Internetbuch Zisch

 

Willkommen bei unserer neuesten Idee, einem kostenlosen Buch, dessen Teile ihr zu einem Ganzen zusammenfügen könnt.

Wahrscheinlich bist du ganz zufällig hier gelandet, oder doch nicht? Oder du bist an der falschen Stelle oder was auch immer.

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Für alle die nicht mehr suchen möchten

Zisch.“

Die Tür geht auf und er erkennt die langen Perrons von seiner Ankunft vor zwei Jahren wieder. Zufrieden steigt er aus.

´Endlich in der Anonymität der Großstadt angelangt – ignoriert in der Menge. Leiden und glücklich sein, für mich alleine. Jetzt brauche ich keine Angst mehr zu haben, jemandem zu begegnen, den ich nicht sehen will. Keine Angst davor, dass ich jemanden nicht genügen könnte. Jetzt kann ich mich so verhalten, wie es mein Unterbewusstsein möchte. Im inneren Frieden die Wünsche des Unterbewusstseins direkter befolgen, ohne sie durch soziale Hemmungsfilter abschwächen zu müssen. Sich ein wenig mehr dem Wahnsinn oder dem Genie nähern, ganz ohne Drogen. Ich bin frei´, denkt er.

TROCADÉRO UND EIFFELTURM

Sein Zimmer ist im Comfort Hotel Sacré-Coeur an der Rue des Abbesses im Bereich Montmartre, im 18ten Arrondissement. Ein Block weiter liegt die Sexshopstraße Boulevard de Clichy und die Kirche Sacré-Coeur. Das Hotel ist billig, fünf Nächte wurden für den Preis von vier angeboten und es ist nicht weit von den Loserquartieren in den Arrondissements 19 und 20 entfernt. Kurz, die Gegend, wo er sich wohlfühlt.

Eigentlich treibt er sich immer in diesen Quartieren rum, auch in seiner eigenen Stadt. Wahrscheinlich, weil es da kaum Leute gibt, die gesellschaftlich höher gestellt sind als er. Er muss sich nicht ständig fragen, ob er gebildet genug ist oder ob sein Verhalten der Norm entspricht. Die Sozialnormen liegen tiefer, er kann sich so verhalten, wie es ihm gerade passt, ohne Minderwertigkeitsgefühle. Loser sind ihm eh viel sympathischer als langweilige Möchtegern-Gewinner, die nur zu charakterschwach sind, um sich ihre Misserfolge einzugestehen.

Vom Gare Paris L’Est gibt es zwei Möglichkeiten zu seinem Hotel zu gelangen. Er hat sich für die Métro 4 entschieden, bis zur Station Marcadet Poissonniers und steigt dann in die 12, um bis zu seiner Station Abbesses zu gelangen. Im Reiseführer ist beschrieben, dass die Linie 4 die gefährlichste in Paris sei. Er freut sich somit besonders auf diese Fahrt.

Sprachen waren nie wirklich eine seiner Stärken. Sie ergänzen wunderbar seine verklemmte Kommunikationsfähigkeit. Irgendwie hat er schlicht zu viele Hemmungen und Angst davor zu reden. Was er sagt, interessiert eh keine Sau und was Andere sagen, interessiert ihn auch nicht wirklich. Das bevorstehende Gespräch mit der Rezeptionistin macht ihn etwas nervös und muss in der Métro vorbereitet werden. Natürlich wird sie eine geile Schlampe sein, keine Frage. Einige wichtige Wörter im Französischen kennt er noch nicht und versucht sie im Sprachcomputer zu finden.

´Stockwerk heißt also un étage, da hätte ich selber drauf kommen können. Frühstück heiß un petit-déjeuner. Tja, und noch ein paar Reservewörter, falls das Gespräch sich weiter entwickelt. Titten kenne ich schon, das sind les sein, männlich, aber was heißt Beine spreizen oder blasen? Déployer les jambes und souffler. So, das sollte für die erste Begegnung ausreichen´, denkt er.

Die Straße wo sein Hotel liegt, die Rue des Abbesses, gefällt ihm, eine gute Wahl. Es hat viele kleine Cafés mit den typischen Pariser Sitzplätzen davor. Sie ist auch nicht zu touristisch. Die Straße besteht aus Kopfsteinpflastersteinen. Viele kleine Geschäfte geben mit ihren Sonnenblenden dem Quartier etwas Farbe. Er erreicht sein Hotel, das rund 200 Meter von der Métrostation entfernt liegt.

