächelns traurig blickten, als hätten große Sorgen ihr fröhliches Funkeln gedämpft, das früher dieses Lächeln begleitet haben musste.

„Nett von Ihnen, dass Sie sich meinetwegen Sorgen machen. Aber es geht mir wirklich schon viel besser. Vielen Dank.“

„Aber ich bitte Sie. Das ist doch selbstverständlich“, wehrte der junge Mann ab und streckte seine Hand aus.

„Ich heiße Osman.“

„Ufuk.“

Sie schüttelten sich die Hände und Ufuk spürte eine eigenartige Freude, die er jedoch nicht begründen konnte. Manche Menschen erwerben die Fähigkeit, mit der Zeit das kommende Wetter vorauszusagen. Sie haben eine Vorahnung, da ihnen jede Abweichung von der Norm sofort auffällt. Ufuk verstand nicht viel vom Wetter, aber umso mehr von Menschen.

Da genügte ihm oft ein Wort, eine Bewegung oder ein Blick. Und jetzt meldete sich sein Instinkt so stark, dass er sich dieses Gesicht mit den dunkelblauen Augen merken sollte.

Langsam füllte sich der Warteraum mit Menschen, die schwitzend da saßen oder an den Wänden lehnten und sich leise unterhaltend gegenseitig ihre Unterlagen zeigten, um sich zu vergewissern, ob alles in Ordnung sei.

Kurz nach acht Uhr flog die Tür auf und der magenkranke Pförtner stand breitbeinig im Zimmer.

„Nummer eins!“, rief er aus und starrte finster auf das Ehepaar mit dem kleinen Kind.

„Hier“, sagte der Vater des kleinen Mädchens, während er aufsprang und die Marke hochhielt, schubste dann seine Frau, worauf sie sich schnell das Kind schnappte und ebenfalls aufsprang. Schweigend folgten sie dem Wächter und verließen das Wartezimmer, ergeben und sichtlich ängstlich, als würden sie zum Henker geführt.

Ufuk und Osman unterhielten sich noch eine Weile, über die in den letzten Jahren stark angestiegene Zahl ihrer Landsleute, die nach Deutschland auswandern wollten. Zum Schluss erwähnte Ufuk auch sein Vorhaben, die Facharztausbildung in Deutschland zu absolvieren, während Osman ihm schweigend zuhörte.