rt und quält. Nur auf dem Seil findet er für kurze Zeit Entspannung. Doch auch diese hält nicht lange an und er muss die Waghalsigkeit seiner Balanceakte ununterbrochen steigern. Schließlich balanciert er barfuß – blutend – ohne Seil und verliert das Gleichgewicht.
Kapitel 3 „das Treffen“
Ella (die Freundin des Erbprinzen) kehrt aus dem Wald zurück sieht den Seiltänzer kopfüber vom Seil stürzen und direkt auf den Erbprinzen fallen. Die beiden Schädel krachen aufeinander. Der Seiltänzer erleidet nur eine Schädelfraktur, doch der Erbprinz bricht sich die Halswirbelsäule und stirbt. Ella blickt in die wunderschönen Augen des Seiltänzers und greift zum Handy, um ihn zu retten.
Die Erzählung umfasst 86 Seiten und 17 Illustrationen.
Leseprobe
Der Erbprinz
Die Freunde sitzen breitbeinig auf den ausgeleierten Polstern der alten Sitzgarnitur und angeln nach den Bierflaschen, die er vor sie auf den niedrigen Couchtisch platziert. Reißen sie aus der Pappe, die ihre Hälse zu einem Sixpack zusammenhält und zücken ihre Feuerzeuge, um in alt bewährter Bauarbeitermanier die metallenen Flaschenkorken abzusprengen.
Er hat nie gelernt, ein Feuerzeug erfolgreich als Hebel zu benutzen. Außerdem zieht er es vor, sich in gewisser Weise von den anderen abzugrenzen. „Harzvierler“ nennt er sie, insgeheim, oder wenn er bei seinen anderen Freunden über diese Runde herzieht.
Daher greift er etwas geziert zu einem Flaschenöffner und holt sich ein Glas.
Auch äußerlich unterscheidet er sich von seinen Kumpeln und distanziert sich explizit von ihren ausgeleierten Trainingshosen. Verschmäht sowohl das traditionelle Modell in Hellgrau, als auch die modernere Variante, die schwarze Adidashose mit weißen Seitenstreifen vom Vietnamesenmarkt kurz hinter der tschechischen Grenze.
Sie akzeptieren gutmütig seinen Standesdünkel, schließlich sorgt er ab und an für einen Sixpack und dazwischen immer mal wieder für anregende Unterhaltung, wenn auch etwas abgehoben. „Er hat ja auch Philosophie studiert“, sagen sie, verdrehen die Augen und nennen ihn „den Erbprinzen“ voll innerer Genugtuung darüber, dass so ein Siebengescheiter mit seinen ´zig Semestern geisteswissenschaftlicher Studien es auch nicht weiter als sie gebracht hat. Sogar noch schlechter dasteht, trotz seines Bierglases und der Jeans mit den Bügelfalten.
„Typische Standardsituation“, meint der Erbprinz und deutet mit seinem Kinn auf den Bildschirm. Auf den Nürnberger Fußballer, der zwei Verteidiger umspielt und den Torwart der Augsburger täuschend, den Ball in die linke obere, statt in die erwartete rechte untere donnert. Blinzelt Beifall heischend, bzw. sich der Zustimmung der anderen sicher, mit seinen kleinen hellblauen Augen in die Runde.
Sein Sitznachbar Horst nickt folgsam mit dem Kopf und schwäbelt ein „ Noi, swar ned andersch zu erwadn“ zurück. Fügt einen weiteren Bierfleck den vielen anderen auf seiner ehemals hellgrauen Trainingshose hinzu, weil er sich nach vorne lehnt, um seine Zigarette im schweren gläsernen Aschenbecher auszudrücken und die Flasche dabei zu schräg hält. Er seufzt tief, der Aufstieg der Augsburger in die erste Liga, wäre ein unvergleichlicher Triumph, ein globales Ereignis, ein Erdrutsch und würde die seit ewigen Zeiten fest betonierte Vorherrschaft der Nürnberger in der Bundesliga erschüttern. Er wäre so was wie eine Sonnenfinsternis, ein Ball, der vielleicht sogar weiterwanderte, sich vor die glänzende Scheibe der siegverwöhnten Bayern Münchner schieben und dort verharren würde. Um das Land der Fußball-Bayern auf lange Zeit in eine dunkle, kalte Verliererwüste zu verwandeln.