´Scheiße, jetzt kommt gleich mein Auftritt. Hoffentlich vergesse ich meinen Text nicht. Tja, eine Schönheit ist die Rezeptionistin ja nicht wirklich, aber immerhin eine Frau mit zwei Nippeln´, denkt er.

Bonjour“, sagt sie, mit schwarzen langen Haaren.

Bonjour.“

Er streckt ihr den Gutschein der Hotelreservation entgegen.

Ah, vous êtes arrive!“

Oui.”

´Du hast es auf den Punkt gebracht´, denkt er.

Bla, bla, … vous ètes seulement ici pour quatre jours!“

Äh …“

´Wieso nur? Was heißt schon wieder quatre. Moment mal un, deux, trois …´ denkt er.

Oui“, sagt sie bestimmt.

Oui.“

´Verdammt, das hätte ich jetzt auch gerade rausgefunden!´, denkt er.

Bla, bla, … avec petit-déjeuner, bla, … entre sept et dix heures, bla, bla, … comme la numéro sûr la télécommande pour la télé. Voilà!“

Sie überreicht ihm einen Schlüssel und eine Fernbedienung.

Merci.“

Mit einem glasklaren Lächeln nimmt er seinen Koffer und läuft zur Wendeltreppe.

´Was soll denn das für eine Nummer sein? Und wieso steht da eine 57 auf der Fernbedienung und auf dem Schlüssel eine 46? Möglicherweise war da eine verschlüsselte Botschaft in unserer … ich meine ihrer Unterhaltung. Aber egal, ich habe mir das Gespräch wesentlich schlimmer vorgestellt. Die sechs Jahre Französisch haben sich also doch ausbezahlt´, denkt er.

Das Zimmer entspricht seinen Erwartungen, nichts zu sagen für den Preis. Es hat einen Schreibtisch, Blick auf die Rue des Abbesses und sogar ein Bad. Das hat er völlig vergessen, dass er mit Bad gemietet hat. Nach einer Weile findet er auch eine Steckdose für seinen Laptop. Er hat einen Adapter aus der Schweiz mitgebracht, damit er seinen Stromstecker mit drei Kontakten verwenden kann.

Nachdem er es sich im Hotelzimmer gemütlich gemacht hat, spielt er mit seinem Charly. Eine zwingende Präventionsmaßnahme des Mannes, man möchte ja nicht mit einem Ständer in der Métro rumstehen.

Als Erstes schaut man sich in Paris natürlich den Eiffelturm an. Deshalb hält er Kurs auf das Tocadéro, verdammt noch mal. Er geht zunächst zu Fuß ein Stück der Rue des Abbesses entlang und durchquert den Friedhof Montmartre. Das eine Straße den Friedhof durchquert, scheint hier wohl niemanden zu verwundern. Hier in der Gegend hat er vor zwei Jahren bei einem Französischsprachkurs gewohnt. Der Friedhof gefiel ihm besonders als Joggingstrecke.

Beim Place de Clichy steigt er in die 2 ein. Die Métro ist nur halb gefüllt, mit leeren Sitzplätzen. Einige Leute stehen trotzdem. Die Abstände von Mensch zu Mensch sind fein säuberlich maximiert.

´Sehr schön, wie hier die buntesten Leute so friedlich herumstehen, ohne sich die Köpfe einzuschlagen. Schwarz, weiß, gelb, jung und alt. Wobei man da wilde Geschichten hört, dass die Pariser im Zentrum keine Arbeits- oder Wohnplätze an Schwarze vergeben, ob Franzose oder nicht. Die Leute leben hier auch nicht wirklich miteinander. Die ignorieren sich gekonnt, mit über viele Jahre verfeinerten Techniken. 25 Leute in einem Abteil und kein Wort wird gesprochen. Sie lesen, schauen auf den Métroplan an der Decke oder auf den Boden, drei hören Musik und der kleine Dicke da täuscht vor, als ob er schlafen würde. Weitere starren ins Leere, ohne wirklich da zu sein. Nein, die wollen alle nichts miteinander zu tun haben. Kein Blick trifft den anderen, obwohl das auf diesem engen Raum recht schwierig ist. Erstaunlich, dass die Verkehrsingenieure dazu keine Regeln aufhängen:

i) Unterlassen Sie es, näher als 50 Zentimeter am Gesicht eines unbekannten Fahrgasts vorbeizuschauen.

ii) Männer analysieren unauffällig (a) den nächsten geilen Arsch oder (b) den Fahrplan an der Decke.

