Übermacht / Exposé und Leseprobe

Exposé

 

„Gegenmacht“ ist mein erster groesserer Roman, ein Epos, das von einer Stelle in Nietzsches „Zarathustra“ angeregt wurde. „Warum bist du boese?“ fragt der Weise da einen jungen Mann. Und fuegt selber hinzu: „Manche Seele wird man nicht erkennen, es sei denn, dass man sie erfindet.“

 

Ich wollte diese Seele erfinden. Darum stellte ich in den Mittelpunkt meines Romans ( 1260 Seiten) einen jungen Mann, der einen maechtigen und reichen Vater hat und von diesem so gequaelt und drangsaliert wird, dass sich das, eher unbewusst, auf seinen ganzen Lebensweg auswirkt. Seine kuenstlerischen Begabungen führen zu nichts, seine Freundschaften enden in Katastrophen, und die vermeintliche grosse Liebe war nie etwas anderes als ein gigantischer Ausbeutungsversuch. Er wird zu einem Wesen ohne Halt und Gewicht, das anderen nur schaden kann.

 

Auf vielen Seiten dieses Romans findet sich ein Manuskript, das eines der Opfer des Helden verfasst hat, um ihm bei der dringend benoetigten Selbsterkenntnis zu helfen. Als dieses Manuskript in die Haende des Helden gerät, kommt Bewegung nicht nur in seine Geschichte: ein Krieg geht zu Ende, der sein Leben lang gedauert hat. Dieser Krieg spielt aber nur im Hintergrund eine Rolle, als Auseinandersetzung zwischen ausbeuterischer Despotie und Freiheitswille.

 

Weitere handelnde Personen sind ein Wissenschaftler und Politiker, der mit falsch verstandenem Verantwortungsbewusstsein der Despotie dient und so viel Unheil anrichtet, in bestem Glauben, eine Grosskapitalistin, die sich vor ihren eigenen besonderen Faehigkeiten fuerchtet, und ein junges Maedchen, das nur albern und verrueckt scheint, in Wirklichkeit aber Agentin einer feindlichen Macht ist, die sich hilfreich in die grossen und kleineren Konflikte des Romans einschaltet. Dieses junge Maedchen ist witzig und trotzdem eine Art Erloeserin.

Ganz allgemein stellt der Roman die alte Frage nach der Macht der Kunst im Leben der Einzelnen und in der politischen Wirklichkeit. Kunst kann nicht alles, aber manchmal genuegt ein Anstoss, der ein neues Sehen ermöglicht.

 

 

Leseprobe

 

GeheimeSchwierigkeiten

 

 

„Früh soll aufstehen, Wer vom anderen begehrt Leben oder Land:

Raub gewinnt selten

Der ruhende Wolf

Noch der Schläfer die Schlacht.”

 

Sprüche der Edda

 

 

 

Ein herrlicher windrauschender Hochsommertag ist halb vorbei. Durch die Ritzen der Jalousien dringt jenes grelle, weißliche Licht, das große Hitze bedeutet. Aber mit ihm kommt, da die Fenster weit geöffnet sind, auch der kräftige Wind herein, frisch vom nahen Nordmeer, bauscht die prunkvollen, golddurchwebten Vorhänge wie schöne Tanzkleider. Irgendwo da draußen bewegt er das Laub vieler Bäume – ein besonders angenehmes Geräusch. Aber da sind auch Lachen und Rufen und das Klirren von Silberbesteck gegen feines Porzellan. Helle, lebensvolle Wirklichkeit stürmt gegen diesen schattigen Raum an.

Trotzdem beherrschen ihn dumpfe Stille, drückende Schwere, Erstarrung. Es ist ungut hier drinnen.

Mit dem Gesicht nach unten, die Stirn gegen ein üppiges Kopfkissen gepresst, liegt ein einzelner Mann auf dem schönen, mit weißer Seide bespannten Bett. Die leichte Steppdecke ist ihm bis an die Hüften herabgeglitten. Dadurch wirkt er jedoch in keiner Weise entblößt, denn sein Rücken hat etwas Stures, Undurchdringliches an sich, ist Selbstschutz wie der Rücken einer Schildkröte. Seine Muskeln treten stark hervor, seine Schultern zucken unter geheimen Träumen und Empfindungen. Die Arme sind um das Kissen gebogen, ohne es zu berühren: sie halten Abstand, angespannt und mit geballten Fäusten. Das Kissen dämpft seine tiefen, schweren Atemzüge, die hin und wieder ein Aufstöhnen oder ein undeutliches, unwilliges Gebrummel unterbrechen. Dieser Mann schläft ohne rechten Frieden.

Er ist groß und kräftig, seine rauhe Haut von der Sonne tief gebräunt. Seine sehr kurzen, stoppeligen Haare sind eisengrau. Er riecht stark nach Schweiß.

Neben dem Bett steht ein niedriger Tisch von zierlicher Form, dessen Oberfläche schmierig und mit Zigarettenasche bestreut ist. Hier befindet sich eine bis auf den letzten Tropfen geleerte Flasche, deren Etikett von einem sehr edlen und dabei sehr berauschenden Getränk kündet. Daneben stehen ein leeres Glas und ein großer stinkender, überquellender Aschenbecher. Dann liegen da zwei leere und eine angebrochene Zigarettenschachtel, letztere beschwert durch ein goldenes Feuerzeug mit den kunstvoll ineinander verschlungenen Schriftzeichen T und L. Ganz am Rand des Tisches liegt mit den Gläsern nach unten eine unsaubere schlichte Nickelbrille in bequemer Reichweite für den Schläfer.

Und mitten zwischen all diesen Gegenständen gibt es einen großen blauen, durch seinen zusammengeknüllten Inhalt zeltförmig aufgespannten Briefumschlag, auf dem verkehrt herum nur ein einziges, gestempeltes Wort zu lesen ist: „Geheim”.

Der Mann hat, ehe er zu Bett ging, eine hässliche Unordnung hinterlassen. Graue, stark verschwitzte Uniformteile und Wäschestücke sind weit über den flauschigen Teppich verstreut, ein Paar staubverklebter Stiefel mieft halb unter dem Bett vor sich hin. Das passt nicht zu diesem Raum, der in einem Stil maßvoller, hoheitsvoller Heiterkeit alle Behaglichkeiten eines erstklassigen Hotelschlafzimmers bietet. Jetzt wirkt er wie eine Frau, die für ihre Hingabe bezahlt und von der daher ganz selbstverständlich erwartet wird, dass sie sich mit Missachtung und Achtlosigkeit abfindet.

