L.U.C.I.E. / Leseprobe und Exposé

Exposé

 

Titel: L.U.C.I.E.
Genre: Science Fiction/Philosophie
Voraussichtlicher Umfang: ca. 200 Seiten

 

Wie real ist die Realität? Eine Frage, die sich jeder irgendwann einmal stellt. Die Antwort, der wir
begegnen, hängt immer mit unserer Lebenserfahrung zusammen. Sie fällt für jeden, je nach
Lebensabschnitt, unterschiedlich aus. Es scheint keine stabile Logik oder Vorstellung zu geben.

Zum Inhalt:
Der Mensch hat den Versuch, seine eigene Intelligenz zu verbessern, nicht überlebt. Der Eingriff in sein
strukturelles Denkmuster bringt eine neue Lebensform hervor. Schleichend dringt sie in das Bewusstsein
des Menschen ein und löst ihn unbemerkt ab. Es dauert nicht lange, bis die einzige verbleibende
Lebensform an sich zu zweifeln beginnt: Hat es den Menschen möglicherweise nie gegeben? Jedoch
ohne Vergangenheit gibt es keine glaubhafte Existenz. Um nicht an Langeweile zu ersticken, teilt die
neue Lebensform ihr Bewusstsein auf und fragt sich bald selber, ob ihre Welt realen Ursprungs ist.

Ich möchte mit meinem Roman die Schwierigkeiten des Denkens beschreiben. Obwohl alles schon
einmal gesagt oder geschrieben wurde, verliert sich unser Urteilsvermögen jedes Mal aufs Neue. Meine
Romanfiguren suchen den Grund des menschlichen Verstandes ab. Es beginnt mit einem Traum, der in
das reale Leben vordringt. Der Protagonist wird von der Echtheit seiner Umgebung schnell wieder in die
Wirklichkeit zurückgeholt. Am Ende seines Lebens erfährt er überraschend, dass er nicht geträumt hat.

 

 
„Verschollene Menschheit“

 

 

Es war so dunkel, dass sich das Blaulicht in den wild schwankenden Baumreihen
und den dahinterliegenden Hauseingängen verfing. Sturmböen heulten
erbarmungslos durch die kleinen Gassen nahe dem Universitätsgelände. Äste und
Blätter schlugen an die Windschutzscheibe des Rettungswagens. Hektisch und viel
zu schnell raste der Fahrer mit dem Rettungswagen durch die schwach beleuchtete
Innenstadt. Der immer stärker werdende Sturm brachte den Wagen fast zum Kippen.
Notarzt Dr. Reichert musste sich Mühe geben, gegen den Krach der
herumwirbelnden Luftmassen anzukommen, und rief laut: „Ihr Name, wie ist Ihr
Name?“
Das starke Wackeln des Krankenwagens ließ den Patienten fast von der Trage
fallen. Der hagere junge Mann antwortete ängstlich: „László, László Chevalier!“ Sein
Gesicht war blass.
Plötzlich wurde alles schwarz um ihn herum, die Stimme des Notarztes wurde leiser,
bis schließlich alle Geräusche verstummten.
Dr. Strauß schüttelte sich, ein Zucken fuhr durch seinen Kopf. Fast besinnungslos
stand er vor dem Beobachtungsfenster auf Deck 8. Seine Handflächen berührten die
kalte Glasscheibe. „Was ist passiert, wo bin ich?“ Er zwinkerte ein paarmal.
Kapitän Lacroix fasste ihm an die Schulter. „Mit wem sprechen Sie da, ist Ihnen nicht
gut?“
Dr. Strauß reagierte nicht, die rot unterlaufenen Augen starrten träge vor Müdigkeit in
die Ferne des Weltalls. Abertausende Sterne und schwach leuchtende Galaxien
verteilten sich in der Weite des Raums.
Kapitän Lacroix bewegte die Mundpartie nervös hin und her, dann nahm er seine
blaue Kapitänsmütze ab. Vorsichtig versuchte er ein Gespräch aufzubauen.
„Beeindruckende Aussicht … was denken Sie, Doktor, gibt es da draußen irgendwo
ein Ende?“
Dr. Strauß presste die Handflächen noch immer flach gegen das
Beobachtungsfenster. Mit dumpfer Stimme sprach er: „Mir war gerade so komisch
zumute, ich dachte, ich träume.“ Langsam drehte er sich zu Kapitän Lacroix hin.
„Verrückt was!“ Er kratzte sich am Kinn, die grauen Bartstoppeln ließen ihn
ungepflegt aussehen.
Kapitän Lacroix war irritiert, verlor Dr. Strauß die Nerven? Es dürften doch noch
keine Gerüchte durchgesickert sein. „Wir sind alle ein bisschen nervös, Doktor,
schließlich geht es nach siebzehn Jahren wieder zurück zur Erde.“
Dr. Strauß drehte sich wieder um, abwesend schaute er durch das
Beobachtungsfenster. Dann presste er seine Nase an die Scheibe. „Wissen Sie, was
ich dort sehe, Kapitän? Endlose Einsamkeit. Irgendwo da draußen ist die Erde,
irgendwo unter den Milliarden Punkten dort draußen. Und sie ist genauso verloren
wie mein Verstand. Wenn ich nicht aufpasse, verliere ich ihn.“
Das Forschungsschiff Linus-6 bewegte sich bereits auf die Randzone unseres
Sonnensystems zu.
Copilotin Caroline Dijon begann langsam die Geschwindigkeit zu reduzieren. Sie
schaute nervös auf die Cockpitarmaturen. Die Messinstrumente zeigten scheinbar
falsche Entfernungsangaben an. Caroline leitete den Bremsvorgang ein. Das Schiff
musste manövrierfähig sein, bevor es auf den äußeren Asteroidengürtel traf.
Traurig blickte sie auf den leeren Pilotensessel neben sich. Ihr fehlten die langen
Gespräche, wichtiger noch, der wortlose Halt in kritischen Situationen. Sie konnte
den tragischen Tod von Pilotin Jožefa noch immer nicht verkraften. Caroline kam sich
manchmal allein vor, sie war jetzt die einzige Frau an Bord. Zum Glück konnte sie mit
Clément Neumann über Frauenthemen reden, der lachte nicht. Sie schaute wieder
aus dem Cockpitfenster. Der Asteroidengürtel, der noch wie ein dichter Ring aus
Felsen aussah, löste sich langsam in große Zwischenräume auf. Dahinter kam
endlich die Erde, sie war nicht mehr weit entfernt, aber noch nicht zu sehen.