Und jetzt lässt sich dieser Idiot einen Ball in den Kasten donnern. „Der g´hört weg, besiegelt Horst das Schicksal des Torwarts.
„Ist ja nicht das erste Mal“, der Erbprinz hebt zu einer ausführlichen Analyse der Torschusssituation an – sticht dabei den sich ebenfalls bemühenden Fernsehfußballkommentator aus – kann diese aber nicht zu Ende führen, weil ein aus den Tiefen dicker Bierwammen gegrunztes „Ouuh“ ihn stoppt und seine sorgfältig gedrechselten Formulierungen in Schnee von gestern verwandelt.
Der Konter der Augsburger war nur sehr knapp über die Latte des Gegners gegangen und die
neue Situation erfordert eine neue Analyse, die der Prinz zu leisten imstande wäre, wenn sich nicht die Ereignisse auf dem Fußballfeld derart überschlügen, dass Tom, der Kumpel mit der schwarzweißen Adidashose, ihm kurzerhand ein „Holt dei Maul“ entgegenschleudert.
Tom gehört zur Gruppe der Jungproleten. Einer, der tagsüber am Fließband bei BMW steht und stupide einfache Handgriffe aneinander reiht. Sich abends auf des Erbprinzen Couch haut und sofort zur Fernbedienung – „egal, was läuft“, – seines Fernsehers greift, die Bierflasche in der anderen Hand. Immerhin bringt er meist einen Sixpack in der Plastiktüte mit und kauft sich somit in des Erbprinzen Abend ein.
Doch er rülpst und furzt und aus seinem Mund poltern abfällige Bemerkungen über „pockige Drecksweiber“ oder „die da oben“, abgehackte Satzrudimente, denen entweder das Subjekt oder das Prädikat fehlt. Nebensätze verwendet Tom nicht, Grammatik nur aus Versehen und Höflichkeit oder gar Dankbarkeit gegenüber seinen Gastgeber ist ihm unbekannt.
Der Erbprinz geht in die Küche und versteckt den dritten Sixpack, den er diesem Fernseh-Fußballabend zugedacht hatte, unter einem Haufen alter Plastiktüten, die sich in einer Ecke angesammelt haben.
Das Triumphgeheul seiner Kumpel im Wohnzimmer wird ihn fortan kalt lassen und auf eine abschließende Analyse des Spieles wird er verzichten. Perlen vor die Säue!
„Ist kein Bier mehr da“, ruft er seinen Kumpeln zu und verweigert dem Sieg der Augsburger die erforderlich feuchte Feier.
Den Fernseher verscherbelt er am nächsten Tag für ein paar Euro in einem Gebrauchtsupermarkt, das bringt ihm ein wenig Geld ein und entbindet ihn der Verpflichtung, in Zukunft bei Fernsehfußballabenden den Gastgeber spielen zu müssen.
Wenn er die Sache so durchrechnet, wird er als Eintrittsgeld bei den anderen immer nur einen Sixpack mitbringen und weder für die Kosten von Strom und Heizung, noch für die Fernsehgebühren aufkommen müssen.
Er holt sich dafür Zustimmung und Beifall von seiner Freundin im fernen Dillingen, mit der er am Abend über facebook chattet. „Hi Amanda.“ schreibt er „wieder ´nen abend mit den harz4lern verschwendet.“
„Aber der letzte“
„Sind halt prolls.“
„Geht gar nicht.“
„lol“
Seiner Freundin gefällt des Erbprinzen kultivierte Art, mit den Fußballkretins umzugehen.
„Ist bald Frauen-WM“ antwortet er, nachdem er sein facebook-Gelächter beendet hat.
„what about pv?“ Er meint public viewing.
„Besser als tv“, Amanda signalisiert Begeisterung und sie verabreden sich zum nächsten öffentlichen Frauenfußballevent unter freiem Himmel, in einem Biergarten, der keinen Eintritt verlangt.
Da wird er nur einen Kaffee trinken, das kommt ihn noch billiger als ein Sixpack.
„s u.“
„gru E“, verabschiedet er sich, die Sache ist gebongt. Befriedigt schließt er seinen facebook-account und holt sich aus der Küche ein Glas Leitungswasser.