Es ist nicht leicht, den unguten Zustand zu beenden, in dem sich diese halbdunkle kleine Welt befindet. Ein leichtes, etwas verstohlenes Klopfen an einer der reichgeschnitzten dunkelglänzenden Türen erweist sich als zu schwach. Der Mann auf dem Bett nimmt es nicht wahr.

Das Klopfen wird nach einer kurzen Pause wiederholt, mehrmals, immer ein wenig fester, ein wenig aufdringlicher, doch nicht über die Grenze der Höflichkeit hinaus. Der Mann auf dem Bett stöhnt und stößt mit den Beinen wie ein Kind. Seine Hände öffnen sich, irren über das schweißfeuchte Laken wie auf einer Suche. Es sind schöne, kraftvolle Hände mit langen, sehr geraden Fingern, aber lieblos behandelt, grob und sehr kurz an den Nägeln gestutzt, fleckig von ungezählten Zigaretten. Sie irren weit auseinander und finden nichts. Der Mann bleibt mit ausgestreckten Armen starr und still liegen. Er hebt den Kopf nicht.

Da dreht sich mit einem kalten, mahlenden Geräusch ein Schlüssel im Türschloss. Behutsam wird die große Tür aufgedrückt. Ein junger Mann schlüpft herein, leichtfüßig wie eine Katze, obwohl er schwere Reitstiefel trägt – blankgeputzte übrigens, und auch sonst ist seine Erscheinung untadelig. Er ist in Uniform, grau, sauber, wie frisch gebügelt, hat die Brust voll blinkender Ehrenzeichen und den Kragen trotz der Hitze geschlossen. In der linken Hand hält er eine graue, mit einem breiten Schirm versehene Kappe, in der Rechten den Schlüssel, den er aber gleich in einer Hosentasche verschwinden lässt. Er schließt die Tür mit der Schulter und bleibt einen Augenblick stehen, während er die ganze Szene aus hellwachen Augen erkundet. Ein blasses Lächeln erscheint auf seinem Gesicht.

Eigentlich ist er ein heller und hübscher Mensch, von jener kühlen Art, die niemals zu schwitzen scheint – ein reines und ordentliches Wesen, ein idealer junger Held. Aber etwas stimmt nicht mit ihm. Seine Haut ist zu bleich, seine Lippen sind fast blutleer. Seine tiefliegenden hellgrauen Augen verraten zuviel geheimes Leben, seine Bewegungen sind zu raubtierhaft. Sein Lächeln ist weder freundlich noch unfreundlich, sondern von wissender, matter, geisterhafter Tücke. Er ist kein gewöhnlicher Mensch, und das ist ihm deutlich bewusst.

Wie er sich nun in Bewegung setzt und lässig den abgedunkelten Raum durchquert, immer wieder von dünnen Lichtstrahlen getroffen, und wie er die verstreuten Kleider, die ihm

in den Weg kommen, spielerisch beiseite fegt oder den Fuß scheinbar blindlings mitten auf sie setzt, hat er etwas von einem sich selbst überlassenen Kind an sich, zugleich aber auch etwas von einem bösen Geist – einer flüchtigen, höchst beunruhigenden mittäglichen Geistererscheinung.

Dieser junge Dämon oder Held kommt nun zu dem Mann auf dem Bett und legt ihm die Hand in den Nacken. Ohne Überraschung zu zeigen zieht er sie sofort wieder zurück, als sein Opfer mit lauter, ärgerlicher Stimme „Verdammte Scheiße!” sagt. Sein Lächeln wird stärker, und aus der Tücke wird feiner Spott.

„Ich kann dich nicht länger schlafen lassen!” erklärt er freundlich. Seine Stimme ist angenehm, aber sehr gedämpft – als könne ihr voller Klang etwas Ungewöhnliches bewirken.

„Alle wissen, dass du bei bester Gesundheit bist. Ich weiß nicht, was ich ihnen vorlügen soll.”

„So?” Der Mann auf dem Bett hat den Kopf noch immer nicht gehoben. „Das weißt du nicht? Das Lügen fällt dir schwer? Lass’ mich in Ruhe! Dein Kopf ist klarer als meiner. Streng’ ihn eben an und lass’ dir was einfallen, von mir aus die Pest. Ich will meine Ruhe haben.”

Der junge Mann schüttelt lächelnd den Kopf und zündet sich eine Zigarette an. Er wirkt zugleich überlegen und unbeteiligt, und zum Nachdenken scheint er sich zwingen zu müssen. Er kneift die Augen leicht zusammen, sieht dem Rauch nach, den er vor sich hin bläst. Er formt einige Rauchkringel. Dann sagt er ganz plötzlich: „Du kannst natürlich einen Urlaubstag einlegen. Warum auch nicht? Die Lage ist zwar ein bisschen kritisch, aber von einem einzigen Urlaubstag wird nicht gleich die Welt untergehen. Bis jetzt hat sie es jedenfalls noch nicht getan, und er ist ja schon halb vorbei. Niemand kann bestreiten, dass du dir ein bisschen Ruhe verdient hast. Aber krank spielen kannst du nicht. Die Säule des Reiches braucht nur ganz leicht zu wanken, und die Panik bricht aus, das weißt du ja selbst.”

„Jaja!” Der Mann auf dem Bett rafft sich endlich auf, räuspert sich mehrmals, fährt sich mit beiden Händen über den stoppeligen Kopf. Sein Gesicht ist rot vor Ärger und Widerwillen. Bitter starrt er auf das zerdrückte Kopfkissen hinab. Dann entscheidet er in etwas sachlicherem Ton: „Sie haben selbstverständlich recht, Weyrin! So geht das nicht! Es ist zwar so, dass ich mich heute ausnahmsweise wirklich beschissen fühle, aber das ist meine eigene Schuld. Ich darf mich nicht so gehen lassen. Das geht auf gar keinen Fall! Geben Sie mir eine Zigarette und sorgen Sie für ein kaltes Bad. Außer Ihnen kann und will ich vorerst niemanden sehen!”