Aber genau das liebe ich an Großstädten, man ist anonym, sogar wenn man mit 25 anderen Leuten in einem Abteil steht. Wächst man in einem kleinen Kaff auf, wie ich, dann ist man zum Reden verdammt, jedes Mal wenn man jemanden antrifft. In 90 Prozent der Fälle sinnloses Small-Talk-Geplapper. Eigentlich will niemand dieses spießbürgerliche Geschwätz, aber man macht sich unbeliebt, wenn man das Spiel nicht mitspielt´, denkt er.

Vier Geschwister saßen auch noch an unserem Esstisch rum. Komisch, ich habe kaum eine Kindheitserinnerung an sie. Wenn ich an Familienfesten nicht aus Erfahrung wüsste, dass sie meine Geschwister sind, dann würde ich kaum mit ihnen reden. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Erinnerungen an sie ausradiert. Immerhin kennen sie meinen Namen, nicht viel mehr. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich nicht allzu viel mit ihnen zusammen war. Oder dass die meisten von ihnen irgendwohin gingen, um eine Schule zu absolvieren, zu heiraten oder sonst irgendwas. Vielleicht liegt der Grund auch darin, dass ich ein Spatzenhirn habe und mich kaum mehr an die Kindheit erinnern kann.

Die älteste Schwester ist neun Jahre älter als ich. Sie ist wahrscheinlich am wenigsten krank von uns allen. Als Kind wollte sie auf keinen Fall einen Landwirt heiraten. So machte sie erst mal nach der Sekundarschule eine Lehre im Bankgewerbe. Parallel probierte sie ein paar Lover aus und hatte die obligatorische Krise mit unserem Vater. Mit achtzehn wurde sie dann schwanger von einem Landwirt. Als Folge zog sie aus und heiratete. An der Hochzeit gab es was zu essen. Das Resultat sind bis heute vier Kinder und ihr neues Hobby; Schweinezucht.

Die zweite Schwester ist acht Jahre vor mir geboren. Sie hat einen etwas größeren Schaden von der Kindheit davongetragen. Nach der Sekundarschule absolvierte sie zusätzlich die Matura. Sie hat mich ermutigt, nach der Grundschule direkt ins Gymnasium zu wechseln. Das war wohl gut. Ihr Ehrgeiz zwang sie, neben der Schule verbissen Handball zu spielen. Sie hat mich auch ermutigt, ein paar Jahre Handball auszuprobieren, das war wohl eher schlecht. Während der Handelsschule und dem Gymnasium hat sie nach eigenen Angaben den Bauch mehrere Jahre eingezogen, weil sie sich als zu dick empfand. Sie studierte dann in Freiburg Wirtschaft. Somit war sie auch weg von zu Hause. Heute arbeitet sie in einem großen Konzern und lebt mit ihrem langjährigen Freund zusammen. Das Resultat ist ein Kind.

Am meisten habe ich mit meinem drei Jahre älteren Bruder gemeinsam. Er ist mir recht ähnlich, vielleicht etwas weniger ehrgeizig und weniger schüchtern. Er musste auch ständig zu Hause auf dem Bauernhof mitarbeiten. Nach der Sekundarschule ließ er sich zum Bauern ausbilden und war somit unter der Woche abwesend. Danach absolvierte er eine Zweitausbildung als Zimmermann. Zwischendurch arbeitete er oft für unseren Onkel, der Einfamilienhäuser baute. Später ging er für sechs Monate nach England, um für denselben Onkel auf einer Farm zu arbeiten. Meinen Bruder kenne ich am besten unter meinen Geschwistern, weil er viele Jahre mit mir zusammen im Dorfmusikverein war. Heute arbeitet er zu hundert Prozent als Zimmermann und hat den Bauernhof übernommen. Obwohl er ein Spätzünder bezüglich Frauen war, lebt er heute mit seiner Freundin zusammen und hat eine drei Jahre alte Tochter. Der zweite Wurf ist bereits unterwegs.