Er liebt diese Frau, zumindest investiert er ein größeres Maß an Zuneigung in sie, als zum Beispiel in seine Nachbarin. Obwohl die Nachbarin die bessere Figur hat, aber sie wohnt schon seit drei Jahren neben ihm und ein paar Mal hat er sie morgens ungeschminkt und in einem abgeschabten seidenen Kimono den Müll hinunterbringen sehen.
„Geht ja gar nicht“, dachte er und grüßt die Nachbarin seitdem nicht mehr.
Seine schwäbische Freundin würde sich nie derart gehen lassen.
Sie ist Referendarin, bereitet sich auf ihre erste Lehramtsprüfung vor und arbeitet fast ununterbrochen, weil sie genau weiß, dass der Schulleiter ein strenges Auge auf ihre Leistung werfen wird. Auch andere Haie kreisen um die kleine Insel ihrer Existenz, denn der Bischof ihrer Diözese spioniert sehr gern jungen allein stehenden Damen hinterher.
Der Erbprinz macht sich viel Mühe, sein eigentliches Leben vor ihr zu verbergen und die Tatsache zu verschleiern, dass er keiner geregelten Vollzeitarbeit nachgeht, sondern sich nur von einem wenig einträglichen Aushilfsjob zum nächsten hangelt. Dafür hat er ausreichend Zeit, seine psychologischen Kenntnisse auf den aktuellen Stand zu bringen.
Drei Monate lang kann er ihr einreden, dass sie sich viel zu tief in ihren Pflichtenkanon einbinden ließe und nicht mehr in der Lage wäre, über den Tellerrand ihrer Karrieresucht zu sehen. Er diagnostiziert ihr ganz klar eine zwanghafte Neurose, was bei ihrem schwer calvinistisch geprägten Elternhaus nahe liege, und steigert sich in die Rolle des engagierten Psychotherapeuten hinein. Sieht es als seine Aufgabe, ihren psychischen Haushalt in Ordnung zu bringen und macht ihr klar, dass sie ohne ihn zugrunde gehen werde.
Er ist sich sicher, keinen Fehler gemacht zu haben, doch nach drei Monaten kommt es trotzdem zum Streit.
Auslöser ist das kleine sportliche Cabrio, das ihm seine Mutter geschenkt hatte. Ein sparsames Auto, ein Diesel, der aber trotzdem über viele PS verfügt und von einem gediegenen Understatement gehobener Kreise zeugt.
Er findet, dass es seine lebenskünstlerische Ader wirkungsvoll unterstreicht und genau das verkörpert, was ihr in ihrem pflichtgetreuen Karriereleben fehlt. „Du brauchst mich und mein geiles gelbes Auto.“
Sie bevorzugt Kombis. „Ich hätte gern einen großen Audi“, sagt sie, “in grau oder schwarz.“ „Und selbstverständlich nicht gebraucht oder geschenkt“, ergänzt sie in Gedanken.
„Man könnte ihn ja finanzieren“, schlägt sie vor.
„Du meinst, du willst einen völlig überteuerten Wagen auf Pump kaufen? Weißt du, wie viel so eine Karre an Sprit frisst?“
„Dann nehmen wir eben einen Diesel.“ Das kann sie sich auch noch vorstellen.
„Etwas anderes käme ja sowieso nicht in Frage“, murmelt er und überlegt krampfhaft, wie er ohne Imageverlust aus der Sache rauskommt.
„Ganz schön spießig, findest du nicht?“ formuliert er seinen Gegenangriff – ein wenig zu scharf im Ton.
„Nein, finde ich nicht.“ Alle Kollegen fahren teure Familienkutschen und ihre jüngeren Schüler steigen morgens aus fetten Volvos oder Chrysler Voyagers. Da, wo sie herkommt, brachte man seine Kinder im Porsche Cayenne Turbo S in den Kindergarten. „Und gelb ist schon gleich gar keine Farbe für ein Auto.“
„Ach, stört´s dich? Ein Farbfleck in deinem Einheitsgrau, ist dir wohl peinlich?“ nimmt er ihren wunden Punkt ins Visier.
Sie stockt, „Mein Leben ist nicht grau, spinnst du?“
„Ach nein?“ höhnt er. „und wer jammert mir hier jedes Mal rum, weil er Angst vor dem nächsten Schultag hat, jahraus, jahrein? Immer derselbe Käse? Die ermüdende Wiederkehr des ewig Gleichen?“
„Wie kannst du es wagen?“ sie reißt die Augen auf.