Er wendet sich dem jungen Mann zu, der rasch den Spott aus seiner Miene verschwinden lässt und ihm mit freundlichem Eifer eine seiner eigenen Zigaretten gibt, die er dann mit dem goldenen Feuerzeug anzündet. Er wartet den Dank nicht ab, sondern geht gleich weiter zu einer anderen Tür, die in ein sonnenhelles Badezimmer führt. Er schließt sie nicht ganz hinter sich, und einen Augenblick später ist das erfrischende Geräusch fließenden, plätschernden Wassers zu vernehmen.

Der Mann auf dem Bett hat sich unterdessen aufrecht hingesetzt. Er raucht langsam und

nachdenklich. Nach ein paar Zügen wandert der Blick seiner blutunterlaufenen dunklen Augen zu dem geheimnisvollen Briefumschlag, und sein Gesicht wird noch röter, seine Miene fast wild vor Ärger und fürchterlich streng. Das ist das Gesicht, das alle Schulkinder fürchten. Eine verzweigte Ader schwillt breit über seiner Stirn an – ein wahrer Zornesblitz. Er presst die Lippen fest aufeinander. Verbissen ringt er um die Beherrschung seiner machtvollen Erregung, und als die Zigarette bis auf die armen Finger herabgebrannt ist, haben sich auch wirklich ihre Anzeichen verringert. Eine steinerne Ruhe setzt sich allmählich auf seinem Gesicht durch. Es ist ohnehin schon hart genug, von unnachgiebigem Eigenwillen und hochfahrendem Ernst geprägt, lässt schwer auf sein Alter schließen. Zwar weist es zahlreiche tiefe Furchen auf und eine Hagerkeit, die Abneigung gegen die Freuden des Lebens verrät, aber es erweckt vor allem den Eindruck großer, hellwacher, selbstbewusster Kraft. Es verschafft sich auf den ersten Blick nicht unbedingt Liebe, aber Vertrauen. Obwohl diesem Mann die wüste Nacht deutlich anzumerken ist, wirkt er zuverlässig und pflichtbewusst, streng gegen sich und die Welt.

Er drückt die Zigarette neben dem Aschenbecher auf der Tischplatte aus und greift nach dem Briefumschlag. Roh zerrt er ihn von seinem verformten Inhalt herunter, presst ihn in der Faust zusammen und wirft ihn auf den Teppich. Den Inhalt jedoch glättet er zwischen seinen Händen. Es handelt sich um ein einziges großes Blatt Papier. Er hält es sich dicht vor die Augen, kneift diese zusammen, beginnt zu lesen, besinnt sich aber fast sofort wieder anders. Er lässt das Blatt auf die Steppdecke herabsinken und setzt seine Brille auf, ohne sie vorher zu putzen. Dann kommt die nächste Zigarette. Und dann erst, rauchend, in betont ruhiger Haltung, nimmt er das Blatt wieder an sich und heftet seinen Blick auf die schwer lesbare, unruhige, fahrige Schrift, die es in langen, schiefen Zeilen von unregelmäßigen Abständen bedeckt – Schrift eines schlechten Schulkindes!

Der Mann auf dem Bett liest still für sich hin: „So, alter Freund, mir reicht es. Jetzt werde ich einmal ein Machtwort sprechen. Ich habe lange genug auf Sie gehört und wie ein dummer Junge an Sie geglaubt. Sie und Ihre klugen Ratschläge! Sie wissen doch besser als ich, wohin wir damit gekommen sind! Die Karre steckt im Dreck, um es ’mal deutlich zu sagen. Es geht nicht mehr vorwärts, sondern höchstens noch rückwärts. Und das ist schon ziemlich lange so, wenn wir ehrlich sind. Ich habe es so satt, immer nur von Fehlschlägen zu hören. Aber das jetzt – der Hafen blockiert, die syrranische Kriegsflotte vor Kungor, unsere eigene Flotte unzuverlässig und wehrlos, weil Sie sich nie genug um sie gekümmert haben! Das reicht. Sie können wahrscheinlich nichts dafür und haben wie immer Ihr Bestes getan. Aber Ihr Bestes ist eben nicht gut genug. Sehen Sie das nicht selbst ein? Es ist doch kaum zu glauben. Zahlenmäßig waren wir den Barbaren immer weit überlegen und hatten die besseren Waffen, und trotzdem haben wir trotz aller Mühe nichts erreicht. Damit meine ich: Sie haben nichts erreicht! In all den Jahren haben Sie diese verdammten Barbaren nicht zur Vernunft bringen können, wie dann jetzt, wo sich auch noch Syrra eingemischt hat?!? Jetzt geht es uns an den Kragen. Wenn wir Kungor verlieren, dann verlieren wir den ganzen Norden, und wenn