Die jüngste Schwester ist zwei Jahre jünger als ich. Bei ihr ist das Selbstvertrauen ähnlich niedrig wie bei mir. Unfälle in der Kindheit wie Schädelbruch und einen Rückenschaden, haben ihr vermutlich stark zugesetzt. Den zweiten Unfall hat sie nur durch Zufall überlebt. Sie wechselte wie ich nach der Primarschule direkt ins Gymnasium. Danach versuchte sie sich ein Semester lang als Biologiestudentin an der Uni Zürich. Das war wohl nicht das Richtige für sie. Es folgten anderthalb orientierungslose Jahre. Sie schlug sich mit einem Sprachaufenthalt in Australien und Gelegenheitsjobs durch. In Kürze wird sie mit ihrem Primarlehrerstudium fertig. Auch sie ist ein Spätzünder, hat momentan aber einen Freund. Leider entschied er sich nun ins Kloster einzutreten.

Bei der Station Charles-De-Gaulle Etoile wechselt er auf die Linie 6. Die Menschen ignorieren sich auch hier, herrlich. Das notiert er auf einem seiner Notizzettel, um es später im Buch zu erwähnen. Schließlich erreicht er den Trocadéro.

Der Blick von hier auf den gegenüberliegenden Eiffelturm ist beeindruckend. Man steht auf einer hohen Terrasse, trotzdem muss man nach oben schauen, um die 700 Meter entfernte Antennenspitze vom Eiffelturm zu sehen. Mit seinen 325 Meter Höhe wirkt er besonders groß, da es kaum Konkurrenz-Gebäude in der Nähe hat.

´Hier haben die Franzosen ganz viel Platz, und in meinem Hotel muss man sich geradezu ins Badezimmer quetschen´, denkt er.

Vom Trocadéro aus gesehen steht die Sonne am Spätnachmittag rechts vom Eiffelturm. Sein Gehirn reagiert mit der Ausschüttung einer kleinen Dosis Serotonin.

Ihm fällt auf, dass ihn vereinzelt Leute auslachen.

´Was gaffen die mich denn die ganze Zeit so an?´, denkt er.

Er schaut auf seine Kleidung.

´Da ist doch nichts. Die Pfeife schaut nicht raus. Normal angezogen bin ich doch auch, bis vielleicht auf meinen grünen Schlabberpullover. Ja gut, vielleicht sehe ich wirklich etwas verwirrt aus, mit meinem Bleistift im Maulwinkel. Das ist halt seit einigen Jahren so eine Angewohnheit von mir, Bleistifte zu rauchen. Selber ist mir das nicht mehr bewusst. Und mein Papierstapel unter dem Arm sieht wohl auch etwas komisch aus. Da wäre das Protokoll zu meiner nächsten Sitzung beim Psychologen, das ich immer für spontane Einfälle griffbereit habe. Dann zwei Blätter mit Gedankengängen zum Buch. Auf einem Blatt notiere ich meine genauen Aktivitäten und Eindrücke; eines ist eine Legende zu meinen Digitalfotos; und auf einem weiteren Blatt sind die zu recherchierenden Dinge und Plätze in Paris notiert. Weil ich sowieso alle fünf Minuten irgendwo etwas hin kritzeln muss, habe ich gleich alle Unterlagen unter meinen Arm ge-klemmt´, denkt er.

Dies ist einer der Zustände, die ihn glücklich machen. Faszination, voll für eine Idee, eine Rolle leben. Er kann sich voll in etwas vertiefen, hier in sein Buch, oder während der Arbeit in seine Forschung. Entsprechend ist er in diesem Zustand etwas weniger aufmerksam auf andere Dinge und wirkt etwas verwirrt und abwesend. Die wichtigste Eigenschaft für eine Professur würde er auf alle Fälle mitbringen: Verwirrtheit.

Für 12 Euro fährt er nach einer guten Stunde Anstehen auf den Eiffelturm und erreicht die oberste Plattform. Auf solchen Aussichtstürmen ist ihm immer etwas mulmig zumute. Es besteht die Gefahr, dass er sich in die Tiefe stürzt. Er könnte ja für kurze Zeit vergessen, dass sich das nicht gehört. Aber hier ist alles mit diesen Eisengittern umhüllt, die Gefahr ist somit verschwindend klein.

An den Ausblick kann man sich wirklich gewöhnen. Direkt im Norden zeigt der l’Arc de Triomphe die kalte Schulter. Im Nordos