Auf der Kommandobrücke standen sich Navigationsoffizier Clément Neumann und
Astrophysiker Oswalt Galen schweigend gegenüber. Oswalt wollte die Tatsachen
nicht mehr länger ignorieren. Irgendetwas schien in unserem Sonnensystem falsch
zu sein. Die kartografische Abtastung des Tiefensonars stimmte nicht mit der
Speicherung des Bordcomputers überein. Die geometrischen Daten zeigten
eindeutig unser Heimatsystem, doch die Umlaufbahnen der Planeten waren alle um
mehr als drei Grad verschoben. Der Mondabstand zur Erde war auffällig groß.
Clément beugte sich über die Monitore im Leitstand der Kommandobrücke, er
schichtete nochmals die Kartensimulationen übereinander. Gemeinsam verglichen
sie die elektronische Auswertung. Beide standen sie jetzt nachdenklich Kopf an Kopf
nebeneinander. Der Astrophysiker mit seiner Halbglatze und der Navigationsoffizier
mit verstrubbelten blonden Haaren.
Oswalt wirkte trotz seiner 1,84 Meter recht klein gegenüber Clément. Er hob die
Augenbrauen: „Vielleicht liegt es auch an der Gravitation unserer Nachbargalaxie
NGC 247, wahrscheinlich beeinflusst deren Massefeld immer noch unsere
Tiefenraummessung. Möglich, dass wir für genaue Datensätze noch zu weit entfernt
sind.“
Clément trat einen Schritt vom Kartentisch zurück und verschränkte die Arme. „Für
alles gibt es eine Erklärung, warum nicht auch hierfür. Vielleicht stimmen Albert
Einsteins Theorien nicht, vielleicht stimmt die ganze Physik diesmal nicht. Schließlich
waren wir schneller als das Licht, wenn auch mit einem Trick.“
Oswalt setzte sich halb auf das Pult. „Nein, Clément, Physik ist stabil, Formeln
können nicht einfach so verändert oder aufgehoben werden.“
Clément schüttelte den Kopf. „Und in einem Schwarzen Loch? Da verliert alles, was
wir kennen, seine Gültigkeit, das kann doch hier auch passiert sein.“
Oswalt lachte. „Wir sind aber durch kein Loch geflogen und werden es auch nie.
Wurmlöcher, Schwarze Löcher, Löcher aller Art gibt es im Universum nicht, das sind
Altweibergeschichten.“
Clément fasste sich nachdenklich ans Kinn. „Theorien! Einstein hatte noch Theorien,
aber NASA-Ingenieur Teuren-Voigt legte eine reale Berechnung vor. Sein neu
entwickelter Antrieb der Linus-Baureihe VTC wurde schon erfolgreich getestet. Diese
Antriebsbeschleunigung hob die Monopolstellung der Unter-Lichtgeschwindigkeit auf.
Ich erinnere mich noch, wie Teuren-Voigt auch die letzten Skeptiker in London
überzeugte und deren Zweifel aushebelte.“
„Ja, aber hat er auch die Leerräume und die Zeit mit einbezogen? Der Test fand
ausschließlich in unserem Sonnensystem statt, wir waren aber am Rand unserer
Nachbargalaxie NGC 247. So weit ist noch kein Raumschiff vor uns in den Weltraum
vorgedrungen.“
Oswalt wurde plötzlich ganz weiß im Gesicht. Er schaute Clément entsetzt an. „Bei
diesen Abweichungen ist unser Sonnensystem um mindestens 200 000 Jahre
gealtert. Wissen Sie, was das bedeutet, Clément?“
Das Türschott öffnete sich. Lars Malteser, technischer Ingenieur, betrat fröhlich die
Kommandobrücke. „Ihr beide könntet etwas Sonne vertragen, ihr seht ganz schön
blass aus.“
Clément Neumann und Oswalt Galen starrten ihn an, weiß wie die Wand standen sie
da. Langsam setzte Lars Malteser sich in einen der Sessel, er fragte erst gar nicht,
was oder ob etwas passiert war. Es verstrichen ein paar Sekunden, dann berichtete
Oswalt über die Lage.
Clément gelang es währenddessen, mit einem Spektralteleskop erste Bilder der Erde
einzufangen. Sofort erkannte er, die Wellenlängen des Lichts stimmten nicht mit den
vertrauten Farbelementen der reflektierten Erdoberfläche überein. Blauanteile fehlten
ganz oder konnten nur gering nachgewiesen werden. Vielleicht beeinflussten
elektromagnetische Wellen, Masseteilchen der Sonne, eine genaue Messung.
Während Oswalt die Beobachtungen kommentierte und versuchte einen Sinn
dahinter zu finden, kamen auch Kapitän Lacroix und Dr. Strauß auf die
Kommandobrücke.
Dann der Schock! Auf dem Bedienpult blinkte eine rote Lampe auf, ein Warnton
ertönte.
Die automatischen Abtaster meldeten Kontakt. Von der Erde aus abgestrahlte
Radiowellen sendeten deutliche Signale in den Raum; eine Sprache künstlichen
Ursprungs, zweifelsfrei von Computern benutzt, bestehend aus komplexen binären
Übermittlungsdaten. Es war Maschinensprache!