wir den Norden verlieren, dann ist auch der Krieg verloren und damit die Arbeit von Jahren, von Generationen, wenn man sich das ’mal überlegt. Und damit bin ich bei dem, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich habe mich, sobald ich über die Blockade Bescheid wusste, hingesetzt und gründlich nachgedacht, und zwar über meine ruhmreichen Vorfahren! Das hätte ich schon längst tun sollen, und es war ein Riesenfehler, dass mir das nie eingefallen ist (Ihnen erst recht nicht!). Denn dadurch habe ich erst erkannt, was damals anders war. Ich weiß jetzt, warum das lauter Sieger waren, und was Sie dazu sagen, ist mir scheißegal. Ihre Verdienste in allen Ehren, Herr Thales von Lichtenberg – ich wüsste auch jetzt nicht wohin ohne Sie. Aber damals waren wir noch nicht so überzivilisiert und dekadent und einseitig – damals gab es noch Magie!!! Jeder König hatte seinen Magier. Und ich habe Sie! Sehen Sie das nicht ein, dass wir mit unserer Scheißrationalität nicht ankommen gegen Leute, die immer noch Magie treiben? Wie soll man sich sonst Ihr ständiges Versagen erklären? Und Sie waren es doch selber, der mir berichtet hat, dass Ihnen die alte Dorsma gesagt hat, sie wissen eben, was sie wollen, und dann beten sie darum, und dann streben sie danach, und dann schaffen sie es auch. So ungefähr. Hören Sie, ich weiß auch, was ich will, oder ich bilde es mir zumindest lebhaft ein. Ich will endlich die Barbaren besiegen und dieses verdammte Syrra auf seine Insel zurück scheuchen. Aber zu wem soll ich beten? Etwa zu Ihnen? Oh Mann, ich hätte lieber einen Magier! Den würde ich dann zu Ihnen schicken, und wenn Ihnen das nicht gefallen würde, dann könnten Sie abtreten. Aber bei uns gibt es eben keine Magier mehr, höchstens noch Leute wie Sie. Sie sind der einzige Ersatz und daher unverzichtbar. Aber dann ziehen wir eben endlich andere Saiten auf. Wir müssen uns schließlich gegen magische Bedrohungen wehren! Ich verlange daher, dass von jetzt an ohne Gnade mit unseren Feinden verfahren wird. Vergessen Sie die sogenannte Menschlichkeit, das ist doch auch so eine rationale Scheiße. Wir müssen sie mit Stumpf und Stiel ausrotten. Das werden Sie jetzt sofort bekanntgeben, damit die es auch wissen. Vielleicht werden ihnen dann doch noch die Knie weich. Aber ich will keinen Frieden mehr, nicht mal eine Kampfpause. Solange noch eine von diesen obskuren Hexen lebt, habe ich hier keine Ruhe. Ich will keine Gefangenen mehr. Lassen Sie die Leute sofort abknallen und zwar gefälligst ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter! Die alte Dorsma hätte ich zwar gerne lebendig hier – wer weiß, was man von dieser Hexe lernen kann. Aber es ist mir einfach zu riskant, und außerdem suche ich jetzt sämtliche übersinnlich begabten Leute bei uns in Kera zusammen, die werden dann schon irgendwie eine neue Magie aufbauen. So eine Misere will ich jedenfalls nie wieder erleben! Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, aber ich ärgere mich schwarz, weil Sie so einseitig sind und ich immer auf Sie gehört habe. Wenn ich Sie jetzt vor den Kopf stoßen Muss, dann nehme ich das in Kauf. Sie werden mich nicht ausgerechnet jetzt im Stich lassen, wo Kera Sie dringender braucht denn je, und nach dem Krieg weht hier sowieso ein anderer Wind, dann können Sie sich von mir aus in Ihre Wissenschaft vergraben, bis Sie ersticken. Führen Sie diesen Befehl ohne Zögern und ohne Widerrede aus, aber behalten Sie das mit der Magie für sich, sonst geraten die Leute womöglich in Panik. Wir sind ja ansonsten leider völlig wehrlos gegen

diese Hexen, und meine Schuld ist das nicht. Das wär’s für jetzt, alter Freund. Sie wissen, was ich Ihnen wünsche. Mit freundlichem Gruß – Terron, König von Kera. Übrigens: Was ist eigentlich Rationalität? Wenn das mit der Magie stimmt, dann waren wir bis jetzt doch ziemlich unvernünftig!”

Thales von Lichtenberg drückt seine Zigarette auf dem Tisch aus, dann knüllt er das Blatt wieder zusammen. Er beugt sich vor und sucht nach dem Briefumschlag, ohne richtig hinzusehen. Sein Blick geht starr und voller Zorn ins Leere. Aber er findet den Umschlag trotzdem. Er nimmt sein Feuerzeug, das sein kostbarster Besitz zu sein scheint, erhebt sich schwerfällig, geht zum Kamin, kauert sich nieder. In dieser mühsam gewahrten steinernen Ruhe verbrennt er das hässliche Geheimnis, bis nur noch Asche übrig ist.

Aber noch während er gelesen hat, ist nebenan sein Bad fertig geworden, und unbemerkt von ihm ist in seiner leichten Art Weyrin auf der Schwelle erschienen und stehengeblieben, um ihn mit der ausdruckslosen Ruhe eines Kindes zu beobachten.

Thales von Lichtenberg nimmt ihn erst wahr, als er sich wieder aufrichtet. Er nickt dem jungen Mann kurz zu, abweisend zwar, doch nicht unfreundlich. Er will nur nicht gestört werden. Er nimmt sich die nächste Zigarette und beginnt auf und ab zu gehen, die Arme vor der Brust verschränkt, in fühlbarer geistiger Anspannung. Er ist nackt, geht auf nackten Füßen, aber er wirkt so weder weich noch verletzlich.

Weyrin wartet geduldig. Er ist anscheinend seit vielen Jahren an diesen Mann gewöhnt. Schließlich spricht Thales von Lichtenberg laut und bedächtig vor sich hin, als verkünde

er ein gewichtiges Urteil. Seine Anspannung ist auch in seiner Stimme. „Also gut. Ich mache heute blau. Es geht gar nicht anders, aber das kann ich Ihnen nicht erklären, Weyrin. Ich will und Muss jetzt Ruhe haben und nachdenken. Ich bin für niemanden zu sprechen. Gehen Sie, kümmern Sie sich darum. General Biron soll mich vertreten.”

Weyrin geht gehorsam zu der Tür, durch die er vorhin hereingekommen ist. Dort bleibt er plötzlich stehen, die Hand schon auf der vergoldeten Klinke, und fragt: „Soll ich anschließend wiederkommen? Brauchen Sie mich heute noch?”

Thales von Lichtenberg antwortet mit einem Achselzucken und den Worten: „Wenn ich

Urlaub mache, warum nicht auch du? Hier drinnen brauche ich keinen Leibwächter.”

„Du willst hier drinnen bleiben?” Weyrin zeigt sanftes Erstaunen.

„Warum nicht?” Thales von Lichtenberg wirft ihm einen ungeduldigen Blick zu. Er verbirgt nicht, dass er endlich wieder allein sein will.

Unbeeindruckt kehrt Weyrin um und geht zu den Fenstern. Mit flinker Hand entfernt er die Jalousien, so dass das helle Licht den ganzen Raum erfüllen kann. Thales von Lichtenberg blinzelt geblendet und verzieht das Gesicht. Weyrin aber weist mit seiner freien Hand nach draußen, auf die rauschenden Baumwipfel, den klaren Himmel, das nahe, verheißungsvoll glitzernde Meer.

„Warum gehen wir nicht spazieren?” schlägt er freundlich vor. „Das haben wir hier noch nie gemacht, und Kungor ist schön! Du kannst doch auch draußen nachdenken und zwar

besser als hier, wenn du mich fragst. Wind, Sonne, Wasser – da verschwindet alle Dumpfheit. Das sind befreiende Mächte! Dein Kopf wird wieder klar werden.”

