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Für alle die nicht mehr suchen möchten
bloßstellen würde. Aus Angst, später von ihnen zurückgewiesen zu werden, besser ich gebe ihnen gar keine Möglichkeit dazu. Aus Angst, von ihnen ignoriert zu werden. Oder auch, weil ich mich als zu unwichtig einstufte, um von ihnen einen Gegengruß zu erwarten.
Unangenehmer wurde es im Schulgebäude. Da galt es peinliche Distanzen von der Mensa zur Aula oder zur Treppe zu überwinden. Man wird von allen Seiten beobachtet. Wo soll man da bloß die Hände halten? Mehr oder weniger peinlich berührt, schaffte ich es ins Schulzimmer, und natürlich stand Französisch auf dem Lehrplan. Sprachen waren mir unglaublich peinlich. Vor allem vor der ganzen Klasse aufgerufen zu werden, davor hatte ich riesen Angst. Ich saß wie versteinert da und dachte nur: ´Nicht mich fragen, einfach nicht mich.´
Prompt viel mein Name. Ich verspürte einen Stich im Herzen. Ich war völlig versteinert und vergaß regelmäßig die Frage. Die ersten paar Male versuchte ich, noch etwas zusammenzustottern. Später antwortete ich nur noch: „Je ne sais pas!“
Gleich zu Beginn das Handtuch zu werfen, war viel weniger schlimm, als vor der ganzen Klasse reden zu müssen. Es war weniger schlimm, als unter einem ernsthaften Versuch zu versagen. Meine Französischnoten sanken dementsprechend auf eine Drei und beharrten da mehrere Jahre. Wenigstens war die Französischlehrerin einigermaßen friedlich.
Weniger friedlich war der Mathematiklehrer. Ein richtiges Arschloch, das seinen Unterrichtsstil im Militär optimiert hat. Mein Herz schlug entsprechend intensiver, wenn wieder jemand an der Tafel eine Aufgabe lösen sollte, und er dazu wahllos Leute aufrief. Die dumme Sau! Einige wurden dann richtig fertiggemacht. Zudem war er die ganze Zeit gereizt; seine Frau hatte ihn verlassen. Wer hätte das nicht getan? Die feige Sau hätte sich mit dem Sturmgewehr die Birne wegschießen können, anstatt seinen Frust an 16-jährigen Schülern auszulassen.
Etwas leichter viel mir der Turnunterricht. Die Mädchen waren von den Knaben getrennt, was ich als Erleichterung empfand. In Anwesenheit hübscher Mädchen gewannen meine Minderwertigkeitskomplexe überhand und ich brachte kaum ein Wort über die Lippen. So war ich im Turnen etwas befreiter, bis es in die Umkleidekabine ging. Durch die Verbrennungen auf den Beinen gehemmt, suchte ich mir immer die hinterste und letzte Ecke aus. Auf dem Weg zur Dusche lief ich möglichst an einer Wand entlang, zu meiner Linken, damit die Anderen nur meine rechte, unverbrannte Körperseite zu Gesicht bekamen. Die Dusche wählte ich natürlich auch in einer Ecke, und ich war erst erleichtert, als ich die Hosen wieder anhatte.
Einmal die Woche ging ich weiterhin in den Legasthenieunterricht. Mein Rechtschreibeproblem hatte sich auf das Französisch ausgeweitet. Natürlich habe ich nie mit den anderen Mitschülern über meine Nachhilfe geredet, mit den Mitschülerinnen wechselte ich generell kaum ein Wort über irgendetwas. Einmal machte ich mich wieder auf den Weg zur Legasthenie im Anschluss an den Schulunterricht. Da lief ein etwas älteres Mädchen vor mir her. Das war mir etwas unangenehm, sie auf dem gleichen Weg verfolgen zu müssen. Doch die Zeit drängte, ich durfte nie zu spät kommen, das gehörte sich nicht. Sie fühlte sich von mir verfolgt und drehte sich immer öfters um. Überholen kam nicht infrage, da würde sie mich wohlmöglich ansprechen. Plötzlich drehte sie sich um.
„Hör auf mich zu verfolgen!“, schrie sie.
Ich war völlig baff und traute mich kein Wort zu erwidern. Ich getraute mich nicht, ihr die Wahrheit zu sagen, sie würde sie eh als Lüge abstempeln. Wie angewurzelt blieb ich stehen, und gab ihr somit recht. Sie lief weiter, und ich kam mir schuldig vor. Nach etwa einer Minute musste ich ihr etwas zögernd erneut folgen. Ich hatte Angst vor einer weiteren Zurechtweisung. Glücklicherweise verschwand sie in einem der umliegenden Häuser, und ich kam doch noch rechtzeitig zur Nachhilfe. Noch lange Zeit fühlte ich mich ihretwegen schuldig.
Vor Kommunikation hatte ich in dieser Zeit prinzipiell große Angst. Ständig hoffte ich, dass ich niemandem bekannten begegne. Denn dann hätte ich kommunizieren müssen. Deshalb ignorierte ich regelmäßig Bekannte, um solchen Situationen auszuweichen.