Lars fuhr sich durch die Haare. „Haben wir in den letzten siebzehn Jahren etwas
verpasst, hat die Menschheit jetzt im Weltraum Kolonien? Welche Nation kann sich
einen so hohen Kostenaufwand leisten? Man funkt nicht einfach mal eben in den
Weltraum!“
Oswalt tupfte sich Schweiß von der Stirn. „Vielleicht habe ich mich nicht ganz
verständlich ausgedrückt, wir waren mindestens 200 000 Jahre unterwegs, keine
siebzehn Jahre. Glauben Sie, der Mensch hat so lange überlebt, Lars?“
Clément zwinkerte mit dem linken Auge. „Moment, unterwegs waren wir siebzehn
Jahre. Die Zeit hat sich um 200 000 Jahre verschoben.“
Lars wurde immer bleicher im Gesicht. „Sie reden ja Unsinn, Clément! Vor 32 000
Jahren gab es den Menschen noch gar nicht, jedenfalls nicht so, wie wir ihn heute
kennen. Modernes Denken ist gerade mal 10 000 Jahre alt.“
„Augenblick, der älteste fossile menschenähnliche Fund ist circa 200 000 Jahre alt.“
„Ach, das kann man doch nicht als Mensch bezeichnen. Fossile Funde von
Vorfahren der Menschen werden sogar noch älter datiert. Natürlich gab es vor dem
Homo sapiens jede Menge Unterklassen. Aber gut, wenn Sie den Neandertaler oder
den Homo erectus als Mensch bezeichnen wollen …“
„Ist ja schon gut, Lars, streiten wir uns nicht über Jahreszahlen. Wenn ich mich recht
erinnere, standen sich vor 32 000 Jahren der Neandertaler und der anatomisch
moderne Mensch, Homo sapiens, in Mitteleuropa gegenüber. Jedenfalls haben die
Neandertaler die Begegnung mit unseren Vorfahren nicht überlebt.“
Lars fasste sich an die Stirn. „Was ist wohl in den letzten 200 000 Jahren passiert?
Hat eine neue Spezies den Menschen abgelöst? Wenn auf der Erde tatsächlich eine
neue Spezies herrscht, sind die Menschen ausgerottet wie einst die Neandertaler!
Wo sollen wir denn bloß landen? Wir werden sofort angegriffen, sobald wir in
Reichweite sind.“ Lars wurde immer hysterischer, dabei sollte gerade er sich als
Dienstältester im Griff haben.
„Behalten Sie Ruhe, Lars. Die neue Spezies kann sich ja nur aus unserer
menschlichen Zivilisation heraus entwickelt haben. Also ganz so bedrohlich dürften
wir für sie nicht sein. Eher glaube ich, dass sie mit uns nichts anfangen kann und uns
einfach ignoriert. Mit unserer mangelnden Intelligenz sind wir nicht mal wert,
versklavt zu werden. Überlegen Sie mal, welchen rasanten Fortschritt wir selbst in
den letzten fünfzig Jahren, bevor wir auf diese Reise gingen, erlebt haben. Deren
Fortschritt wird wahrscheinlich unsere Vorstellungskraft überschreiten.“
Lars erinnerte sich lebhaft. „Der Fortschritt war wirklich rasant. Ich weiß noch genau,
wie mir meine Großeltern von den Vorbereitungen des ersten Fluges zum Mars
erzählten. Als endlich Wohnmodule auf dem Mond eingerichtet wurden, war das für
sie und ihre Generation eine Sensation. Mein Opa war ganz aufgeregt. Für uns ist
das heute völlig normal. Wenn ich überlege, dass sein Opa vor über hundert Jahren
über den USB-Stick staunte, der Ende der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts auf den
Markt kam – man konnte auf einem Schlag die komplette CD-Sammlung darauf
speichern. Wer hätte 1623 bei der Entwicklung der ersten mathematischen
Rechenmaschine gedacht, dass es jemals Computer geben könnte, es gab noch
nicht einmal Strom. Und heute, 2122 …“ Lars Malteser verlor die Fassung. „Heute! In
welchem Heute befinden wir uns?“
Die Stimmung an Bord wurde immer unruhiger.
Caroline Dijon steuerte derweil, noch nichts ahnend, das Forschungsschiff ohne
Störung durch den Asteroidengürtel unseres Sonnensystems. Und da war sie,
unsere Sonne, klein wie ein Stecknadelkopf. Noch konnte man nichts von ihrer Kraft
spüren.
–zwei Tage später–
Alle Besatzungsmitglieder waren auf der Brücke versammelt. Caroline Dijon saß
nachdenklich neben Dr. Strauß, der sich zitternd eine Zigarette drehte. Clément
Neumann trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch und beobachtete Dr.
Strauß.
„Na endlich!“ Oswalt Galen stand auf. Die Erde war aus dem Sonnenschatten
herausgetreten. Sofort richtete er die Teleskope auf die Erde. Auf dem Bildschirm
erschienen erste detaillierte Bilder unseres Heimatplaneten. Oswalt fiel es sofort auf,
die tektonischen Platten hatten sich um einige Längengrade verschoben. Er erklärte,
dass die Kontinentaldrift zwischen zwei und zehn Zentimeter pro Jahr liegt. Uns
wurde endgültig bewusst: Wir befanden uns rund 200 000 Jahre in der Zukunft.
Caroline nahm das Blättchen mit dem Tabak und drehte Dr. Strauß die Zigarette zu
Ende. „Hier, Doktor“, sie lächelte kurz, dann begab sie sich auffallend schnell zur
Pilotenkanzel.
Clément folgte ihr eilig, am Türschott zur Kanzel blieb er beeindruckt stehen. Aus
dem Cockpitfenster sah er unsere Erde als schwach leuchtenden Punkt. Seine
Augen glänzten vor Freude.
Caroline beugte sich über die Armlehne des Sessels und schaute in Cléments
strahlendes Gesicht. „Schön, nicht!“ Das rötlich schimmernde Armaturenlicht glänzte
in ihren Augen. Clément sah auf ihre roten Lippen. Caroline lächelte, dann drehte sie
sich verschämt um. Clément setzte sich neben sie in den Copilotensessel. Er
berechnete den Einfallwinkel in die Umlaufbahn der Erde. Der Anflug sollte
entgegengesetzt erfolgen. Die Erde kam immer näher, gleich würden sie am Mond
vorbeifliegen, er war schon als blasser Punkt zu erkennen.
„Caroline, haben Sie Funkfeuer auf Ihrem Schirm?“
„Nein Käpt’n, ich empfange zwar Signale, aber die sind nicht für uns bestimmt.“
Kapitän Lacroix versuchte Kontakt herzustellen. „Hier spricht das Forschungsschiff
Linus-6, rufe ESA-Raumkontrolle. Wir befinden uns im Anflug zur Erde.“
Es kam keine Antwort, unser Schiff wurde nicht einmal angepeilt. Wer auch immer
die Erde jetzt bewohnte, es war ihnen völlig egal, ob wir da waren oder nicht. Wir
wunderten uns, als das Radar überraschend metallischen Widerstand auf dem Mond
registrierte. Überreste der Mondbasis MV-4 existierten also noch.