Thales von Lichtenberg hat dieser wunderlichen Rede wie einer Peinlichkeit zugehört, beherrscht, aber mit zunehmendem Unbehagen. Er antwortet nur: „Ich würde da draußen keine Ruhe haben.”

Da tritt Weyrin auf ihn zu, was ihn unwillkürlich zurückweichen lässt, obwohl Weyrin lächelt, sehr freundlich jetzt und sogar irgendwie bescheiden. Trotzdem erinnert diese Szene an ein Attentat oder an den berühmten Stein, den das angeblich so schwache Papier einwickelt. Aus einem geheimnisvollen Grund hat die Härte des Thales von Lichtenberg hier ohne Zweifel ihre Grenzen.

Plötzlich, ohne jeden Übergang wird Weyrin sehr ernst. Das verwandelt ihn. Nichts hat er mehr von einem bösen Geist an sich, nur dass die verwirrende Schönheit, die sein bleiches Gesicht jetzt angenommen hat, genauso flüchtig ist. Das Haar, das seine Stirn überschattet, ist durch die Macht des Lichtes in unwirkliches blasses Gold verwandelt.

„Was ist schon Ruhe?” fragt er, seiner Stimme endlich etwas mehr Klang gebend, gerade genug, um das Unbehagen des Thales von Lichtenberg empfindlich zu verstärken.

„Wir brauchen ja mit niemandem zu reden. Sie werden dir ganz sicher deine Ruhe lassen. Wird es denn irgendjemand wagen, sich dir aufzudrängen?” Sein irgendwie bescheidener Ausdruck kehrt wieder. Er verwandelt sich zurück in den hilfsbereiten, dienstbaren jungen Mann. „Und wenn dich der Lärm stört, dann hör’ einfach nicht hin!”

Thales von Lichtenberg atmet hörbar tief ein, und indem er die so gesammelte Luft wieder ausstößt, antwortet er grob, wie um diesen jungen Dämon endlich abzuschütteln:

„Leider kann ich nicht so gut abschalten wie du!”

Sein Verhalten war unbedacht, denn als er dessen Folgen erkennt, zeigt er sofort eine von Erinnerungen gepeinigte Reue. Seine Worte haben Weyrin erschauern und noch bleicher werden lassen. Weyrins Augen haben sich geschlossen wie unter einem Angriff auf sein Gesicht.

Thales von Lichtenberg flüchtet unverzüglich in einen versöhnlichen, entschieden lässigen Ton: „Schon gut, Weyrin! Ich werde mitkommen, ich kann es ja versuchen. Ein wenig Bewegung wird mir bestimmt nicht schaden. Geh’ jetzt, Weyrin, und vergiss nicht, mir einen Kaffee zu bestellen! Du brauchst ihn mir nicht selbst zu bringen, mir geht es schon besser. Ich bin nur ziemlich reizbar, das ist alles.”

Er gibt dem jungen Mann einen Klaps auf den Arm, betont wohlwollend, verabschiedend.

Weyrin öffnet die Augen wieder, nickt, ohne Thales von Lichtenberg anzusehen, und geht dann zur Tür. Er ist verstört und benommen. Er setzt sich im Gehen die Kappe auf, schief und halb über sein Gesicht. Er kann ohnehin kaum noch sehen mit seinen stark schimmernden Augen. Er öffnet die Tür und zieht sie eben hinter sich zu, da stolpert er über die niedrige, breite Schwelle, knickt ab und verliert seine Kappe. Er greift haltsuchend nach

dem Türrahmen, aber auf die falsche Seite, und die schwere Tür klemmt seine Finger ein. Ein Schrei entfährt ihm, nicht eben laut, aber unerträglich vor Wut, Hass, verstörter Wildheit. Tränen stürzen ihm aus den Augen. Mit wilder Hast befreit er sich, schnappt sich seine Kopfbedeckung und flieht. Die Tür lässt er weit offen ohne Rücksicht auf den unbekleideten Thales von Lichtenberg.

Dieser hat die beunruhigende Szene ohne sichtbare Regung beobachtet. Der Schrei des jungen Mannes hat ihn nicht mit der Wimper zucken lassen. Dergleichen ist offenbar nichts Neues für ihn.

Einen Augenblick später schließt er bereits die Tür. Er atmet wieder tief ein, schüttelt nachdrücklich und abwehrend den Kopf. Er scheint sich dadurch von allem Störenden zu befreien. Er reckt seine Glieder und schreitet entschlossen zur Tat.

Gebadet und in einen schlichten weißen Hausmantel gehüllt, den Gürtel fest um die Mitte geschlungen, die unvermeidliche Zigarette zwischen den verfärbten Fingern – so steht er kurze Zeit später vor einem der offenen Fenster. Er raucht langsam. Sein Gesicht ist leer vor Nachdenklichkeit. Mit zusammengekniffenen Augen starrt er in die schmerzhaft glühende Helligkeit da draußen, aber die von Weyrin beschworene Welt beachtet er nicht.

 

 

 

Draußen

 

 

 

Es ist nicht mehr ganz früher Nachmittag, als Thales von Lichtenberg mit seinem seltsamen Leibwächter endlich zu diesem Spaziergang aufbricht.

Er blinzelt voller Missmut hinter seinen nachlässig geputzten Brillengläsern, als er in das heiße Licht hinaustritt, lässt sich aber weiter keine Empfindungen anmerken. Seine dunklen Augen werden kalt und abweisend, denn viele Menschen halten sich hier draußen auf, und schon treffen ihn die ersten Blicke. Mit erhobenem Kopf geht er die großartige Freitreppe hinab. Hinter ihm sind Weyrins leichte Schritte.

Das Hotel, das sie eben verlassen haben, ist das größte und schönste in einer Reihe gleichartiger Gebäude. Es ist wie eine vom Schicksal ein wenig mitgenommene und dennoch würdevolle, große alte Dame, die sich mit matter Vollkommenheit ihrer Pflicht als Gastgeberin hingibt. Es ist ein stattlicher, schlossartiger Bau mit weißen Marmorsäulen, geradlinigen Fenstern und einer Fülle weißer Stuckverzierungen, die tadellos erhalten sind, während der verwitterte blassrosa Verputz sein Alter verrät. Kühn flattert hoch über dem Dach eine blendend weiße Fahne im Wind, lässt einen drohenden schwarzen Adler prangen, als sei er Sinn und Seele des Ganzen.