„Wie ich es wagen kann? Traut sich ja sonst keiner, dir das zu sagen. Du bist nicht gerade eine Inspiration für einen Mann.“ Das wollte er eigentlich nicht sagen, aber wie soll er sich sonst wehren?
„Muss ich auch nicht“, jetzt reicht es ihr,
„i c h verdiene nämlich ausreichend Geld und muss mir nicht von Mammi das Benzin zahlen lassen.“
Ihm wird klar, dass er zu weit gegangen ist und sich das Gespräch in eine für ihn sehr gefährliche Richtung entwickelt.
„Ich will dir doch nur helfen und das tut halt auch mal ein bisschen weh.“ Vielleicht kann er das Steuer noch einmal herum reißen, „du leidest doch selber unter all´ deinen Zwängen, du brauchst doch jemanden, der dir hilft, dein Leben zu verändern.“
„Wie?“ Sie holt Luft, „ich habe Ziele, und werde sie erreichen. Stück für Stück und Schritt für Schritt. Wenn du das spießig nennst, dann bin ich eben spießig.“ Sie steht auf und baut sich breitbeinig vor ihm auf.
Er weicht unwillkürlich etwas zurück, holt dann aber noch mal aus – jetzt ist es ihm auch schon egal. „Du bist einfach nur total verklemmt“, wiederholt er „eine zwanghafte Neurotikerin, die sich von allen missbrauchen lässt. Ein ängstliches Mädchen, das sich wie ein dummes Schaf in ihr klein kariertes Milieu zwängen lässt. Die woanders aber nicht überleben kann.“
Sie lacht verächtlich, „Und Du bist ein selbstverliebter angeberischer Narziss, der nichts im Leben auf die Reihe kriegt und das für Kreativität hält. Ein schmieriger Gernegroß ohne jede Substanz. Nichts dahinter, alles nur Schall und Rauch.“ Sie lässt sich nicht mehr stoppen, „ich will einen Mann, auf den ich mich verlassen kann. Die drei Monate mit dir waren offensichtlich reine Zeitverschwendung.“
Das kränkt ihn so tief, dass er nichts mehr erwidern kann. Wie blind stürzt er aus dem Raum und knallt wie ein kleiner Vogel aus lichten, luftigen Höhen auf harten, blanken Erdboden.
…
Der Seiltänzer
Der Seiltänzer steht auf der hölzernen Plattform, die sie um den Baumstamm herum gebaut haben und wartet darauf, dass sein Kollege sich zu ihm vorarbeitet. Wird ihm am Schluss die Hand reichen und ihn zu sich auf die Bretter ziehen.
Der Chef hatte sie zu dieser Exkursion in den Kletterpark verdonnert: „Eine Frühlingsüberraschung zu unserem Betriebsausflug.“
Wie er es voraussah, schafft der Kollege es nicht mehr, sich weiter zu ziehen. Kniet hilflos in einem kleinen hölzernen Wägelchen, dessen Rollen auf zwei Drahtseilen weiter gleiten sollten. Klammert sich an das dritte Seil, an dem er sich und das kleine Gefährt vorwärts hangeln müsste. Aber weil die Seile in der Mitte durchhängen, geht es die letzten Meter bergauf. Genau an diesem Punkt verlassen den Kollegen seine Kräfte.
Die Stelle kennt er schon. Nachdem der Chef mit seinem Einfall herausgerückt war, war er am folgenden Wochenende gleich in dem Kletterpark gefahren und den Parcour Probe geklettert. Sicher ist sicher. Er hasst es, nicht gut vorbereitet zu sein.
Mit der einen Hand hält er sich am Sicherungsseil fest und die andere streckt er dem Unglücklichen entgegen. Gerade soweit, dass der sich ordentlich strecken muss, um sie mit Mühe ergreifen zu können.
Er sieht die Angst in dessen Gesicht, die Hand in der seinen ist schweißnass. „Wenn ich das gewusst hätte“, keucht der Kollege, „niemals, wirklich niemals wäre ich mitgekommen. Das nächste Mal mache ich es wie unsere schöne Kollegin und nehme Urlaub.““
„Komm – es geht schon“, er muss fest zupacken, damit ihm die Hand nicht entgleitet und ekelt sich vor dem nassen Film auf der Handinnenfläche.