Caroline wartete auf die Freigabe von Kapitän Lacroix, die Nachtseite des Mondes
ansteuern zu dürfen. Und dann tauchte kaum sichtbar in der Dunkelheit die
Mondbasis MV-4 auf. Wohn- und Versorgungsmodule ragten aus der felsigen
Mondoberfläche heraus. Schwarzer Schatten füllte die umgebenden alten Krater und
Furchen.
Caroline leitete den Bremsvorgang ein. Sie positionierte das Schiff in zwanzig
Kilometer Entfernung zur Mondbasis. In den kahlen grauen Felsvorsprüngen verfing
sich das Blinken der roten Positionslichter. Durchlöchert von Meteoriteneinschlägen
lagen einzelne Moduleinheiten verstreut im sandigen Boden des Mondes. Vor uns
lag ein Trümmerfeld, nichts erinnerte mehr an eine Raumstation.
Oswalt Galen hielt im Schiffstagebuch fest: 11. Januar 2122, Logbucheintrag
Forschungsschiff Linus-6. Die Mond-Versorgungsstation MV-4 wurde verlassen
vorgefunden. Sie gleicht einem Trümmerfeld. Alle Beschädigungen sind zweifelsfrei
auf Meteoriteneinschläge zurückzuführen. Kampfhandlungen sind nicht zu erkennen
und werden auch nicht vermutet. Ende: 12:21 Uhr.
Dr. Wiegart, Leiter der medizinischen Abteilung, und Oswalt Galen bereiteten sich für
die Begehung der Mondstation vor. Clément Neumann half ihnen dabei, die
schweren Raumanzüge anzulegen. Er hielt sich diesmal strikt an die Checkliste und
las alles zweimal vor. Der tragische Unfall von Sanitätsoffizier Lenz und Pilotin
Jožefa vor neun Jahren kam nicht nur ihm wieder ins Gedächtnis.
„Ganz schön schwerfällig, der Anzug“, keuchte Dr. Wiegart.
Oswalt beobachtete Dr. Wiegart und erinnerte sich ebenfalls an den Unfall vor neun
Jahren. Jožefa und Lenz machten den wöchentlichen Routinecheck. Lenz keuchte
genauso über den schweren Raumanzug. Jožefa half ihm und vergaß dabei, den
Sauerstofftank zu kontrollieren. Als Lenz an den Triebwerksregulatoren ankam, war
sein Tank leer. Lenz schaffte es nicht mehr bis zur Luke und erstickte. Jožefa nahm
sich zwei Stunden später das Leben.
Clément und Kapitän Lacroix verließen die Schleuse zur Landungsfähre. Für eine
kurze Weile wurde die Erde uninteressant.

Dr. Wiegart und Oswalt Galen erblickten zwei noch unzerstörte Containermodule. Sie
brauchten etwa zehn Minuten mit der Fähre dorthin. Als sie die Druckluftschleuse der
Landungsfähre öffneten und den Boden des Mondes betraten, fiel ihnen als erstes
diese absolute Ruhe auf. Das gewohnte Vibrieren des Raumschiffbodens war weg.
Weit in der Ferne sahen sie Galaxien, die sich in der Unendlichkeit verliefen.
Beide stolperten mit den schwerfälligen Raumanzügen auf einen der noch intakten
Wohncontainer zu. Der Weg dauerte nur einige Minuten. Oswalt schaltete die
Helmkamera ein. Als sie das nur leicht beschädigte Containermodul A-5 betraten,
wunderten sie sich. Alles war komplett geordnet, nirgendwo ein Durcheinander, keine
Anzeichen von Flucht. Tische und Stühle waren zurechtgerückt, als hätte gerade
jemand aufgeräumt. Wäre nicht überall Staub, hätte man meinen können, hier
wohnte noch jemand.
Dr. Wiegart strich mit dem Handschuh die dicke Staubschicht auf einem der Monitore
weg. „Wie neu!“ Er durchsuchte noch weitere Kabinen der Wohneinheit. Das Licht
der Helmkamera war nicht hell genug. Er erschrak bei jedem Schatten im Raum.
Plötzlich hörte Oswalt Dr. Wiegart keuchend über Helmfunk rufen: „Oswalt, ich habe
zwei Skelette gefunden. Eins liegt auf der Pritsche und das andere auf dem Boden
verteilt … Oswalt?“
„Ja, ich habe Sie gehört, Dr. Wiegart, ich habe hier auch etwas gefunden, ich
komme.“
Oswalt wollte sofort losrennen, aber durch die geringe Anziehungskraft des Mondes
verlor er das Gleichgewicht und prallte mit dem Rücken auf den Boden.
Dr. Wiegart schaute sich die Skelette derweilen etwas genauer an. Er wartete auf
Oswalt, bevor er genaue Schlüsse ziehen wollte.
Oswalt kam gehetzt in die Kabine und blieb ruckartig am Eingangsschott stehen.
Dann trat er langsam näher an die beiden Skelette heran. „Handelt es sich hier um
menschliche Skelette, Dr. Wiegart?“
„Der Optik nach ja, das Becken am Boden könnte von einer Frau sein.“ Dr. Wiegart
leuchtete jeden einzelnen Knochen ab und fand dabei eine Glasflasche am Kopfende
der Pritsche. „Keine Gewalteinwirkung zu erkennen, war das hier ein Selbstmord?“
„Kommen Sie, Dr. Wiegart, der Sauerstoffvorrat reicht kaum noch, wir nehmen die
Schädel mit. Es sind ganz sicher Menschen. Doch vorher müssen wir noch einmal
zurück in den ersten Container, dort befinden sich unbeschädigte Datenspeicher.“
Oswalt Galen und Dr. Wiegart waren längst überfällig, sie reagierten auf kein
Funksignal. Clément trommelte mit den Fingern gegen das Beobachtungsfenster.
„Wo bleiben sie denn! Wieso antwortet denn keiner?“
„Da! Da sind sie, Clément!“, rief Kapitän Lacroix aufgeregt.