Mit sechzehn fand ich endlich einen Ausweg: Alkohol und Musik…
Er hetzt weiter die Rue Léon entlang Richtung Norden.
´Da, der hat mich angeguckt, der zieht sicher gleich ein Messer und stößt zu. Oder er schlägt mir in die Fresse!´, denkt er.
Ein etwa 30-jähriger Schwarzer kommt ihm auf dem Trottoir entgegen und steckt seine rechte Hand in die Jackentasche.
Er selbst kreischt gleich hysterisch los.
´Zigarette, er nimmt nur eine verdammte Zigarette aus der Jackentasche!´, denkt er.
Er biegt in die nächste Querstraße, die Rue de Suez Richtung Station Château Rouge ab. Er will schnellstens weg, fort aus diesem Quartier.
Wieder nimmt die Anzahl Leute auf der Straße zu, sie sehen aber weniger bedrohlich aus. Er erreicht Château Rouge und flüchtet in den Untergrund.
LA CIMETIÉRE PÉRE LACHAISE
Er sitzt in der Métro auf einem Klappstuhl vis-à-vis zur Türe. Sein Körper hat sich wieder etwas entspannt und er beobachtet die umliegenden Leute. Er fühlt sich überlegen, durchschaut sie alle. Sie können ihre Verrücktheit nicht hinter antrainierten Verhaltensmustern verbergen, nicht vor ihm.
´Ja, gemeinsam werden wir unsere Welt zerstören, verspro- chen´, denkt er.
Langsam dreht er seinen Kopf von links nach rechts und mustert jeden einzelnen Fahrgast. Einige fühlen seinen Blick, und er fühlt mit Entzücken ihr Unbehagen. Dann schweift sein Blick an die Decke. Er kippt seinen Kopf nach hinten, bis er auf dem Nacken aufliegt und sich seine Halsvorderseite anspannt. In dieser Stellung bleibt er einige Minuten. Sein Unterbewusstsein will das so, er vergisst jegliche Normen, er ist glücklich.
´Wieso ist eigentlich Breton gestorben, hattest du Freud daran, Salvador? Verdammt, ich liebe die Großstadt, kein Schwein beachtet einen, man darf die Verhaltensnormen fallen lassen. Man kann unter Leuten frei sein wie alleine, herrlich´, denkt er.
Nach einigen oberirdischen Stationen taucht die Métro 2 nach Jaurès wieder in den Untergrund ab und bleibt da, bis sie bei der Station Philippe Auguste ohne ihn weiter fährt.
Am Eingang vom Père Lachaise kauft er einen Friedhofsplan von einer jungen Frau. Die Konversation klappt gut, ohne gegenseitigen Schlagabtausch gibt sie ihm den Plan. Durch einen Nebeneingang betritt er den Festschmaus für Würmer.
´Hier bin ich nun auf einer der größten Menschheitslügen. Eine Ruhestätte für die Dahingeschiedenen, die im Jenseits auferstehen werden, halleluja. Nichts Dergleichen, am Vermodern sind sie. Die Würmer lachen sich ins Fäustchen, schlagen sich den Ranzen voll und furzen dazu!´, denkt er.
Die Bäume sind noch kahl, die Pfade sind mit Pflastersteinen übersäht. Er hört vereinzelt Schritte. Alles wirkt ganz grau, ein besinnlicher, kahler Ort. Man kehrt in sich und wird etwas melancholisch. Wie in einem Museum, wo man sich ganz den Gedanken hingeben kann.
´Das ist kein Ort für Gruppen. Hier wird nicht groß gelogen, kein unnötiger Small Talk zwischen den Gräbern betrieben. Leute werden ehrlich und reduzieren ihre Gespräche aufs Wesentliche.
Wahrscheinlich wird dem Unterbewusstsein klar, dass man auch sterben wird, einmal. Alles andere rückt in den Hintergrund, wirkt nichtig und verschwommen. Der Augenblick wird aufgewertet. Und man ist alleine, hier und im ganzen Leben´, denkt er.
Er bewegt sich zwischen den Gräbern Richtung Jim Morrison.
Meine Angst begann, sich in Fehlverhalten und Abwehrmechanismen zu zeigen. Ich zog mich vermehrt aus der Klasse zurück. Ich sah meine Rolle in dieser Gruppe darin, möglichst wenig beachtet zu werden. Die bewusste Devise war, möglichst wenig integriert zu sein. Somit musste ich nicht kommunizieren, blamierte mich nicht und wurde nicht abgewiesen, quasi eine Prophylaxe. Nur so konnte ich meinem Selbstvertrauensstatus entsprechend überleben, ohne allzu sehr zu leiden. Jeglichem Kontakt zu ranghöheren Frauen ging ich aus dem Weg. Mit rangniedrigeren Frauen, die spärlich vorhanden waren, kommunizierte ich in meiner Clownrolle. Mit männlichen Mitschülern konnte ich insofern kommunizieren, als keine hemmende Frau anwesend war. Sonst war mein Auftreten hinter clownhaftem Benehmen versteckt. Ernste Gespräche hatte ich sehr selten, nur mit den allerbesten Freunden. In einer Ansammlung mehrerer Leute fühlte ich mich extrem unwohl. Besonders hasste ich tiefgründige Gespräche mit Entblößung von Gefühlen. Ich war eh zu blöde dazu und meine Gefühle und Ansichten waren sowieso völlig uninteressant für Andere.