Mit einem Ruck zieht er Kollege und Gefährt bis direkt an die Plattform und stützt ihn bei seinem vorsichtigen Ausstieg. Auf zitternden Knien krabbelt der Mann auf die feste Fläche
und verharrt auf allen seinen Vieren, als wäre er ein Tier.
Er blickt auf ihn hinunter „Wie ein Hund“, denkt er, „gleich wird er sein Bein heben und an den Baum pissen.“
„Der Chef“, keucht der Kumpel, “glaubst Du, er ist ein Sadist?“
„Könnte schon sein“, lacht er, „wahrscheinlich lungert er hier irgendwo in den Bäumen ´rum und beobachtet uns mit dem Fernglas.“
Der Kollege richtet sich auf und hält sich mit einer Hand am Sicherungsseil fest. Mit der anderen Hand löst er den Karabiner und befestigt ihn ein Stück weiter wieder am Seil. Streng nach Vorschrift – nie würde er einen einzigen Augenblick frei stehen wollen, einen einzigen Moment riskieren, ohne an diesem Seil zu hängen und vielleicht zu straucheln. Die Plattform schwebt mindestens sieben Meter über dem Waldboden. Er würde wie eine reife Pflaume auf den Boden klatschen.
„Hätte ich doch bloß krank gefeiert“, murmelt er und wischt sich den Schweiß von der Stirn, dem roten Gesicht, säubert sogar die Speckfalten unter seinem Kinn. Währenddessen bilden sich schon wieder neue Schweißperlen und eigentlich könnte er mit dem Trockenwischen wieder von vorn beginnen.
„Zu spät, vorwärts ist es kürzer, als zurück“, sein Mitleid mit dem Kollegen hält sich in Grenzen.
Er klinkt seinen Karabiner ebenfalls in das neue Sicherungsseil ein, das den ganzen Parcour über immer nebenher mitläuft und mustert die nächste Herausforderung, der sie sich stellen müssen. Es gilt, über ein einziges Drahtseil zur nächsten Plattform zu balancieren. Ungefähr einen Meter achtzig darüber ist ein zweites Seil gespannt, an dem in Abständen von jeweils einem Meter dicke kurze Taue hängen. Mit einem Knoten am unteren Ende.
„Es ist am Besten, man hält sich mit einer Hand am Sicherungsseil fest und hangelt sich mit der anderen von Tau zu Tau weiter“, beschließt er.
„Auf einem einzigen Seil von circa sieben Millimeter Durchmesser balancierend – super. Da freu´ ich mich aber.“ Der Kollege kratzt den letzten Rest Galgenhumor zusammen.
Er setzt den Fuß prüfend auf das Seil, leicht nach außen gewinkelt. Hält sich kerzengerade, den Blick auf einen Punkt circa zwei Meter vor sich gerichtet. „Nur nicht direkt nach unten sehen“, und wackelt bedeutungsvoll mit dem Kopf, um die Besorgnis seines Kollegen noch ein wenig zu steigern.
Dessen Waldboden sackt um mindestens weitere zehn Meter nach unten weg. „Aber es ist ja eigentlich egal, wie tief man fällt – hin ist hin“, der Kollege reagiert wunschgemäß mit einem weiteren Schicksalsergebenem Seufzer.
„Und los“, auch sein zweiter Fuß löst sich von der festen Plattform und tastet sich das Seil entlang. Der erste Schritt ist getan, das Seil bleibt ruhig, er spürt den festen Stahl unter seinen Fußsohlen.
„Und, wie war´s?“ Die Ossowska ist aus ihrem Kurzurlaub zurückgekehrt, steht vor seinem Schreibtisch, beugt sich nach vorn und sieht ihm über den Schreibtisch hinweg in die Augen. Der Ausschnitt ihres Kleides gibt den Blick auf den Ansatz ihrer prächtigen Brüste frei, dazwischen das tiefe Tal der Verheißung.
„Er hat mich gerettet – immer und immer wieder“, der dicke Kollege redet dazwischen, gibt sich unterwürfig, lenkt aber dadurch die Aufmerksamkeit der Ossowska auf sich. Sie richtet sich auf und wendet sich dem Kollegen zu, „warst´ ja eh´ so mutig – das du dich da überhaupt raufgetraut hast.“ Ihre Hand tätschelt dessen Oberarm. Er hält sie fest. „Nur der Gedanke an dich hat mich am Leben gehalten.“ Sie lacht und tippt ihm neckisch auf die Nasenspitze.