Ohne Aufenthalt und so schnell wie möglich durchqueren die beiden Männer den Hotelgarten, ein weites schattenreiches Gelände von lockender Pracht, voll von süßen und balsamischen Düften und leuchtenden Farben, scheinbar von schwelgerischer Üppigkeit und dabei doch mit größter Sorgfalt gebändigt, gepflegt und zurechtgestutzt, nicht anders als die vielen Damen, die sich zwischen seinen Reizen ergehen.

Die beiden Männer beachten diese Schönheiten nicht. Sie bewegen sich geradewegs auf das Meer zu, auf einem mit sehr feinen glitzernden Kieseln bestreuten Weg, der so breit wie eine Straße und schutzlos der Sonne ausgeliefert ist. Wer hier geht, ist gut sichtbar. Aber es gibt für sie keinen kürzeren Weg hinaus. An seinem leider nicht sehr nahen anderen Ende erwartet sie ein großes schmiedeeisernes Tor mit vergoldeten Spitzen, das den Ein- und Austretenden gefälligerweise weit offen steht.

Die beiden Männer beachten nichts und niemanden, wenn sie nicht unbedingt müssen. Weyrin hat anscheinend vergessen, wie er für diesen Spaziergang geworben hat. Denn, was ihn betrifft, so könnte er jetzt ebensogut in einem muffigen Zimmer sitzen oder in einem dunklen Loch fern von aller Welt. Er ist nicht wirklich da.

Er folgt Thales von Lichtenberg so getreulich und unaufdringlich wie ein Schatten, ist aber das vollkommene Gegenteil eines Leibwächters. Er trägt zwar noch seine Uniform, aber er tut keinen Dienst. Verstört ist er nicht mehr. Seine äußere Erscheinung ist wieder untadelig und dabei seltsamer denn je. Er hat sich in eine Art Tagträumer verwandelt, aber dieser Ausdruck ist viel zu harmlos für seinen Zustand. Eisige Selbstversunkenheit hat seine

hübschen Gesichtszüge erstarren lassen und bildet rings um ihn eine unsichtbare, undurchdringliche Schicht, gegen die jeder äußere Reiz machtlos scheint. Nicht einmal die heißen Strahlen der Sonne scheinen zu ihm durchzudringen. Seine Haut ist so bleich, als halte er sich niemals im Freien auf. Sein Blick unter dem breiten Schirm der Kappe sucht nicht die äußere Welt, er ist leer und abwesend. Kein Lebewesen könnte gleichgültiger sein. Hier draußen hat er kein eigenes Ziel, und es ist ungewiss, ob er das, was ihm begegnet, überhaupt wahrnimmt. Beinahe blindlings richtet er seine Bewegungen nach denen des Thales von Lichtenberg, der dadurch zu seinem einzigen und letzten Halt in dieser Welt geworden ist, so wie hoch auf dem Dach die Fahnenstange den flatternden schwarzen Vogel hält.

Der Abstand zwischen ihnen ist gering und bleibt immer gleich. Sie verständigen sich nicht miteinander, weder durch Worte noch Gesten, sie blicken einander niemals an. Dennoch gibt es ein Einverständnis zwischen ihnen, eine geheime Verbindung, die gerade wegen Weyrins Abwesenheit deutlich zu erkennen ist. Dienstlicher Art ist sie nicht – doch welcher Art sonst, das wäre für Außenstehende gewiss nicht leicht zu erraten.

Sie bemühen sich auch gar nicht erst. Alle diese Menschen, für die Thales von Lichtenberg sofort zum Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit geworden ist, sehen über Weyrin hinweg, als sei er wirklich ein Schatten. Seine Gleichgültigkeit ist so stark, dass sie sich in ihnen wiederspiegelt. Er hat sich unsichtbar gemacht, und daran ändern auch seine blinkenden Ehrenzeichen nichts. Es gibt hier so manchen Mann in Uniform, den weniger oder gar keine Auszeichnungen schmücken, aber Weyrin erregt weder Anerkennung noch Neid. Nichts erregt er und es gibt ihn nicht, außer für sich selbst und Thales von Lichtenberg. Nicht einmal das Befremdliche und Ungewöhnliche dieser Tatsache fällt irgendjemandem auf – auch nicht Thales von Lichtenberg.

Dessen Geist ist ganz auf den zähen Versuch gerichtet, an seinen Gedanken festzuhalten und sie weiterzuverfolgen trotz der Anteilnahme, die ihm diese Welt entgegenbringt und die es streng und standhaft abzuwehren gilt. Da sind Winken und Rufen und Grüßen und so viele herzliche Blicke von überall her. Sie erfreuen sich an seinem Anblick, als sei er ein Sack voll Gold oder ein Quell von großer Heilkraft. Ihr Verhalten grenzt an Begeisterung. Vor seinem Erscheinen haben sie sich angestrengt um eine möglichst entspannte, sorglose Haltung bemüht. Sie haben einander viel Zuversicht und gute Laune gezeigt, auch die Verwundeten unter ihnen. Wie unruhig und bedrückt sie wirklich sind, hat sich nur in einem etwas zu grellen Lachen, in einer unbewussten Anspannung, in dem von Schlaflosigkeit und heimlichem Weinen getrübten Blick einer Frau verraten. Doch Thales von Lichtenberg hat sie von diesem tapferen Spiel befreit. Ihre Freude ist echt. Sie zeigen echte Zuversicht und kindliches Vertrauen. Sie machen zueinander anerkennende und gutmütig witzelnde Bemerkungen, die sie ihn nicht hören lassen. So verhält sich eine Schulklasse einem strengen Lehrer gegenüber, der einen heiligen Eid geleistet hat, dass sie alle das Klassenziel erreichen werden.