Clément griff zum Fernglas. Er sah zwei grelle Scheinwerfer. Mit hohem Tempo raste
ein Fahrzeug auf sie zu. „Käpt´n, ich dachte, Oswalt Galen und Dr. Wiegart sind mit
der Landungsfähre unterwegs.“
„Dachte ich auch, schnell, Clément, wir müssen umgehend die Landungsrampe
herunterlassen. Denen dürfte der Sauerstoff jeden Moment ausgehen.“
Gleich nach dem Ablassen der Landungsrampe eilten Clément und Kapitän Lacroix
auf die Plattform.
„Was war los, warum habt ihr nicht geantwortet?“ Da sah Clément auch schon die
beiden Schädel, aber viel interessanter fand er den Kasten, den Oswalt in den
Händen hielt. „Ist das eine Blackbox?“
„Weiß ich nicht. Als ich sie an den Bordcomputer angeschlossen habe, hat sie die
ganze Elektronik der Fähre lahmgelegt, deswegen konnten wir nicht funken und
mussten auf das Fahrzeug hier zurückgreifen. Ans Laufen habe ich den Kasten
jedenfalls nicht bekommen.“
Wir beschlossen, den Mond so schnell wie möglich zu verlassen. Antworten würden
wir hier nicht mehr finden.
Caroline Dijon startete die Triebwerke. Ein leichtes Vibrieren verteilte sich im
Raumschiff. Wir schauten ein letztes Mal auf die Ruinen der Mondstation, dann gab
die Copilotin Schub, das Schiff gewann schnell an Höhe. Die Mondbasis verlor an
Größe, die gewaltigen Krater wurden immer kleiner, bis schließlich der Mond nicht
mehr das ganze Beobachtungsfenster ausfüllte und kleiner und kleiner wurde.
Irgendwann konnte man nur noch einen großen Punkt erkennen, umgeben von
Sternenformationen. Es sah so aus, als hätte der Weltraum sich den Mond
zurückgeholt und wäre dabei, ihn wieder zu verschlingen.
Während Caroline auf die Berechnungen des Navigationscomputers wartete, sah sie
vor sich die wehrlose Erde in der Ferne. Wofür die ganzen Sorgen?, dachte sie, nur
ein Einschlag und alles war umsonst, genau wie das Leben. Irgendwann einmal ist
alles weg und vergessen, einfach verpufft.
Merkwürdige Blitze strahlten von der Oberfläche der Erde aus ab. Wir konnten es
nicht gleich erkennen, es waren Sonnenstrahlen, von riesigen Blöcken, groß wie
Städte, reflektiert. Auf den Ozeanen bewegte sich das Wasser schwerfällig, eher
dickflüssig, es war kaum Wellengang vorhanden. Die vertraute blaue Farbe fehlte.
Teile der Alpen und anderer Gebirgsketten waren abgetragen oder gar nicht mehr
vorhanden. Nach natürlicher Korrosion sahen die Abtragungen nicht aus, eher nach
mechanischem Abbau. An der Grenze zur Nachtseite fiel Dr. Strauß auf, dass
überhaupt keine Beleuchtung vorhanden war; alles dunkel, nirgendwo Lichter, keine
erkennbare Nachtaktivität.
Da wir kurz vor dem Start der Linus-6 alle noch einmal gemeinsam in Berlin gewesen
waren, schwenkte Kapitän Lacroix eines der Teleskope auf die Koordinaten 52,31°
Breite und 13,24° Länge. Er glaubte zwar nicht, Berlin zu finden, aber vielleicht gab
es Überreste der einstigen Millionenstadt. Was wir aber dann auf dem Bildschirm
sahen, war erschreckend.
Clément hob resigniert die Schultern. „Nicht mal Reste unserer Zivilisation?“
Dr. Strauß lachte hysterisch. „Zivilisation!! Dort unten ist überhaupt keine Infrastruktur
und auch die komplette Vegetation fehlt! Das einzige, was ich sehe, sind diese
merkwürdigen Blöcke, die aussehen wie Särge, mit einer spiegelglatten Oberfläche.“
Nicht nur in Europa, auf dem ganzen Planeten setzte sich ein Raster dieser
übergroßen Blöcke zusammen. Sie glichen Städten, präzise angeordnet in
Abständen zu jeweils tausend Kilometern.
Dr. Strauß stand erregt auf. „Das sind Bunkeranlagen! Es hat einen dritten, wenn
nicht sogar vierten Weltkrieg gegeben. Der Planet ist komplett verseucht, sonst
wären doch Straßen oder Vegetation zu sehen. Und nirgendwo ist Wasser! Gibt es
überhaupt noch Menschen?!“
Das leise Surren der Klimaanlage auf der Kommandobrücke war auf einmal
unerträglich laut, jeder Atemzug hörbar. Wir vermuteten, dass irgendeine Intelligenz
auf der Erde die Menschheit mit hoher Wahrscheinlichkeit abgelöst oder ausgelöscht
hatte. Wer oder was war schlauer als der Mensch? Eine Frage, die uns belastete,
denn Außerirdische waren dort unten sicherlich nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass
organisches Leben Distanzen dieser Größenordnung zurücklegen konnte, war kaum
denkbar. Die Entfernungen waren viel zu groß für die kurze Zeitspanne von 200 000
Jahren.
Kapitän Lacroix versuchte vergeblich Funkverbindungen herzustellen. Er benutzte
jedes uns bekannte Mittel, sogar Morsezeichen. Auf keiner der Frequenzen erhielten
wir eine Antwort.
Schließlich ordnete er die Umkreisung der Erde an. Das Ausmaß wurde immer
beängstigender. Verstreut auf weiten Teilen der Erdoberfläche schien
geschmolzenes Metall die Landschaft teilweise zu bedecken. Es musste also eine
sehr große Hitzeentwicklung stattgefunden haben. Die Atmosphäre war
streckenweise so verschmutzt, dass braune Nebelwolken die Sicht verhinderten.
„Vielleicht sind diese Blöcke ja wirklich Bunkeranlagen, und die Menschheit hat eine
ganz neue Technologie des Lebens entwickelt“, vermutete Dr. Strauß.
„Wo landen wir? Falls wir nicht abgeschossen werden“, fragte Clément, der hinter
Carolines Pilotensitz stand.
Sie schaute hoch zu ihm. „Doch ein Atomkrieg?“, flüsterte sie.