„Los, arbeite und mach´ uns alle reich.“
Er mag nicht mehr hinsehen und fragt sich, was die Ossowska bloß an dem Kollegen findet.
Unwillkürlich stellt er sich vor, wie die beiden nackt aufeinander liegen und die prächtigen Brüste der Ossowska unter dem Gewicht des Dicken platt gedrückt würden. Wie der Kollege beim Geschlechtsakt schwer auf ihr lastete und schon nach wenigen Sekunden anfinge zu schwitzen. Er zieht die Schultern hoch, löscht das Bild des Dicken vor seinem inneren Auge und behält nur die nackte Ossowska in seinen Gedanken zurück.
Entspannt sich augenblicklich und gibt sich all´ dem Schönen hin, das noch passieren könnte. Und sollte. Die Ossowska steift ihn mit einem kurzen Seitenblick.
Er hat etwas Eigenartiges an sich, etwas, bei dem sich ihre Nackenhaare aufstellen. Sie kann aber nicht genau sagen, was es ist. Es macht ihr ein wenig Angst – und es erregt sie.
Sie verabredet sich mit dem dicken Kollegen zum Mittagessen in der Kantine.
„Du hast bei den rumänischen Siederohren vergessen, die Fracht einzurechnen und zwar bei allen Positionen“, er wird es schon schaffen, dem Dicken bis zum Mittag den Appetit zu verderben.
„Au, das schmerzt“, der Kollege pariert geschickt, „super, dass es dir noch aufgefallen ist“, greift zum Telefon. „Ich kenn´ die Einkäuferin“, er blinzelt ihm zu, „hab´ halt ´nen Schlag bei den Frauen“, säuselt ins Telefon und korrigiert unter vielen Entschuldigungen die Angebotssumme nach oben. Verabredet sich schließlich mit seiner Gesprächspartnerin zum Mittagessen. Am nächsten Tag, denn heute isst er ja schon mit der scharfen Ossowska.
Er steht wieder auf der Plattform – allein.
Hat den Bürotag irgendwie hinter sich gebracht und ist wieder zum Kletterpark gefahren. Bis der Park schließt, hat er noch zwei Stunden.
Seine Füße fühlen das Drahtseil.
Es ist ein wenig feucht. Am Morgen hatte es geregnet und die Feuchtigkeit macht das Seil glitschig.
Ein paar Sonnenstrahlen sägen sich schräg durch die Laubkronen, von den Blättern fallen noch ein par wenige Tropfen und leichter Dunst steigt vom Waldboden auf. Er verlegt sein Körpergewicht auf den Fuß, der sich schon auf dem Seil positioniert hat. Mit der einen Hand hat er das Sicherungsseil fest im Griff, die andere packt eines der Taue ganz weit oben. Den zweiten Fuß führt er ganz eng am Seil entlang und setzt ihn vor den ersten Fuß.
Das Gewicht ist es jetzt auf beide Füße gleichmäßig verteilt und er spürt das Drahtseil unter beiden Fußsohlen. Deutlicher, als beim letzten Mal. Er trägt Schuhe mit dünnen Sohlen.
Er achtet darauf, die Beine langsam und vorsichtig zu bewegen, kann aber trotzdem nicht verhindern, dass das Seil leicht ins Schwingen gerät. In der Mitte muss er etwas um sein Gleichgewicht ringen. Kann sich aber wieder gerade aufrichten und bleibt so stehen, klammert sich an das Sicherungsseil und an eines der Taue und wartet ab, bis sich das Seil wieder beruhigt.
Die Nackenhaare der Ossowska faszinieren ihn besonders, „liebe Kollegin, wenn Sie ihre Haare hochstecken, sieht man ihre bezaubernde Nackenlinie – so elegant, so zart.“ Sie betrachtet gerade die Vitrine in ihrer Mittagskantine und er stellt sich kurz hinter sie. Berührt mit seinen Fingerspitzen ihren Oberarm, fühlt, wie sie ihren Trizeps anspannt.
Bevor sie sich zu ihm umdrehen kann, wendet er sich ab und balanciert sein Tablett zum nächsten Tisch, setzt sich und beginnt ungerührt zu essen.