Die anderen Klassenmitglieder stuften mich vermutlich als extrem ruhig, scheu, gehemmt, verklemmt, gefühllos, teilnahmslos, desinteressiert, abwesend und widersprüchlich ein. Entweder sagte ich kein Wort, oder ich unterhielt die ganze Klasse mit meinem clownhaften Verhalten. Das hatte etwas Schizophrenes, wenigstens etwas Positives.
Zum Ausgleich eignete ich mir einige Macken an. In einer Phase musste ich alles viermal machen. Berührte ich aus Versehen meinen rechten Nasenflügel, so musste dies weitere dreimal wiederholt werden. Nicht irgendwie schlampig, sondern perfekt dem Original nachempfunden und in einem kurzen Zeitintervall. Räusperte ich mich, so musste das viermal geschehen, möglichst unauffällig. Am Ohr kratzen, viermal, die Beine kreuzen oder die Zunge verrenken kam nicht infrage ohne Wiederholungen.
Parallel begleitete mich die Periode mit dem Selbstschlagen. Zuerst gab ich mir ab und zu ein paar Ohrfeigen, viermal, versteht sich. Dies trat zuerst in Gruppen auf, um mein clownhaftes Verhalten zu unterstreichen und die Pointe aufzuwerten. Dies musste in lächerlichen Situationen geschehen, eine ernsthafte Konfrontation mit dem Thema wäre mir zu peinlich gewesen. Dann schlug ich mich, auch wenn niemand anwesend war. Ab und zu eine kleine Ohrfeige hier oder einen Schlag in den Bauch da. Eigentlich war es mehr eine Gewohnheit als ein Zwang. Zum Schluss gab es vielleicht noch eins mit der Faust auf den Oberschenkel.
Gründe dafür? Möglicherweise Selbstbestrafung für mein absurdes Verhalten. Vielleicht um meine Wert- und Nutzlosigkeit zu unterstreichen. Oder aber wenigstens durch Fehlverhalten etwas Besonderes zu sein. Hauptsache, ich bin nicht langweilig und gewinne dadurch an Interesse. Die Schläge, die ich mir ungestört zufügte, sollten wohl mich selbst auch von dieser Vorstellung überzeugen.
Vielleicht sympathisierte er genau deshalb mit Jim Morrison. Auch er versuchte seine Unsicherheiten zu verbergen. In seinem Falle mit Rock and Roll, also hauptsächlich mit Drogen. Er wurde wohl sein ganzes Leben lang, das er möglichst kurz hielt, missverstanden. Jedenfalls, wenn man Oliver Stones`s Film The Doors Glauben schenken darf.
´Die Bakterien und Pilze haben Jim in den letzten paar Jahrzehnten bestimmt auch schon recht zugesetzt. Geht man davon aus, dass auf diesem Friedhof jedes Jahr rund 1.000 Leichen verbuddelt werden, so macht das am Tag rund 3. Die Bakterien und Pilze müssen somit etwa 150 Kilogramm Menschenfleisch pro Tag zersetzen. Ist doch eine riesen Leistung, Respekt´, denkt er.
Das Grab von Jim Morrison ist nicht sehr auffällig. Lediglich eine etwas abseits stehende Patrouille weist darauf hin. Gerüchten zufolge wurde sein Grab ab und zu von fanatischen weiblichen und dazu noch leicht bekleideten Fans besucht, die ihn am liebsten eins geblasen hätten.
´Wieviel Prozent der Leichen werden hier vor ihrer letzten Ruhe nochmals richtig durchgefickt? Es soll ja Leute geben, die das mögen. Man weiß es nicht. Vielleicht haben sie bei der Information genauere Zahlen´, denkt er.
Jedenfalls ist das Grab von Jim mit vielen aber billigen Blumenstöcken und einzelnen Rosen übersäht.
Es sind auch einige Ehepaare mit jungen Kindern da, die meisten Besucher sind jedoch zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt.
„Du Papa, an was ist er gestorben?“, fragt ein Mädchen.
„Och … das weiß man nicht so genau. Wahrscheinlich an Drogen, Rauschgift, Tabletten, LSD, Alkohol …“, antwortet er.
Das nächste Grab seines Interesses liegt auf einer erhöht gelegenen Ebene vom Père Lachaise. Er ist auf seine Karte angewiesen. Zwischen kahlen Bäumen und flotten Gräbern steigt er einige