Falls er um diese Wirkung weiß, so ist sie ihm höchstens lästig. Unverkennbar ist ihm

nur daran gelegen, dass die Klasse auf ihren Plätzen bleibt, und das tut sie. Es stört sie nicht, dass er ihre Aufmerksamkeit mit einer Zurückhaltung erwidert, die die Unhöflichkeit nicht scheut. Sein starres Gesicht zeigt niemandem auch nur die Andeutung eines Lächelns, sein Blick streift sie so flüchtig wie möglich. Wenn er überhaupt einen Gruß erwidert, dann mit einer Knappheit, die schamlos erkennen lässt, wie lästig ihm dergleichen ist. Abweisender könnte nur ein feindlicher Krieger mit drohend gezückter Waffe sein. Thales von Lichtenberg ist wie ein friedlicher Müßiggänger in einen leichten weißen Anzug gekleidet, von erlesenem Schnitt, wenn auch sehr schlicht – aber er könnte ebensogut einen Eisenpanzer tragen, so unnahbar ist er. Seine Bewegungen sind von einer kraftvollen Zielstrebigkeit, die davor warnt, sich ihm in den Weg zu stellen. Er wirkt nicht wie ein Mann, der nur einen Spaziergang machen will.

Wer ihm nachblickt, ist weder enttäuscht noch beleidigt. Anscheinend kennen sie ihn gar nicht anders. Sie drängen sich wirklich nicht auf.

Endlich erreichen die beiden Männer das Tor und treten auf eine beachtenswerte Prachtstraße hinaus, ein Bauwerk von großer Kunst und königlichem Reichtum. Hoch über dem wunderbar weißen, mit dunklen Felsbrocken bestreuten Strand ist sie auf einem starken Damm angelegt und folgt als Promenade von knapp zwei Kilometern Länge in einem weichen Bogen der großen, halbmondförmigen Meeresbucht. Dicht auf ihrer anderen Seite und mit den schönsten und gastlichsten Anlagen zuvorderst drängt sich die große Stadt heran, hell in der Sonne und großartig, von hohen Mauern geschützt. Aber unermesslich höher wirkt das über der kurzen Ebene dahinter jäh ansteigende, sich bis in die blaue Ferne fortsetzende Gebirge, das die Stadt gegen die Bucht hin einschließt, und seine schneebedeckten Gipfel, weißer als der Strand, sind von geradezu erschütternder Höhe. Der Anblick ist unwirklich und beklemmend von hier unten aus. Eine andere Welt zeigt sich da in solcher Nähe, wild und achtunggebietend wie eine Hexenkönigin – draußen gehalten zwar und abgewehrt, aber auf lächerliche Weise, da sie viel zu riesig ist und in eisigem, unerschütterlichem Trotz die Werke der Menschen vergänglich und sehr zerbrechlich erscheinen lässt.

Entspannender ist der Blick über den Strand hin auf das schier grenzenlose, glitzernde, ruhelose Meer, obwohl da draußen die feindliche Flotte kreuzt, langsam und wachsam, weiß wie eine Möwenschar. Aber die Menschen spielen lärmend und lachend in den heranbrandenden Wellen und geben sich mit dem Anschein größter Sorglosigkeit uralten, immergleichen Badefreuden hin. Nasse Schönheiten kommen aus dem Wasser und schütteln ihr Haar, Sandburgen werden gebaut, nackte Füße graben sich genussvoll in den weißen Sand. Auf den dunklen Felsen sonnen sich ölglänzende Körper. Der mütterlich milde Duft des Sonnenöls und der belebende Geruch des Meeres sind überall. Heiterer Lärm schallt aus allen Richtungen.

Aus allen Richtungen kommen aber auch Menschen herbei und füllen die Promenade. Im Vergleich dazu war im Hotelgarten klösterliche Ruhe. Die ganze Stadt scheint sich vor der Hitze hierher zu flüchten. Nirgends kann die Luft frischer sein. Und wohltuenden Schatten

gewährt das hoch gewölbte, von Goldmosaiken ausgekleidete Dach der Prachtstraße, das schlanke Säulen aus korallenrotem Marmor tragen, von goldenen Weinranken umwunden. Kühles Trinkwasser sprudelt in muschelförmige Silberbecken. Lampen hängen an goldenen Ketten herab, wie Blütenkelche geformt und aus rubinrotem Glas, so schön wie Juwelen und von geringem Gebrauchswert – allerdings auch nicht störend, wenn sie sogar zu dieser Stunde brennen, Sinnbild maßlosen Reichtums oder als sei dieses Bauwerk eine Art Heiligtum. Der Fußboden besteht aus weißen und schwarzen Marmorplatten, und auf einigen von ihnen prangt in goldenen Schriftzeichen der Name dessen, der diese ganze Pracht seiner treuen Stadt Kungor gestiftet hat – es war ein Terron, König von Kera.

Das Ganze ist sehr sauber, denn genügend ganz in Weiß gekleidete halbwüchsige Jungen und Mädchen halten sich mit dem entsprechenden Gerät unaufdringlich bereit, jede Beschmutzung so schnell wie möglich verschwinden zu lassen. Abfallkörbe sind hier überflüssig. Sie sind erst gar nicht vorhanden, denn sie würden diese königliche Pracht nur stören. Aus demselben Grund werden auch Betrunkene, Bettelleute und sonstwie unpassende Erscheinungen rechtzeitig an den Zugängen mit größtmöglicher Höflichkeit von kräftigen, ebenfalls weißgekleideten älteren Männern zurückgehalten.

Wer hier zugelassen ist, verhält sich, als sei dies eine Selbstverständlichkeit – eine Art Geburtsrecht. Lässig ziehen die Menschen dahin, treffen sich mit ihresgleichen oder träumen still für sich an eine der Säulen gelehnt. Andere sitzen auf den klauenfüßigen Ruhebänken aus sehr reinem weißen Marmor und lauschen den Sängerinnen und Flötenspielerinnen, hübschen jungen Frauen in bunten Kleidern, die ihr Haar in goldenen Bändern tragen. Ihre Weisen sind leicht und ermunternd, ohne eine Spur von Wehmut. Auch hier lässt sich niemand seine Sorgen anmerken, aber die Umgebung erleichtert dies und tut so wohl, dass die zur Schau getragenen Empfindungen durchaus echt sein können. Dem allzu nahen Gebirge und der feindlichen Flotte wird geflissentlich keine Beachtung geschenkt.

Thales von Lichtenberg hat jedenfalls auch hier dieselbe Wirkung. Die ganze Stadt scheint ihn zu kennen. Er zögert, ehe er sich unter alle diese Menschen mischt, und sein Missmut verstärkt sich. Er wird noch abweisender – geradezu abschreckend. Aber da er bisher in Ruhe gelassen worden ist, geht er schließlich doch weiter und flüchtet auch nicht über eine der zahlreichen Treppen auf den Strand hinab, wo er mehr Raum und Ruhe hätte.