Sie ist auf eine Art verwirrt, die sie bisher nicht kennt. Als ob er mit dieser kleinen Berührung jede einzelne Schicht, aus der ihr Körper besteht, ins Schwingen gebracht hätte. Natürlich auch ihre Lust. Sie kräuselt sich um die Stelle auf ihren Oberarmmuskel, die er berührt hat. Windet sich empor zu ihrem Nacken und schlängelt sich um ihre Wirbelsäule hinab zu diesem goldenen Punkt zwischen ihren Beinen.
Sie betrachtet kurz seinen Kontrahenten, dem gerade ein wenig Bratensoße das fettige Kinn hinunterläuft, zögert einen winzigen Moment und – den freien Platz neben dem Kollegen ignorierend – bahnt sich ihren Weg zu ihrer Mitarbeiterin aus der Buchhaltung.
Das genügt ihm fürs Erste.
An diesem Abend gönnt er sich ein sattes Besäufnis. Aus Triumph, Freude oder was auch immer. Hängt in seiner Stammkneipe am Tresen und trifft natürlich einen, mit dem es sich gut trinken lässt. Gut abgefüllt taumelt er gegen Mitternacht aus der Türe und schickt sich an, die Straße zu überqueren.
Zuckt zusammen.
Unmittelbar hinter ihm heult ein Motor gequält auf, gestoppt von quietschenden Bremsen. Dem Fahrer gelingt es nicht ganz, seinen Wagen rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Der Spoiler touchiert sein Knie. Leicht, es ist mehr der Schreck, als eine tatsächliche Verletzung, die ihn aus dem Gleichgewicht bringt.
Er geht zu Boden, sitzt auf dem Bürgersteig, „kannst Du nicht aufpassen, du Idiot.“ Er blickt zu dem Wagen hoch und in das erschreckte Gesicht des Fahrers.
Der steigt aus und beugt sich besorgt zu ihm herab, „ist Ihnen ´was passiert?“.
„Ja und du wirst es mir büßen.“
Er stößt die Hand zurück, die der Fahrer ihm hilfreich bietet und rappelt sich aus eigener Kraft hoch. Mit einiger Mühe baut er sich vor dem anderen auf, „ist ´ne Spielstraße hier, mit Geschwindigkeitsbegrenzung – ist dir das schon aufgefallen?“
Der andere nickt, „aber sie sind völlig unvermittelt auf die Fahrbahn getreten. So schnell kann kein Mensch reagieren.“
„Ach, bin ich? Das glaub´ ich aber nicht – du warst zu schnell unterwegs, würd´ ich mal sagen, das ist alles.“
„Sie haben getrunken“, der Tonfall des Fahrers verliert den Ton der unterwürfigen Verbindlichkeit.
„Und, ist das verboten?“ er verlagert sein Gewicht von einem auf das andere Bein.
„Sie sind sogar sehr betrunken“, der Fahrer lässt moralische Entrüstung mitschwingen.
Er sieht sich kurz um – kein Mensch ist auf der Straße zu sehen – und schubst den Fahrer rückwärts gegen dessen Auto. In dem Moment, in dem der andere sein Gleichgewicht verliert, setzt er nach und verpasst ihm eine schallende Ohrfeige.
„Sind Sie verrückt?“, der andere weiß nicht, wie ihm geschieht. Der kräftige Schlag klingt noch in seinem Kopf nach und hindert ihn am Denken. „Sie können doch nicht einfach zuschlagen.“ Bevor er sich von seinem Staunen erholen kann, geht er von einer zweiten Ohrfeige getroffen zu Boden. Da wird dem Fahrer wohl klar, dass er sich vor weiteren Schlägen in Sicherheit bringen muss. Er richtet sich auf, hastet zur Fahrertür und wirft sich auf den Sitz.
Nicht schnell genug.
Bevor der Flüchtende noch sein zweites Bein in den Wagen ziehen kann, tritt er von außen gegen die Fahrertür.
Mit aller Kraft.
Das Schienbein wird dabei zwischen Wagen und Tür eingeklemmt. Ein gut hörbares Knacken, der Fahrer schreit auf.
Er geht drei Schritte zurück, holt Anlauf und tritt noch einmal nach.
Dreht sich um – es gibt keine Zeugen – und verschwindet um die nächste Ecke.