Clément legte seine Hand auf ihre Schulter. „Wahrscheinlich ist es viel schlimmer.
Ich vermute, die Menschen haben sich nicht mehr als Einheit verstanden. Vielleicht
war es ein geistiger Krieg mit moralischen Verlusten. Gleichzeitig breiteten sich
religiöse Irrläufer immer mehr aus, ihr Verstand hat sich zersetzt.“
Als wir der Umlaufbahn der Erde näher kamen, begann Caroline den Orbit nach
Satelliten und anderem ausgedienten Weltraumschrott abzusuchen, um eventuelle
Kollisionen zu vermeiden. Die Radarüberwachung erfasste keine metallischen
Körper. Auch die zwei großen Andockstationen, Chronos CR-5 und Selene SZ-3,
existierten nicht mehr. Der Raum rund um den Planeten war leer. Außer uns schien
keiner mehr hier zu sein.
Oswalt Galen hielt im Schiffstagebuch fest: Unser Heimatplanet, die Erde, ist nicht
mehr wiederzuerkennen. Alles, was uns vertraut war, ist weg, die Umgebung
entstellt. Auch wenn wir es nicht zugeben wollen: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr
hoch, dass alles Leben auf der Erdoberfläche ausgelöscht ist. Natürlich haben wir
noch Illusionen, dass irgendwo etwas übersehen wurde. Auch unsere letzten
Hoffnungen, Leben in eventuellen Bunkeranlagen unter der Erdoberfläche zu finden,
zerfielen, nachdem wir Gebiete vermutlicher Existenz mit Röntgenstrahlen auf
mindestens 50 m Tiefe abgetastet hatten. Ende 7:43 Uhr.
Clément schaute Kapitän Lacroix besorgt an. „Ich weiß, was Sie denken, aber wenn
wir runtergehen, kommen wir nicht mehr hoch.“
12„Hier oben ist aber auch nicht viel.“ Kapitän Lacroix tastete nochmals jeden
Quadranten der Erdoberfläche ab. Eins wunderte ihn: Nirgendwo waren
Militäreinrichtungen oder Verteidigungsanlagen zu erkennen. Warum auch, wenn es
keine Feinde gibt?, dachte er.
„Clément, welche Zivilisation ist in der Lage, ohne gewaltverhindernde Einrichtung
schutzlos zu existieren?“
„Ganz einfach, Kapitän: Ameisen, Bienen oder ein Computer.“
Kapitän Lacroix’ Gesichtszüge verhärteten sich. „Aber ja, ein Computer! Diese ganze
Anordnung der Blöcke sieht fast aus wie eine Computerplatine. Ist Ihnen aufgefallen,
dass keiner der Metallblöcke einen Eingang hat? Nein unmöglich, Leben kann nur in
organischer Form existieren. Wie sollte es ein Computer schaffen, ein Bewusstsein
zu erlangen?“
Angespannt studierte Caroline die Landungsbücher des Raumschiffes. Sie ging
zusammen mit Clément die Checklisten durch. Ihr war klar, dass ein Raumschiff
dieser Größenordnung lediglich für das Andocken an Raumstationen konstruiert
worden war. Im Notfall könnte es zwar auf Planeten landen, war aber nicht dafür
vorgesehen. Um wieder abheben zu können, brauchte das Schiff dieser Baureihe
fremde Hilfe und einen unglaublichen Energieaufwand. Caroline wurde rot, eine
Notlandung hatte sie nur im Simulator geübt. Sie bekam Angst und stotterte: „Wir
können es doch auch erst einmal mit der Landungsfähre versuchen …“
Kapitän Lacroix sah, wie ihr Schweiß von der Stirn lief. Er legte ihr beruhigend die
Hand auf die Schulter. „Du schaffst das schon. Wir haben noch die Rettungskapseln,
wenn etwas schiefgeht. Oswalt, suchen Sie nach einem geeigneten Landeplatz, wir
gehen runter.“
Oswalt gab mögliche Landeziele vor. Clément berechnete bereits den
Wiedereintrittswinkel und suchte eine stabile wetterfeste Zone in Mitteleuropa. Die
Landung sollte möglichst nahe an einem der Blöcke erfolgen. Caroline
synchronisierte die Koordinaten des Navigationscomputers mit dem Autopiloten. Ein
letztes Mal sahen wir unseren Planeten aus dieser Perspektive.
Das Zünden der Triebwerke löste ein dumpfes Vibrieren aus. Ein gewaltiger Schub
brachte das Schiff in den Erdorbit. Sofort erfasste uns das Magnetfeld der Erde, die
Gravitation ließ uns nicht mehr los. Caroline zündete die schweren Bremsraketen.
Ein kräftiger Ruck war im Schiff zu spüren. Und da kamen sie, die Luftmassen. Wie
unsichtbare Barrieren griffen sie von allen Seiten an den Schiffsrumpf. Der
Widerstand immer dickerer Luftschichten löste ein furchtbares, bizarres Knarren und
Krachen in den Bordwänden aus. Angst breitete sich aus, die nicht mehr aufhören
wollte. Das laute Rütteln riss unseren Verstand beinahe auseinander. Caroline
steuerte das Schiff langsam durch schwerfällige Wolkenformationen, die mehr
Schwermetalle als Wasserdampf enthielten.
Bei ungefähr 8 000 Höhenmetern durchbrachen wir die Wolkendecke. Braune
Nebelschwaden schwebten bewegungslos über der Oberfläche. Überall zerklüftete
felsige tote Landschaft. In den Tälern sammelte sich zerlaufenes Metall in kleinen
rötlichbraunen Pfützen. Der Rost hatte das erstarrte Metall bereits mit tiefen Löchern
zersetzt. Nichts erinnerte mehr an Menschen oder deren Zivilisation.
Bis zum Bodenkontakt waren es nur noch 3 000 Meter. Caroline konnte kaum noch
steuern, sie musste in den nächsten Minuten aufsetzen. Langsam türmte sich der
riesige Metallblock vor uns auf, er war tatsächlich gigantisch, groß wie eine Stadt. Die
Wände waren so glatt, dass sich die Umgebung darin spiegelte. Nirgends eine Spur
von Verwitterung. Caroline legte das Schiff leicht backbord. Der Bremsschub sollte
ein Luftkissen bilden und uns noch einige hundert Meter näher an das Objekt
herantragen, bis der Treibstoff verbraucht war.