Mit langen zielstrebigen Schritten folgt er der Promenade, als sei ihm nicht vollkommen gleichgültig, wohin er geht. Niemand bewegt sich so wie er. Offenbar ist er an Spaziergänge nicht gewöhnt und hat nicht die geringste Lust, sich für diese eine Gelegenheit umzustellen. Das ist auch gar nicht nötig, denn vor ihm teilt sich die Masse höchst willig. Die Menschen weichen ihm eilig und zuvorkommend aus und begrüßen ihn mit scheuer Begeisterung. Sie wollen ihn nicht belästigen. Er zeigt ja so deutlich, dass er für sich sein will. Sie halten ihre Hunde fest und rufen ihren Kindern zu.

Diese wenigstens scheinen ihn nicht zu ihrem Heil zu brauchen. Ihre Begeisterung gilt den großen bunten Windrädern, die sie in den Händen halten, den Bällen, die sie springen

lassen, den Leckerbissen, die sie selbstvergessen zum Munde führen. Sie rennen auf und ab und wissen nichts von den Sorgen ihrer Eltern. Aber auch sie weichen der strengen Erscheinung aus, sobald sie sie bemerken, und wer ihn kennt, grüßt artig und macht ein Gesicht, als ginge der liebe Gott vorbei.

Er kann sich also beruhigen. Zwar ist die Umgebung immer noch reich genug an ablenkenden Reizen, aber es gelingt ihm, sich ihnen zunehmend zu verschließen. Er kann dies sehr gut, fast so gut wie Weyrin. Immer tiefer versenkt er sich in seine Gedanken, und diese werden immer anstrengender und unerfreulicher, was die tiefen Furchen zwischen seinen Brauen und der Schweiß, der ihm allmählich aus allen Poren bricht, erkennen lassen. Sein Missmut wird zur Düsternis. Wie eine drohende Gewitterwolke durchzieht er all die Pracht und Schönheit, unpassender als ein aufdringlicher Betrunkener. Aber ihm wird dies gerne gewährt. Selbst wenn er Urlaub macht, arbeitet dieser Mann und opfert sich auf für sie alle! Das wird gerne gesehen. Und ihr Vertrauen zu ihm ist so unerschütterlich, dass niemand sich durch seine düstere Miene beunruhigen lässt. In seiner Gegenwart fürchten sie kein Unheil.

Es ist bemerkenswert, wie sehr sich Menschen aus der Welt, mit der wenigstens ihre Körper unbestreitbar verbunden sind, zurückziehen können – in sich selbst oder wohin auch immer. Von diesen beiden ungewöhnlichen Spaziergängern, über die sich hier niemand wundert, träumt der eine bei wachen Sinnen und würde womöglich kein gutes Ende nehmen, wenn ihn der andere nicht an diesem unsichtbaren Bande führte, der seinerseits seinen Körper wie eine zuverlässige Maschine arbeiten lässt, die sich der Welt draußen, so weit wie eben nötig widmet, während sein Geist sich mit einer ganz anderen Aufgabe hinter ihre Panzerwände zurückgezogen hat. Sie sind alle beide nur mehr für das da, was ihnen selber jetzt eben am wichtigsten erscheint. Alles andere ist unwichtig. Nicht einmal die feindliche Flotte ist ihnen einen Blick wert. Die Stiftung des Königs von Kera benutzen sie nicht anders als die langweiligste Vorstadtstraße. Sie überhören die Musik und lassen sich nicht von der frischen Luft beleben. Wäre die Promenade mit Abfall übersät, dann würden sie es nicht bemerken, falls ihnen nicht eine Bananenschale in den Weg käme. Thales von Lichtenberg raucht eine Zigarette nach der anderen und wirft sie dann beiseite, ohne sich die Mühe zu machen, sie auszutreten. Die weißgekleideten Halbwüchsigen behalten ihn ständig im Auge, zutiefst ergeben, ohne eine Spur von Missbilligung. Es ist anscheinend leicht, einen Mann zu bedienen, der Groß und Klein dieselbe Verachtung zeigt. Thales von Lichtenberg macht keinen Unterschied zwischen einem Sandkorn und einer ganzen Welt.

Warum er überhaupt zu diesem Spaziergang aufgebrochen ist, mag seinem schwer arbeitenden Geist inzwischen entfallen sein. Nun macht er ihn eben. Er kehrt nicht gleich wieder in sein Hotel zurück, er schert nicht aus, sondern bringt ihn hinter sich wie eine zusätzliche Arbeit. Seinen Beschlüssen, einmal gefasst, bleibt er unermüdlich treu.

Was aber jene befreienden Mächte betrifft, auf die sein seltsamer Leibwächter ihn verwiesen hat, so ist er ja nicht ihretwegen aufgebrochen und sucht sie nicht. Da er sie kaum wahrnimmt, können sie ihm wenig helfen. Klarheit erlangt sein Geist nicht. Bis jetzt vermag

dieser Spaziergang nichts gegen die geheimen Schwierigkeiten, die dieser Mann brütend mit sich herumschleppt. Eine befriedigende Lösung ist offenbar kaum zu finden.

Sein Geist gelangt an kein Ziel, und ziellos bewegt sich auch sein Körper trotz der Art seiner Bewegungen, an der sich nichts ändert – ein Gegensatz, der ihm selber nicht bewusst ist. Gut eine Viertelstunde lang strebt er erst in die eine Richtung, als habe er eine wichtige Verabredung einzuhalten, dann macht er ganz plötzlich und anscheinend grundlos kehrt und geht in derselben Art zurück in die andere Richtung, nicht ganz bis zu seinem Hotel. So treibt er es etwa zwei Stunden lang. Falls sich jemand darüber verwundert, so zeigt er es nicht. Grüße werden geduldig wiederholt, von einem verständnisvollen Lächeln gefolgt, wenn er sie nicht mehr beachtet. Der träumende Weyrin aber wundert sich nicht.

Als dieser Spaziergang endlich unterbrochen wird, sind die beiden Männer nicht eben erholt.

Andererseits ist ihnen auch keine Ermüdung anzumerken.