Oswalt nutzte die wenigen Minuten der Landung, um die Umgebung nochmals zu
fotografieren und zu scannen.
Caroline brachte das Schiff zurück in die Horizontale. Ein letztes Mal gab sie den
vollen Schub, bis es endlich weich zu Boden sank. „Wir kommen hier nie mehr weg“,
schrie Caroline hysterisch, sie zitterte am ganzen Körper.
Vor uns eine riesige Wand aus Metall, die uns anstarrte. Sie war so hoch, dass der
Himmel aus dem Cockpit heraus nicht zu sehen war. Das Schiff stand ungefähr
achtzig Meter entfernt vor dem Block.
Kapitän Lacroix klopfte Caroline erleichtert auf die Schulter. „Was für eine Landung!“
Oswalt spielte die Aufzeichnungen ab, die er von der unmittelbaren Umgebung des
stählernen Blocks während der Landung gemacht hatte. Gebannt schauten wir auf
die etwas verwackelten Bilder.
„Da, haben Sie das gesehen! Das ist ein Schacht.“ Oswalt hielt den Film an. Er
versuchte ein einigermaßen scharfes Standbild hinzubekommen. „Es könnte auch
ein Bunkereingang sein.“
Sofort machten sich Dr. Strauß, Dr. Wiegart, Lars Malteser und Oswalt Galen bereit
für den Ausstieg. Sie mussten Raumanzüge anlegen. Die Luft war mit Oxiden
durchsetzt. Es war kaum Sauerstoff vorhanden und die Strahlungswerte lagen
oberhalb des Grenzbereichs. Ohne Schutz konnte der menschliche Organismus hier
nicht länger als zwanzig Minuten überleben.
„Hier gab es mehr als einen Atomkrieg“, äußerte sich Dr. Strauß entsetzt.
„Es ist viel schlimmer als ein Atomkrieg“, erwiderte Clément.
„Was meinen Sie damit: schlimmer? Müssen wir uns bewaffnen, wem begegnen wir,
Clément?“
„Unserer eigenen Spezies, und zwar 200 000 Jahre weiterentwickelt. Können Sie
sich eine solche Entwicklung vorstellen?“
Caroline klammerte sich an Clément, ihre Augen waren rot angeschwollen und die
leichte Schminke unter den Wimpern ein wenig verschmiert.
Clément fuhr fort. „Das Einzige, was hier gefährlich ist, sind wir, eine andere
Intelligenz hat uns Menschen abgelöst.“
Lars fragte irritiert: „Mutanten?“
„Nein, ich denke eher an Computer.“
„Ha, ehrlich, Clément, denkende Computer, die programmieren sich womöglich
selbstständig was …?“ Lars wurde leiser. „Warum nicht? Künstliche Intelligenz, aber
als Computerchip? Nein! Nein, Leben funktioniert nur organisch, völliger Unsinn.“
Oswalt fluchte, er hatte Schwierigkeiten, den kompakten Außenanzug anzulegen.
„Mann! Wie wird das erst mal draußen. Auf dem Mond gab es weniger
Anziehungskraft.“
Clément schloss jetzt die Druckkabine und öffnete die äußere Schleusentür.
Zischend schob sich die schwere Hydrauliktür zur Seite.
Oswalt hielt sich an der Bordwand fest. Sein Helmvisier beschlug von innen. Er
regulierte die Temperatur der Luftzufuhr, dann sah er auf den Boden. Überall verteilt
lagen eigenartige Splitter. Er wischte über sein Helmvisier. „Keine Feuchtigkeit, alles
ausgetrocknet.“ Dann schabte er mit dem Handschuh über den Boden. „Granulat,
das ist Plastik! Plastik mit Metall und anderem Zeugs vermischt.“
„Wissen Sie, was mir auffällt, Oswalt?“ Dr. Strauß ging ein paar Meter. „Fester
Boden, endlich fester Boden, nicht die ständige leichte Vibration wie an Bord des
Raumschiffs.“
Der Bunkereingang befand sich dreihundert Meter westlich etwas außerhalb des vor
ihnen liegenden Blocks. Mit dem Geländefahrzeug fuhren sie langsam auf den Block
zu. Eine stählerne Wand, die immer höher und bedrohlicher wirkte, deren Breite sie
mit dem Auge schon gar nicht mehr abschätzen konnten.
Lars wurde immer unruhiger, er nahm sein Funksprechgerät. „Clément, sind Sie auf
Empfang?“
„Ja, ich höre Sie, Lars. Ist was passiert?“
„Überhaupt nichts ist passiert. – Wenn Sie recht haben mit Ihrer Theorie einer
Computerintelligenz, hat sie die Menschen vernichtet. Gab es vielleicht einen Krieg
mit Maschinen?“
Es herrschte kurze Funkstille.
„Ich denke eher, das war weniger spektakulär. Die Menschheit hat sich einfach
selber ruiniert, da brauchte keiner nachhelfen. Übrig geblieben sind die Computer mit
ihren Netzwerken.“
„Und das Bewusstsein, ich meine das Leben, wie kommt Leben in einen Computer?“
„Wie kommt denn Leben in Ihr Gehirn? Das besteht auch nur aus Kohlenstoffatomen
und Neuronen.“
Lars sah auf den Boden. Er versuchte, eine Stelle zu fixieren, jede Menge
Schlaglöcher hinderten ihn daran, seine Gedanken zu sortieren. „Wie entsteht
überhaupt Leben? Clément, was ist wohl hinter dieser Wand?“
Lars‘ Blick fiel auf die anderen, jeder schien den eigenen Gedanken nachzuhängen.
Der Motor des Denkens sind Reize und Neuigkeiten, sind sie nicht mehr vorhanden,
wird uns langweilig. Komisch, dachte Lars, wo kommen plötzlich diese Gedanken
von mir her? Neuronale Netzwerke im Gehirn lösen sie wohl unbewusst aus, denke
ich. Denke ich? Clément erzählte was von Computernetzwerken. Meinte er mit
Computernetzwerken etwa das Internet?
„Clément, ein Computer hat kein Unterbewusstsein wie wir. Ein Computer kann nicht
in den Tag träumen.“
„Ja, vielleicht haben Sie recht, Lars. Meine Theorie ist zu weit hergeholt.“ Clément
lehnte sich im Sessel zurück und schaute aus dem Beobachtungsfenster den
riesigen Metallblock an. Da kam ihm eine Idee. Er richtete Wärmebildkameras und
Röntgenstrahlen auf die Wand. Die Anzeigen reagierten nicht, was bedeutete, dass
die Wand eine enorme Panzerung haben musste.
Inzwischen hatte das Erkundungsteam vor dem riesen Metallblock Halt gemacht. Dr.
Wiegart hielt als Erster die Hand an das glatte Metall. Er rieb mit dem Handschuh
kleine Kreise. Völlig glatt, staunte er, keine Risse oder Furchen. Dr. Wiegarts Blick
ging nach oben in die schwindelerregende Höhe. „Unglaublich! Oswalt, was schätzen
Sie, wie hoch ist die Wand wohl?“
„Vierhundert Meter würde ich sagen.“
Dr. Strauß legte Akustiksensoren an. Die Sensoren nahmen eine sehr schwache sich
nicht verändernde Vibration wahr. Sie sahen sich alle etwas irritiert an. „Und nun?“,
fragte Dr. Strauß.
Oswalt schaute auf das Navigationsgerät. „Ich schlage vor, wir fahren die Wand in
östliche Richtung ab, bis der Metallblock endet. Sollten wir keinen Zugang vorfinden,
suchen wir den Bunkereingang auf.“
Das monotone Anstarren der Wand, um mögliche Eingänge zu finden, ermüdete Dr.
Wiegart so sehr, dass er kurzfristig einnickte. Dann war endlich das Ende der Wand
in Sicht.
„Dr. Wiegart, träumen Sie?“
„Ah, Lars, ja ich war etwas vertieft, irgendwie komisch hier. Vor siebzehn Jahren gab
es hier noch …“ Dr. Wiegart stockte. „Ist das siebzehn Jahre oder 200 000 Jahre her
oder träumen wir das hier nur?“
„Dr. Wiegart, versuchen Sie sich zu fassen, ich bin auch kurz davor durchzudrehen.“
„Schon gut, Lars, lassen Sie uns jetzt weiter nach Eingängen suchen, wir finden
bestimmt eine Erklärung für das alles hier.“
Ungefähr vierhundert Meter vor ihnen tauchten verschwommen zwei röhrenartige
Gebilde am Horizont auf. Die heiße Luft flimmerte. Je näher sie den Röhren kamen,
desto mehr wuchs ihre Enttäuschung. Von Weitem konnten sie schon erkennen,
dass die Eingänge über Jahrhunderte unbenutzt waren. Steine und Geröllmassen
drangen mindestens 15 Meter tief in die dunklen Schächte. Die beiden Tunnel
konnten nur zu dem Block gehören, es mussten die Eingänge sein.
„In welche Röhre gehen wir, Lars?“
„Wir nehmen die rechte.“
Das starke Licht der Lampen in den Helmstrahlern verlor sich nach 20 Metern in der
Dunkelheit. Sperrige Steine und aus den Wänden ragende Drähte verhinderten ein
schnelles Weiterkommen. Nach wenigen Metern wurde es merkwürdig sauber. Die
Wände glänzten im reflektierenden Licht, als wären sie eben erst gestrichen worden.
Plötzlich standen sie vor einem massiven stahlgrauen Panzertor.
„Das Tor bekommen wir nie auf, nicht mal mit Sprengstoff!“ Lars ging bis auf zwei
Meter an das Tor heran: „Aalglatt, nirgendwo Entriegelungsmechanismen zu sehen.“
Dr. Strauß lehnte sich seitlich mit dem Rücken gegen die Tunnelwand. „Hmm …
warum überhaupt ein gepanzertes Tor? Eine Gesellschaft, die keine Bedrohung
fürchten muss, braucht keine Sperrvorrichtungen. Feinde von außerhalb sind nicht zu
erwarten.“
Dr. Wiegart beobachtete, wie Dr. Strauß das Tor anstarrte. „Was meinen Sie, Dr.
Strauß, bekommen wir das Tor mit positiven Gedanken auf oder klingt das zu
mystisch?“
„Mystik und Religion, zwei Faktoren, die fast jeden Menschen, in jeder Kultur
blockieren und den Verstand auflaufen lassen. Zwei Begriffe, deren Inhalt nur aus
Glaube besteht.“
Lars ging einen Schritt auf Dr. Strauß zu. „Und Glaube ist bekanntlich ein Vakuum, in
das man alles hineininterpretieren kann.“
Dr. Wiegart schmunzelte: „Das sollte bloß ein Scherz sein. Mir ist klar, dass wir das
Tor nicht wegdenken können.“
Oswalt fasste sich ans Kinn: „Warum nicht, Dr. Wiegart? Ein Verschlusssystem im
Frequenzbereich. Gedanken strahlen tatsächlich Schwingungen aus. Nur welche
Frequenz kommt hierfür infrage?“
Etwas Bedrohliches schlug ihnen entgegen, eine merkwürdige Aura strahlte von den
schweren dunklen Panzertüren ab.
„Angst! Die Frequenz der Angst. Primitive Völker wurden früher mit Symbolen oder
Geschichten von etwas ferngehalten. Beim intelligenten Primaten wird das Gehirn
manipuliert, mit magnetischen Schwingungen geht es direkt in das Angstzentrum des
Gehirns. Das Tor ist eine Ablenkung. Hier ist gar kein Tor. Wir sollen nur ein Tor
sehen.“ Dr. Strauß schlug mit der Hand gegen das Tor und verlor das Gleichgewicht.
Er fiel auf die andere Seite durch die scheinbar massive Wand.
Lars erschrak. „Doktor, wo sind Sie?“
„Na hier, hier hinter der Wand! Das Tor ist nur Einbildung.“
Dr. Wiegart, Oswalt Galen und Lars Malteser fassten gleichzeitig mit den Fingern an
die Torwand.
„Geben Sie mir endlich Ihre Hand.“
Lars zog Dr. Strauß hoch. Beide schauten sich an … sie lachten laut los.
Dann drehten sich alle vier um und staunten, was sie da vor sich sahen.
„Ist das auch Einbildung, Doktor? Von jetzt an fasse ich alles vorher an.“